Kapitel 18
Shawn Mendes - Mutual
Es fehlt nur noch eine Klausur. Die Matheklausur. Ich verstehe dieses Thema echt nicht und ich will auch gar nicht lernen und die Klausur schreiben. Reicht es nicht, dass ich eine Matheklausur geschrieben habe? Mittlere Änderungsrate, Ausklammern und was weiß ich alles. Kann ich nicht einfach eine zweite Bioklausur schreiben? Dann hätte ich eine weitere Eins sicher. Es wurde beschlossen, zu Miran und Dilan nach Hause zu gehen, um dort zu lernen. Amir hat sich bereiterklärt, es mir beizubringen, also bleibe ich zu Hause. Gestern hat mich Ardan noch an sein Angebot erinnert. Er lernt also auch zu Hause. Na ja, Amir wird ja mein Lehrer, also werde ich nicht auf sein Angebot eingehen. Didem lässt mich jetzt hoffentlich ganz in Ruhe. Es gab eine Konferenz und es kam auch fast zur Anzeige, aber irgendwie hat es sich wieder gelegt. Meine Eltern und Tante Shevin haben es gut gelöst, Didem wurde Top und BH ersetzt und alles ist wieder in Ordnung. Wenn sie es aber noch einmal wagen sollte meine Eltern zu beleidigen und so über meine Mutter zu reden, braucht sie auch Ersatz was Organe angeht. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass sie so dreist war. Sie wollte ernsthaft, dass ich mich für das beschützende Verhalten meiner Eltern entschuldige und hat dann versucht, Tränen aus ihren Augen zu drücken, als sie auf dem Boden lag. Sie hatte Glück, dass ihr mein Wasser geholfen hat. Wie plötzlich ihr Verhalten war, als sie den Lehrern das Geschehene geschildert hat, so ruhig und unschuldig.
Noch vor dem Dubai-Trip ist die Sportprüfung und ich bin demotiviert. Wir werden morgen draußen joggen und laufen, der ultimative Folterunterricht für mich. Gerade ziehe ich mir meine Sportsachen an und lege mein Bettelarmband wieder in mein Säckchen, den ich in meinen BH stopfe. Didem zieht sich mit ihren komischen Freundinnen jetzt immer in der Kabine des anderen Kurses um, was eine Entlastung für uns ist. Während ich mir meine Haare zusammenbinde, laufe ich in die Halle und setze mich auf die Bank. Nach der Sportprüfung werden wir mit Volleyball anfangen - so habe ich es zumindest gehört. Lust habe ich nur auf Badminton, aber na ja, ich muss es durchstehen. Ramzi tritt aus der Halle und spannt seine Ärmchen an. "Ich weiß, mein Bizeps ist zu groß, aber ich kann nicht anders", seufzt er, als er sich neben mir niederlässt. "Cana, könntest du meinen Rücken kratzen? Mein Bizeps ist im Weg." Schmunzelnd tue ich ihm den Gefallen und sehe ihm zu, wie er das Kratzen wie meine Hunde genießt und dementsprechend sein Bein zucken lässt. "Du lernst heute zu Hause, wie ich gehört habe", schnaubt er. "Hey, nicht traurig sein." Schmunzelnd lege ich meinen Arm um ihn. Ardan tritt auch aus der Halle. In seiner Jogginghose sieht er irgendwie noch länger aus, ich weiß nicht wieso. "Wir müssen mal wieder raus, Cana. Ich will immer noch, dass du mich auf ein Rendezvous einlädst." "Mache ich, keine Sorge, mein Herz", schmunzele ich.
Ardan redet mit Herrn Rinke und lässt sich neben Ramzi nieder. "Machen wir heute ein Wettrennen, Ardan?" Ardans Mundwinkel zucken kurz. Wow, das sah schon ein wenig gut aus. Wenn Ardan ernst ist, ist er ja noch schnuckeliger. Ach, was denke ich da?! Ich seufze laut und fahre mir über mein Gesicht. Das kann doch nicht wahr sein. Ich habe mir das Schwärmen gut unterdrücken können, aber manchmal ist der Wille zum Schwärmen leider Gottes größer. "Was? Schwärmst du wieder von mir?" Ramzi grinst überheblich und legt sich quer über meinen Schoß. Fast, es ist dein Nachbar. "Wie könnte man auch nicht von dir schwärmen?" Ich kraule belustigt seinen Bauch und seine hellbraune Mähne. "Ardan, du kommst aber mit zu Miran, oder?" Etwas unsicher fährt er sich durch sein dunkles Haar. "Ich weiß nicht so recht. Roxy ging es die Tage echt schlecht und ich muss meinen Vater noch einmal wegen Mathe fragen." Er zuckt entschuldigend mit seinen Schultern. Oh, Roxy ging es schlecht? Ich sollte ihr vielleicht etwas kaufen. "Was hat Roxy denn?", frage ich vorsichtig. "Sie hatte die Tage Fieber bekommen. Das macht einen schon fertig, wenn der Hund Fieber hat." Ich nicke verstehend. Ich weiß noch, wie ich mir krampfhaft die Tränen zurückhalten musste, als Rocky einen Splitter in der Pfote hatte und nur am Winseln war. Ich will gar nicht mehr daran denken. "Gute Besserung an sie", murmele ich. Ardan nickt dankend und lächelt. Seine Augen funkeln so schön.
Ich bin super kaputt vom Laufen, aber wenigstens ist mir jetzt warm und ich bin befreit. Mein Armband ist wieder da, wo es sein soll und meine Hände legen sich auf meine heißen Wangen. Sport zu machen ist echt super anstrengend. Da bleibe ich lieber beim Springen auf dem Trampolin. Adam nimmt mich mit. Aiman muss noch zwei Stunden bleiben, weil sein Kurs nicht ausgefallen ist, der Arme. Ich schnalle mich an und sehe, wie Ardan zur Haltestelle läuft. Wenn Adam Ardan gesehen hätte, dann hätte er ihn mitgenommen, das weiß ich. Ich dachte, er hätte endlich sein Auto? "Weißt du, ob Amir schon zu Hause ist?" Adam verneint es. "Der war gestern schon total gestresst." Oje. "Klausurphase?", hake ich nach, was er bestätigt. Aber Amir wird mir doch helfen, oder? Er kann es mir am besten erklären. Bei der ersten Klausur hat er mir doch auch geholfen. Ich schreibe ihn gleich einfach an. Solange wärme ich mich im Auto auf und laufe schnell ins Haus, wo ich eine Diskussion höre. Wieso streiten sie sich wieder? Ich soll zwar nicht lauschen, aber ich kann nicht anders. "Shana, nein!" "Doch, Can und daran kannst und wirst du nichts mehr ändern." Baba ist aufgebracht und fährt sich über Gesicht und Haare. Mama hat ihm mal wieder widersprochen, aber weswegen? "Ich wollte es doch sowieso nicht werden, nimm es einfach an", seufzt Mama verständnislos. Vorsichtig trete ich ins Wohnzimmer und schaue verdutzt. Es ist still, Mama scheint nicht wirklich aufgebracht zu sein.
"Was ist passiert?", murmele ich. Nicht, dass Mama wieder fordert, dass ich hochgehe. Baba seufzt und schüttelt seinen Kopf, während Mama sich aufs Sofa setzt und die Hunde streichelt. "Deine Mutter schmeißt die Chance weg, Chefärztin zu werden." Was? Ich schaue überrascht zu Mama und grinse. "Das ist doch gut! Aber Moment, was heißt wegschmeißen?" "Ich schmeiße die Chance nicht weg, dein Vater reagiert nur über." "Wenn du die Chance nicht wegschmeißen würdest, dann würdest du das Angebot annehmen", presst er hervor. Wieso will Mama das Angebot nicht? "Gott, du bist so dramatisch." Mama verdreht ihre Augen. "Verdreh deine Augen nicht." Und wieder tut sie es mit einem frechen Schmunzeln. Ich muss ebenfalls schmunzeln. Sie steht auf und seufzt auf dem Weg, als sie dann Baba umarmt. Das ist echt süß. "Can, seit mehr als zwanzig Jahren weiß ich, dass du Chefarzt werden willst und da schenke ich dir den Platz und du bist als Dank wütend auf mich?" Oh, wie süß diese Geste ist. Ich bin mal wieder hin und weg von den beiden und erdrücke Rocky fast. "Er hat dir den Posten angeboten und nicht mir." "Wenn ich ihn nicht angenommen hätte, hätte er sowieso dich genommen und dazu habe ich dich ein wenig gut geredet. Sei doch froh, dass du dein Ziel erreicht hast." Lächelnd krault sie seinen Hinterkopf. Mama hat Baba also den Chefposten überlassen. Wow, Mama wäre Chefärztin, aber jetzt wird es Baba. "Außerdem kannst du mir hoffentlich gute Zeiten einteilen und super OPs geben." Lächelnd legt sie ihren Kopf auf seine Brust und zerdrückt ihn fast. "Jetzt freu dich ein wenig, ich hätte eh nicht den Papierkram übernommen."
Ich kann es gerade nicht so ganz realisieren. Wer hätte sich die Chance nehmen lassen, Chefärztin zu werden? Sie hat es in erster Linie ihm zur Liebe getan, ihm diesen Posten zu geben, weil er schon immer einer werden wollte. Ich finde das echt großzügig und super süß. "Und wer weiß? Vielleicht wirst du ja zum ärztlichen Direktor." Baba murrt und wird von Mama gezwickt. Wie sehr ich ihr Leben jetzt haben würde. Ein Leben voller Erfolg mit einer riesigen Karriere und einer großen Liebe. Hach, wie schön das wäre. "Ich gehe dann mal ins Zimmer", schmunzele ich, weil ich schon spüre, dass beide alleine sein wollen. "Und Glückwunsch, Baba oder Mama", schmunzele ich und laufe hoch. Das ist doch eine gute Nachricht, ich bin echt glücklich und freue mich für Baba. Aber was ist jetzt mit Amir? Wo bleibt er? Etwas unsicher schaue ich auf mein Handy und schreibe Amir an.
'Du bringst mir doch heute Mathe bei, oder?'
'Tut mir echt leid, Cana, aber ich bin selber in der Bibliothek am Hocken.' Ich schmolle.
'Aber du hast doch gesagt, dass du mir hilfst :('
'Ja, aber mein Kopf hat erst später den ganzen Stoff realisiert. Ich versuche es morgen. Frag jetzt erstmal deine Freunde, okay?'
'Okay.'
Ich seufze. Dann schreibe ich mal in die Gruppe, dass ich gleich dazustoße. Gerade will ich auf unsere Gruppe tippen, da hänge ich am Chat von Ardan und mir ... er hat mir ja auch seine Hilfe angeboten. Mathe kann er ja sehr gut. In der ersten Klausur hatte er die volle Punktzahl. Sollte ich ihn anschreiben? Ich könnte trotzdem zu den anderen, das ist ja egal. Aber dort wird auf jeden Fall viel herumgealbert ... ach, ich schreibe ihm einfach. Nein, ich schäme mich zu sehr. Er ist online, also ist das meine Chance. Soll ich ihm einfach schreiben? Ich bin so nervös. Vielleicht kann er ja nicht oder bringt schon wem anders Mathe bei. Komm, ein Versuch ist es wert.
'Ardan?' Die Haken verfärben sich nach kurzer Zeit blau.
'Ja?' Okay, tief durchatmen jetzt.
'Steht das Angebot für die Nachhilfe noch?'
'Heute?' Oh, heißt das, dass er nicht kann?
'Ja, eigentlich schon.' Jetzt bin ich nervös. Wenn er nicht kann, dann wünsche ich mir, dass ich ihn niemals gefragt hätte.
'Gut, du kannst kommen.' Sofort kreische ich und stehe sofort auf, um mich aufzufrischen.
Moment, was soll ich meinen Eltern sagen? Ich muss lügen ... seit wann lüge ich meine Eltern an? Gerade bin ich verdutzt und muss schlucken. Ich kann ihnen nicht sagen, dass ich zu einem Jungen gehe, ich muss wirklich lügen. Okay, ich muss mich darauf vorbereiten. Ich mache mich frisch, lasse nur die Mathesachen in meinem Rucksack und gehe langsam die Treppen hinunter. Meine Jacke schließe ich und lege den Schal um meine Nase. "Mama?" Sie kommt mit ihrem Morgenmantel zu mir zu den Treppen. "Wohin geht's?" "Mathe lernen, ich schreibe ja die Klausur." Sie nickt. "Wann kommst du wieder?" Ahnungslos zucke ich mit meinen Schultern. "Der Weg ist nicht weit. Sie wohnt auch hier in der Gegend." Mama zieht ihre Augenbrauen zusammen. Scheiße, ich werde unsicher. Um mir nichts anmerken zu lassen, gehe ich mir die Schuhe anziehen. "Zu wem gehst du?" Zu Ardan. "Zu einer Freundin. Bei Miran habe ich es ja oft versucht und bin nicht weitergekommen." Mama summt und nickt. "Okay. Dein Vater hat morgen Bereitschaftsdienst und ich werde später als gewohnt zu Hause sein." Ich nicke und verabschiede mich von ihr, ehe ich aus der Haustür trete. Oh Gott, das habe ich geschafft ... aber ich habe sie anlügen müssen. Das ist sonst so gar nicht meins. Aber daran will ich jetzt nicht denken. Ich laufe zum Haus mit der Nummer 44 und klingele. Nach langem kann ich wieder auf den Familiennamen schauen, Nemir. Nemir heißt im Kurdischen ewig, unsterblich. Der unsterbliche Feuergeber, das ist eine schöne Bedeutung. Wieso dauert das so lange? Ich klingele wieder, woraufhin ich Schritte höre.
Die Tür öffnet sich und somit auch meine Augen und mein Mund, weil Ardan nur im Handtuch vor mir steht. Quietschend halte ich mir die Hände vor die Augen. "Hallo, Schülerin. Trete doch bitte hinein." Ich sprinte schon fast ins Haus, weil ich Angst habe, dass mich jemand erwischt. Wieso ist dieser scheiß Junge nackig? Ich schaue ihn weniger begeistert an, aber er amüsiert sich an der Lage. "Mein Herz hat mir schon gesagt, dass du mich in dieser Lage sehen willst." Mein Mund weitet sich empört. Ich? Ich wollte ihn so sehen? Ich werde ganz hibbelig, weil er sein Handtuch nicht festhält. Ich muss meine Babyhaare zwirbeln. "Du ... könntest du dein Handtuch festhalten? Das wäre um einiges angenehmer", flüstere ich beschämt und bestimmt mit rosigen Wangen. "Wieso? Willst du mir sonst das Handtuch wegreißen?" Finster sehe ich in sein grinsendes Gesicht. "Ich wollte dich nicht freiwillig so sehen." "Sicher?" "Ziemlich sicher", gebe ich schnippisch von mir und lasse von meinen Babyhaaren ab, die bestimmt abstehen. Er verliert sein grinsen nicht. "Wieso bist du dann hier, obwohl ich dir geschrieben habe, dass du erst in einer Stunde kommen sollst?" Moment, was? Ich schaue verdutzt und schüttele den Kopf. "Das hast du nicht", murmele ich. "Doch, du kannst sogar nachschauen." Murrend nehme ich mir mein Handy zur Hand und sehe, dass ich die Nachricht gar nicht geöffnet habe. Da ich zu stolz bin, um ihm zuzustimmen, lösche ich seine Nachricht einfach. "Bei mir steht nichts." Er hebt spöttisch seine Augenbrauen. "Abgesehen davon, dass ich bemerkt habe, dass du die Nachricht gelöscht hast, wird bei mir meine Nachricht mit zwei blauen Haken angezeigt werden." Verdammt, er hat mich!
"Dann geh jetzt duschen, beeil dich", murre ich. "Jetzt kann ich nicht einmal in Ruhe duschen." "Du duschst dich doch keine ganze Stunde." Argwöhnisch ziehe ich meine Augenbrauen zusammen. Ein sanftes, belustigtes Lächeln legt sich auf seine Lippen. Langsam nähert er sich mir und hält meine Handgelenke fest. Ich keuche leise. Oh Gott, diese Handgelenke müssen desinfiziert werden. "Unter der Dusche machen Jungs auch andere Dinge." Mein Gesicht zeigt Schock und Empörung. Wieso sind Jungs so schamlos? "Das ... ich wollte das gar nicht wissen!", kommt es schrill von mir. Sofort ziehe ich meine Handgelenke an mich. Ich will es mir nicht vorstellen, nein, ich will es nicht, aber ein Teil in meinem Kopf tut es. Sein schiefes Grinsen verrät mir, dass er sich über mich lustig macht. "Jetzt geh duschen, du Ekeliger!" "Gut, dann bin ich mal weg." "Und lass dir keine Zeit." "Ich verschiebe es nur wegen dir", höre ich ihn sagen. Danach schließt er die Tür. Leicht angespannt ziehe ich mir die Jacke aus und lege mir den Schal um die Schultern. Ich höre langsames Tapsen und sehe das helle Fell von Roxy. Sie sieht müde aus. "Hey, Roxy." Langsam setzt sie sich zu mir aufs Sofa und schmiegt sich an mich. "Geht es dir besser?" Ich lehne mich zurück und lege meinen Arm um Roxy, die sich gegen mich lehnt. Ist keiner zu Hause? Meinte er nicht, dass sein Vater ihm etwas erklärt? Ich muss an den Ardan denken, der nur mit einem Handtuch bedeckt war. Seine Arme sind echt toll. Er hat zwar keinen definierten Oberkörper, aber man sieht, dass er seine Brustmuskeln beansprucht hat durch das Training. Ein wohlgeformter Körper folgt noch. Irgendwann kann ich mir die Zeit nehmen und seinen Oberkörper richtig mustern - hoffentlich.
Ardan scheint sich mit dem Duschen wirklich beeilt zu haben, denn die Tür wird aufgeschlossen und er kommt mit feuchten Haaren zu mir. "Wie? Roxy hat dir nichts zu trinken geholt? Selbst in Krankheit verliert man die Gastfreundschaft nicht, Roxy", tadelt er liebevoll seine Hündin, die ihren Kopf auf meiner Brust abgelegt hat. "Sie kann mir ja kein Glas Wasser bringen." "Das stimmt, aber eine Wasserflasche." Huch, das sollte ich mal meinen Hunden beibringen. "Roxy scheint wohl eine sehr schlaue Hündin zu sein." "Ja, das ist sie. Sie kann sogar Herzmassagen geben", sagt Ardan auf seinen Weg in die Küche. Wie? Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen. "Als ob." "Ja, das kann sie. Zwar kann sie nicht den Druck ausüben, den wir Menschen ausüben können, aber die Bewegungen kann sie und sie legt Menschen gerne ihren Mund auf. Meine kleine Schlabberin." Ich küsse Roxys Kopf und kraule sie. "Eine richtige Power-Frau", lobe ich sie. Ardan gibt mir ein Glas Wasser, welches ich dankend annehme. "Ich hole dann mal kurz meine Sachen, das dauert auch weniger als eine Stunde." Er zwinkert schmunzelnd und eilt hoch in sein Zimmer. Ich fühle mich wohl und unwohl zugleich. Hier zu sein ist eigentlich tabu für mich, aber es ist auch gleichzeitig schön, weil hier eine beruhigende Atmosphäre herrscht. Eine schöne Wärme verspüre ich in mir, wenn ich in seiner Nähe bin. Ich fühle mich einfach wohl, wenn er bei mir ist. Er kommt die Treppen wieder runter und setzt sich zu mir, zieht den Wohnzimmertisch näher und breitet seine Sachen aus, ehe er mir meinen Rucksack reicht. Er riecht so gut, hm.
"Ich habe hier noch die Klausur vom letzten Jahr und ich würde einfach sagen, dass wir sie durchgehen." "Ich kann aber nichts." Er schmunzelt. "Deshalb bin ich dein Lehrer und bringe es dir bei." Ein ziemlich hübscher Lehrer, wenn ich mal so anmerken darf. "Also die erste Aufgabe ist mehr als nur leicht. Das ist nur das Zuordnen von Funktionsgleichungen zu Funktionsgraphen." Ich blähe leicht meine Nasenflügel auf, weil es eben nicht alles andere als leicht ist. Das war auch in der ersten Klausur. Mathe ist scheiße. "Du hast doch so einen komischen Tanz und Song dazu gemacht. Gerader Exponent mit einem Plus ..." "Kommt von oben und geht nach oben", singe ich und wackele mit meinem Kopf. Ich höre aber sofort auf, weil es mir gerade etwas unangenehm ist. "Toller Song", merkt er an. Sein Lächeln ist so sanft und so schön ... wie sein Duft. Gott, ich darf nicht wieder mit dem Schwärmen anfangen. Mit einem warmen Kopf schaue ich auf die Klausur, zwirbele meine Babyhaare und streichele derweil Roxy, höre aber Ardan aufmerksam zu, der mir mit seiner zarten, rauen Stimme noch einmal die Scheiße erklärt. Wir machen die erste Aufgabe, von der ich die Hälfte richtig habe und erst einmal in der Diskussion der Verständnislosigkeit verstehe, wieso die zwei anderen nicht richtig sind. "Verstanden?", hakt er sanft nach. Er ist so geduldig und so niedlich. Ich nicke zurückhaltend. Ich bin innerlich so hibbelig, weil er neben mir sitzt und mir immer in die Augen schaut, falls er mir etwas erklären will. Ich stelle mir vor, wie ich ihn einfach anspringe und innig umarme, aber das würde ich niemals tun. "Gut, dann gehen wir zur zweiten Aufgabe über. Ableiten, das kannst du. Vergiss einfach nur nicht, dass von allen etwas mitgenommen wird." Oh Mann, manchmal vergesse ich es und schreibe es trotzdem als Ergebnis so hin.
"Pause", flehe ich, als wir die Klausur beendet haben. "War doch gar nicht so schwer." "Doch", murre ich. In Ardans alter Klausur war nicht einmal ein einziger Fehler. Wie schön eine Matheklausur aussieht, die nur dann nur in Rot bekritzelt wird, wenn man Haken hinmacht. Bei mir stehen Fragen, die wissen wollen, woher ich diese Zahlen habe oder Aussagen, dass mein Rechnen keinen Sinn macht ... na ja, ich freue mich aber immer sehr über die Ansatzpunkte. "Hast du schon gegessen?" Oh, ich war so aufgeregt, als ich mich aus dem Haus begeben wollte, dass mir das Essen gar nicht in den Sinn kam. Ich schüttele den Kopf. "Dann komm. Wir haben Tomatensuppe mit Fleischbällchen und Kartoffelgratin da. Magst du beides oder gar keins davon?" Ich winke ab. "Hört sich lecker an und riecht auch so." Er lächelt und füllt mir Schüssel und Teller auf. Roxy hat sich in der Zwischenzeit wieder hingelegt. "Wissen deine Eltern, dass du hier bist?" Meine Gelassenheit verfliegt. Das habe ich vollkommen vergessen. "Das darf niemand wissen", flüstere ich. Wenn meine Brüder das erfahren ... ich will das nicht. "Bitte behalte das für dich. Erzähl das auch keinem unserer Freunde, ja? Heute hast du alleine gelernt und ich habe mit meinem großen Bruder gelernt." Er nickt und legt mir das Essen hin. "Danke dir." "Kein Problem. Willst du Cola oder Wasser?" "Cola, bitte." Er läuft zum Schrank, während ich mich schon am Essen bediene. "Hat dir dein Vater deine Fragen beantwortet?" "Ja, danach ist er wieder zur Arbeit gefahren." Ich nicke, er schenkt mir Cola ein. "Und wann möchtest du nach Hause?" Ich habe ehrlich keine Ahnung. "Ich kann gleich gehen." "Also, nicht, dass ich deine Anwesenheit nicht möchte. Ich dachte nur, dass du einen festen Zeitplan hast." Ich schaue in seine schönen, grünen Augen und schüttele leicht den Kopf.
"Gut, dann können wir ja gleich noch ein wenig lernen." Leicht gequält verziehe ich mein Gesicht. "Hey, ich konnte heute nicht alle Aktivitäten unter der Dusche ausüben und du musst auch etwas tun, was du nicht wirklich willst. Das ist nur fair." "Ist es nicht", murre ich leicht. Muss er mich an seine Aktivitäten erinnern? Schmunzelnd schenkt er sich Suppe ein und beißt direkt in ein Fleischbällchen. Skeptisch ziehe ich die Augenbrauen zusammen. "Meintest du nicht einmal, dass du nicht der Fan von Fleisch wärst?" Er schaut kurz zur Seite und nickt dann, als er mir in die Augen sieht. "Aber du isst doch Fleisch?" "Ich bin mir nur bei dem Fleisch meiner Mutter sicher, dass es auch wirklich durch ist. Seitdem ich zweimal in Burger gebissen habe, wo das Fleisch nicht ganz durch war, bin ich penibel geworden." Oh, na dann. Ich löffele meine Suppe und wechsele dann zum Gratin. Ich mag die Stille nicht, sie lässt mich unwohl fühlen. Ausgerechnet jetzt kommen alte Gedanken auf ... Gedanken der vergangenen Demütigung. Ich habe es wieder vor Augen und muss aufpassen, dass mir nicht die Tränen aufsteigen. Wir lernen ja nur, daran ist nichts falsch. Ich muss jetzt nicht an diese Nachricht und die darauf entstandenen Gefühle und Gedanken denken. Es geht hier nur um Mathe und dann bin ich durch mit den Klausuren für dieses Halbjahr. "Was wollen wir denn noch wiederholen?", will ich wissen. "Vielleicht noch einmal das Berechnen der Extremstellen." Ich nicke und esse zu Ende. "Nachschlag?" Leicht verlegen hebe ich die Schultern an und muss nicht einmal antworten, damit er mir wieder nachfüllt. "Bitteschön, Mopsi." Ui, das war ein süßer Name.
Schmunzelnd nehme ich ihm das Essen ab und bedanke mich. Mopsi, der Name ist echt süß. "Wieso Mopsi?", frage ich lächelnd. "Weiß ich nicht, das passt zu dir. Du hast Wangen, in die man gerne kneifen will, bist klein und wirkst fluffig und kuschelig wie ein Mops." Ich muss kichern. "Dankeschön." Ich freue mich gerade, dass er mir einen Kosenamen gegeben hat. Wieder esse ich Teller und Schüssel leer, trinke aus und lege das Geschirr in die Spüle. "Dankeschön", murmele ich. Ich fühle mich wieder so hibbelig, weil er mir in die Augen sieht. Das Bedürfnis, wieder meine Babyhaare zu zwirbeln, ist wieder da. Schnell gehe ich ins Wohnzimmer und nehme mir seine Mathenotizen zur Hand. Es gibt schönere Schriften, aber auch schlimmere. Seine Sieben ist ein wenig zu spitz, genau wie seine Vier. "Habe ich das Zeug zur Arztschrift?" Ahnungslos schaue ich zu ihm. "Na ja, meine Mama hat nicht so eine Schrift, es sei denn, sie macht es sehr schnell. Die Schrift meines Vaters ist da schlimmer." Er grinst. Sein Grinsen ist echt toll, genau wie seine Grübchen. "Vielleicht werde ich ja doch ein Arzt." Er verzieht das Gesicht. "Ärzte sind besser als Mathematiker." "Mathe ist besser als die Medizin." "Wir beide wissen, dass das gelogen ist", gebe ich leicht schroff von mir. Er lacht leise und lässt sich neben mir nieder. Oh, sein Arm hat meinen Arm gestreift. Er geht mit mir noch einmal alles schnell durch und dreht sich zu mir. Ich mache es ihm nach und lege mir wieder meinen Schal um die Schultern. Ich werde ein kleines bisschen nervös und muss meine Babyhaare zwirbeln. Lächelnd beobachtet er mich dabei und hebt seine Hand an, die er zu mir führt. "Durch das Zwirbeln hast du einen Kreis geschaffen." Er zieht an den Babyhaaren links vor meinem Ohr.
"Das sieht immer so süß aus. Wenn du dir die Haare zu einem Zopf bindest, dann sieht man diese Kringel immer." Er lächelt und zieht wieder sanft daran. Seine Hand sucht mein Bettelarmband und er nähert sich mir, um es wieder zu betrachten. Sein schöner Duft steigt mir in die Nase. So sanft und dennoch maskulin. Ich würde den Duft liebend gern täglich so intensiv aufnehmen können. Hach, wie sehr ich durch sein Haar fahren will und an ihnen ziehen möchte. Wie es sieht wohl anfühlt, wenn er mich in den Arm nimmt? Eine ganz innige Umarmung ... ach, was denke ich da schon wieder? Meine absurden Gedanken kommen wieder, weil er mir zu nah ist. Diese Nähe ist so schön und gleichzeitig falsch und absurd. Ich habe mir doch vor Wochen vorgenommen, mich von ihm zu distanzieren, aber woher hätte ich wissen sollen, dass mein Bruder mir keine Nachhilfe geben kann und ich auf Ardan ... nein, ich war nicht auf ihn angewiesen, ich hatte eine andere Wahl. Ich hätte zu meinen Freunden gehen können, aber stattdessen sitze ich auf dem Sofa eines halbbekannten Jungen. Ist das falsch? Ich habe ja meine Freunde für einen Jungen versetzt, aber dieser Junge ist doch auch ein Freund? Fragen über Fragen und Antworten über Antworten überhäufen sich in meinem Kopf. Ich gelange wieder in den Kreis der entgegengesetzten Moralen. Ich habe meine Mutter angelogen. Ich mache etwas, was mir nicht erlaubt ist und was ich selber nicht tun wollte. Das ist falsch. Langsam ziehe ich mein Handgelenk zurück. Sein Blick trifft meinen und verändert sich von sanft zu ahnungslos und leicht enttäuscht. Sein Mund ist wie meiner leicht geöffnet. "Ich sollte gehen", gebe ich leicht heiser von mir und ziehe mir die Jacke an. Es geht alles so schnell, dass ich schon mit angezogenen Schuhen aufstehe und mich mit viel Mut umdrehe. "Danke für die Hilfe", murmele ich. Er nickt. "Immer wieder gern." Ich lächele leicht und setze langsam den ersten Schritt an, ehe ich mich umdrehe und mir wünsche, ich wäre niemals gekommen.
Dieses dämliche Herz hat seinen eigenen Willen und verleitet mich immer wieder zu Dingen, die mir mein Kopf strikt untersagt.
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