Kapitel 32

Shawn Mendes ft. Julia Michaels - Like To Be You

Es ist eine Woche vergangen. In dieser einen Woche habe ich überhaupt keinen klaren Gedanken fassen können, es ging einfach nicht. Ich kann an ihn denken und gleichzeitig bleibt mir nichts im Kopf. Dass ich gerade mit ihm an einem Tisch sitze, bringt mich dezent aus der Fassung, doch ich bleibe ruhig. Die Schule lenkt mich ab, auch wenn ich oft keine Lust habe. Ich muss langsam nachdenken, was ich Yasmin zum achtzehnten Geburtstag schenke. Sie will ihn ganz groß feiern und einen kleinen Saal mieten, um richtig abtanzen zu können. Ob das etwas für mich ist, glaube ich eher weniger. Heute ist Mama mit dem Befund ganz fertig und langsam geht sie davon aus, dass es etwas mit einem Gendefekt zu tun hat. Hoffentlich führt das nicht zu noch schlimmeren Erkrankungen. Ich muss gleich nur noch eine Stunde Geschichte ertragen und dann darf ich nach Hause. Dann bin ich zwei Tage von Didems penetranter Fratze befreit, die die ganze Zeit zu uns schielt. Als ich mein Zeugnis bekommen habe, war ich schockiert, weil ich mich so verschlechtert habe, aber Mama hat mich aufgemuntert und meinte, dass es normal sei, wenn man in die Oberstufe steigt - wenigstens ein Trost. Ich spüre ab und zu seine Blicke auf mir und wünsche mir, dass er mich anschreibt, so widersprüchlich es auch ist. Vielleicht können wir es ja klären. Aber ich wollte mich doch fernhalten? Ach, das bringt doch eh nichts, mal ganz ehrlich. Ich werde sowieso zurück zu ihm wollen, weil ich verzweifelt bin.

Dass bald der März kommt und damit auch die Osterferien, ist ein echter Trost. So bin ich endlich befreit von Mathe und Geschichte, obwohl die Winterferien gar nicht so lange zurückliegen, aber Geschichte ist nun mal todlangweilig und vor allem, wenn man bei einer Lehrerin hat, die den Spitznamen Schlaftablette trägt. Ich laufe als erste Person aus dem Raum, weil ich mich so schnell wie möglich von diesem langweiligen Unterricht befreien will, und spurte schon die Treppen hinunter. Ich will nach Hause und essen! Was Oma heute wohl gekocht hat? Ich werde am Unterarm gepackt und drehe mich reflexartig um. Genauso reflexartig schlägt mein Herz schneller, weil ich in seine grünen Augen sehe. Gott, sind die schön. "Hast du dir schon Gedanken gemacht?", fragt er mich vorsichtig. Sein Daumen fährt über den Stoff, der mein Handgelenk schützt, doch er unterlässt es schnell. Hör bitte nicht auf damit, denke ich mir innerlich, schüttele den Gedanken jedoch ab. "Ich ... ich weiß nicht so recht", murmele ich und habe Angst, dass unsere Freunde uns sehen. Deshalb entziehe ich mich aus seinem Griff und laufe weiter. "Meinst du, wir könnten es jetzt klären?" Gerade will ich etwas ansetzen, als mein Handy klingelt und Mama mich anruft.

"Ja?"

"Siehst du den gelben Opel Corsa links von der Bushaltestelle?" Ich laufe sofort dahin und sehe das knallgelbe Auto.

"Ja." Wieso macht mich das so unruhig?

"Komm auf das Auto zu", gibt sie leicht lachend von sich und legt auf.

Verwirrt drehe ich mich zu Ardan um und laufe dann einfach auf das Auto zu, nachdem ich ein kleines Tschüss gemurmelt habe. Ich hätte sowieso nichts sagen können. Vor dem Auto komme ich an, meine Augen weiten sich. "Du hast endlich deinen Führerschein!", lache ich, als ich einsteige und Mamas Grinsen sehe. "Wurde auch mal endlich Zeit. Gott, ich wollte ihn immer machen, aber ich kam nie dazu", erzählt sie mir. Ich erlebe es echt selten, dass eine 48-jährige erst jetzt ihren Führerschein hat. "Hast du den Führerschein erst seit heute?" "Nein, seit einer Woche ungefähr. Ich muss es verdammt geheim vor deinem Vater machen, denn er wird durchdrehen." "Da hast du dir die richtige Farbe für dein Auto ausgesucht", pruste ich. Dieses Auto sticht sowas von aus der Menge. "Und wieso hast du dir ein so hässliches Auto zugelegt?" "Hey, mein Furz ist nicht hässlich!" Sie rempelt mich an. "Ich habe mich sofort in dieses Ding verliebt und außerdem ist es nur zum Warmwerden da und dann klaue ich mir eins der Autos deines Vaters, aber den hier werde ich trotzdem behalten." "Aber er wird doch durchdrehen, wenn er weiß, dass du einen Führerschein hast." Sie spitzt ihre Lippen und fährt los. "Stimmt, aber das kriege ich hin und schnall dich an." Ich tue, was sie sagt und muss schmunzeln, weil Mama ihr Grinsen nicht verliert. "Aber wieso sollte er durchdrehen?" Sie seufzt. "Dein Vater ist übersensibel, was das Fahren angeht. Er will das überhaupt nicht und hat auch immer angefangen zu diskutieren, als deine Brüder mit der Fahrschule ankamen. Er wollte Chauffeure einstellen, aber das passt einfach nicht." "Und wieso ist er so sensibel?" Ihre Lippen zucken traurig.

"Dein Vater hatte als Kind einen schweren Unfall, der ihn sehr stark geprägt hat. Er redet nicht gerne darüber und ich tue es auch nicht." Schnell blinzelt sie und atmet tief durch. "Da will man einmal etwas feiern und schon wandelt es sich in Melancholie um." Das wusste ich ja überhaupt nicht. Ich habe jetzt total viele Fragen, aber Mama wird sie mir nicht beantworten wollen. Am liebsten würde ich die ganze Geschichte hören wollen. "Wie war die Schule?" "Ganz gut, Geschichte war halt langweilig." "Oh Gott, Geschichte", würgt sie. "Meinst du, mein Schnitt wird sich verbessern?", kommt es mit leichter Sorge von mir. Leistungsdruck ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen könnte. "Ja, Schatz, das ist komplett normal, dass man sich um mindestens eine Note verschlechtert, mach dir keinen Kopf drum. Es ist nur die EF und da kannst du noch entspannen." Okay, das beruhigt mich. "Hast du heute keinen Dienst?" "Doch." "Mittagspause?" "Nein." Ich grinse. "Der Chefarzt ist dein Ehemann und du kannst es dir erlauben?" "Ja." Wir fangen an zu lachen. "Außerdem darf ich es mir auch so erlauben, weil ich sonst auch immer Überstunden mache." Sie schnaubt verachtend. "Ich wollte dich nur Abholen und dann zurückfahren, weil ich sowieso noch den Befund an eine Herzklinik schicken muss. Und nach der Arbeit können wir hoffentlich ein wenig herumfahren." "Und wie machst du das mit Baba? Er holt dich doch immer ab." Schon wieder spitzt sie ihre Lippen. "Er bleibt heute sowieso länger. Da sage ich einfach, dass Amir mich abholt. Apropos Amir: Ich glaube, er ist verliebt." Sie summt verdächtig. Oh Gott, nicht, dass sie auch noch von Adam und Dilan Wind bekommt.

"Woher weißt du das?" "Mütterlicher Instinkt." Sie zuckt mit ihren Schultern. "Er benimmt sich zurzeit anders und Adam auch", murrt sie zum Schluss. Oh Gott, Adam ist dran. Ich schaue verstohlen aus dem Fenster und bete, dass nichts auffliegt. "Ist dir sonst etwas aufgefallen?" "Nur, dass es dir schlecht geht", kommt es besorgt von ihr. Sie nimmt meine Hand und drückt sie. "Mach dir bitte keine Sorgen um dich und deine Gesundheit. Du hast etwas von mir vererbt bekommen und da bin ich mir zu hundert Prozent sicher. Als ich nach meiner Stress-Kardiomyopathie einige Zeit später wieder emotionalen Stress hatte, hatte ich auch Stechen in der Brust, aber es wurde nie schlimmer. Auch bei dir wird es nicht schlimmer, Cana. Leb unbeschwert dein Leben weiter." Als wir vor den Toren ankommen, schaut sie mich voller Sorge an. Ich nicke. Das ist es nicht Mama. "Danke." Ich umarme sie seufzend, freue mich so sehr über ihre Unterstützung, obwohl sie es falsch deutet. "Liebend gern, mein Schatz. Jetzt gib deiner Mama einen Kuss und geh deine Hausaufgaben machen." Lächelnd erfülle ich ihren Befehl und steige dann aus. Wenn Mama nicht dagewesen wäre, würde ich mich jetzt nicht besser fühlen und wenn Mama nicht dagewesen wäre, dann hätte ich womöglich etwas von Ardan erfahren. Oh Gott, ein Glück hat Mama uns nicht gesehen. Das war echt knapp und das fällt mir erst jetzt auf. Ich erledige in der Küche meine Hausaufgaben und nehme mir dann mein Handy zur Hand. In unserer Clique wird irgendetwas erzählt, aber was mir stärker ins Auge sticht, ist seine Nachricht.

'Ich würde dich morgen gerne zu mir einladen.' Mir ist verdammt warm und mein Magen zieht sich zusammen. Vorsichtshalber drehe ich mich um, obwohl ich weiß, dass niemand zu Hause ist. Er will mich zu sich einladen, er will mich bei sich haben. Was soll ich schreiben?

'Reden und die Fragen aus der Welt schaffen?' Sofort kommt er online.

'Liebend gern und wenn möglich, auch den Tag mit dir verbringen.' Ich weiß nicht wieso diese Frage meine Augen feucht werden lässt.

'Okay, wann?' Was soll ich morgen anziehen?

'So früh es geht. 13:00 Uhr?' Ich nicke und willige dann ein.

Ich fange wieder an, mir Gedanken zu machen. Ich habe oft mit Ramzi gesprochen und auch mit ihm geschrieben. Er erzählt mir immer, dass es ihm schon besser geht und dass ich mir keine Sorgen machen sollte. Am meisten hat es mich erleichtert, als er mir erzählte, dass ich ihn nicht vernachlässige. Ich setze mich zu sehr unter Druck, aber was kann ich dafür, wenn ich es anders aufnehme, als alle anderen? Was werden wir morgen machen? Ich habe das Bedürfnis, mich zurechtzumachen und meine neuste Kleidung anzuziehen. Ich will morgen frisch sein und auf gar keinen Fall wieder schwitzen. Womöglich ziehe ich dann wieder sein Lederarmband an, was ich vor einer Woche, nach meinem Text an ihn, ausgezogen habe, als ich schlafen gehen wollte. Schlafen konnte ich an diesem Tag nicht und deshalb kam es mir wie eine Last vor, etwas von ihm bei mir zu tragen. Jetzt will ich es plötzlich wieder anziehen, wie widersprüchlich ich doch bin. Seufzend streichele ich Tyson, der seinen Kopf auf meinen Schoß ablegt. "Komm." Ich stelle meinen Teller in die Spülmaschine und laufe mit beiden Hunden hoch, um mir schon mal etwas für morgen auszusuchen. Sollte ich meine Haare glätten? Ich weiß nicht so recht, aber er mag meine Locken doch, vor allem meine Schmalzlocken an den Seiten. Sollte ich mir die Nägel lackieren? Abgebrochene Nägel sehen lackiert immer besser aus. Sollte ich heute oder morgen duschen? Morgen, damit es frischer ist. Ich will morgen gemütlich, aber schick auftreten. Oh Mann, das wird ein Desaster.

Als Mama nach Hause kam, habe ich die Kleiderwahl unterbrochen und mich zu ihr gesellt. "Ist Amir immer noch in der Uni?" Ich nicke und sie summt verdächtig. "Bestimmt trifft er sich mit seiner Geliebten. Ob sie wohl auch Kurdin ist?" Sie fährt sich über ihren imaginären Bart. "Wäre es ein Problem, wenn nicht?", frage ich etwas unsicher. "Na ja, es ist immer toll, wenn sie derselben Abstammung entspricht, aber wenn er sie liebt und sie unbedingt heiraten will, soll die Nation die beiden nicht das Hindernis sein." Das erleichtert mich. "Wieso? Hast du einen Freund, der anderer Abstammung ist?" Sie kneift ihre Augenlider zusammen. "Nein, ich habe gar keinen Freund", murre ich. Ich darf nicht so riskante Fragen stellen. "Gut, gut, bist zu jung für Beziehungen, aber du weißt ja, wie ich davon denke." Ja ... und das macht mir Druck. Ich schmiege mich an sie, damit sie nichts bemerkt und atme tief durch. Kein Stress, ich darf mir keinen Stress machen. Ich habe doch sowieso keinen Freund, also brauche ich mich da gar nicht so tief hineinzusteigern. Alles ist doch gut? Wir treffen uns morgen nur auf rein platonischer Ebene - auch wenn Mama das nicht tolerieren würde. "Wie hast du realisiert, dass du dich in Baba verliebt hast?" Sie seufzt. "Es war ein steiniger Weg voller Tränen. Wir haben uns sehr stark gestritten, weil ich mich wieder an einen großen Fehler deines Vaters erinnert habe und die Kontrolle verloren habe. Wir haben uns Sachen gesagt, die uns sehr verletzt haben und als ich dann eine Woche später deshalb zusammengebrochen bin, war er da und ich habe es realisiert. Egal wie oft wir uns streiten, wir kommen immer wieder zusammen." Das ist bei mir und Ardan auch so.

"Habt ihr euch oft gestritten?" "Und wie", haucht sie. Ouh. "Hätten wir nicht durchgehalten, wäre alles ganz anders. Ich wäre bis jetzt mit einer offenen Wunde herumgelaufen und dein Vater ... ich will gar nicht daran denken", flüstert sie und drückt mich an sich. Was ist passiert? "Menschen können Grauenhaftes anstellen und deshalb sage ich euch immer, dass ihr euch niemals von anderen beeinflussen lassen dürft. Gott, ich werde wieder ganz sentimental", lacht sie zum Schluss und drückt mich ganz fest. Ich verstehe nicht, was früher passiert ist und bin überrascht, dass Mama und Baba überhaupt Leid hatten. Ihre Liebe scheint doch so perfekt zu sein. Das ist sie doch, oder? "Ihr lasst euch doch nicht scheiden, oder?", frage ich hysterisch, als ich mich von ihrer Brust wegdrücke. "Nein, Cana, niemals." Erleichtert seufze ich. Ich weiß gar nicht, wie ich auf diese Frage gekommen bin. "Ich könnte mich niemals von deinem Vater trennen, ich bin abgehärtet." Wenn man vom Teufel spricht: Baba tritt gerade ins Haus und legt seine Jacke im Schlafzimmer ab. "Shana, wem gehört der gelbe, hässliche Corsa?" "Hey, der ist süß!", verteidigt sie ihr Auto, als sie mir heimlich in die Seite drückt. Ich muss mitspielen. "Wem gehört der?" "Ich habe ihn für Cana gekauft." Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen. "Sie hat nicht einmal die Theorieprüfung hinter sich gebracht." "Willst du mir etwa sagen, dass deine Tochter es nicht schafft?" "Doch, natürlich, aber ..." Er zuckt mit seinen Schultern und läuft hoch. "Oh Gott, mein Herz." Prustend drückt sie meine Hand gegen ihre üppige Brust, wo ich ihr schnell schlagendes Herz spüre. Sie keucht erschrocken und hält sich erstarrt die Hand auf den Mund. "Was?", frage ich.

"Shana!", ruft er wütend. Oh Gott, Mama wurde erwischt. Sie steht sofort auf, als er die Treppen hinunterrast. "Seit wann?", presst er hervor. Mama lacht hysterisch. "Ruhiger Can, braver Can." "Das ist überhaupt nicht lustig." "Wieso bist du so kontrollierend?" "Wieso machst du das hinter meinem Rücken und dann noch so auffällig?" "Du guckst sonst nie die ganzen Garagen ab!" "Es ist mehr als nur auffällig, wenn eine Garage geschlossen ist, was sonst nie der Fall ist und außerdem gibt es Kameras, die deinen tanzenden Arsch aufnehmen." Schmunzelnd halte ich mir die Hand vor den Mund und beobachte das Katz und Maus Spiel. "Ich wollte es auch endlich tun", lacht sie und umkreist kreischend den Tisch, als Baba sie fangen will. "Wozu hast du mich?" "Für meine Gelüste." Ich halte mir die Ohren zu. Baba ist gar nicht in Spiellaune, sein Blick sagt mehr als tausend Worte. Mama sollte schnell das Weite suchen. "Du bist tot, Shana." "Polizei!", schreit sie, rennt weg und Baba ihr hinterher, wobei die Hunde aktiv werden und anfangen zu bellen. Gerade stelle ich mir vor, wie es morgen sein wird. Werden wir uns morgen auch necken können und auch wirklich Spaß haben? Ich weiß es nicht, aber ich hoffe es. Als Baba Mama endlich gefangen hat, fragt er sie alles aus und wirkt wirklich sensibel, voller Sorge. Es rührt mich total, dass er sich solche Sorgen um sie macht, dass ich schon glatt eifersüchtig werde. Gott, wieso ist die Liebe so frustrierend? Weil mein Gehirn es so möchte, spielt sich eine wunderschöne Szenerie vor meinen Augen ab, wo Ardan und ich uns unbeschwert verhalten, unbeschwert lachen, unbeschwert bewegen und ...

vielleicht auch unbeschwert lieben.

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