Kapitel 17

Starley - Call On Me

"Du hast ... Moment, mit der Schere?" Baba ist komplett verdutzt und weiß echt nicht, was er sagen soll. Ahnungslos reibt er sich die Hände und schaut zu Mama. "Willst du nicht auch etwas dazu beitragen?", fragt er sie. Ich schaue zu Mama, die mich grinsend ansieht und mir lobend durch meine Haare wuschelt. "Das hast du sehr gut gemacht, meine Tochter. Da sehe ich meine und die Gene deines Vaters in dir." Mama lacht und drückt mich an sich. "Das Lustige ist, dass ich die Mutter verprügelt habe und jetzt meine Tochter auf ihre Tochter losgeht." Was? Wie? Ich schaue Mama mit großen Augen an, die stolz grinst. "Ja, die Mutter ist nicht ohne. Und das mit dem Attackieren mit einem scharfen Gegenstand, weil ich beleidigt wurde, weckt Nostalgie ... makabere Nostalgie, nicht wahr, Can?" Ich schaue fragend zu Baba, der sich seufzend über seine Stirn fährt. "Da hat jemand einen großen Beschützerinstinkt", gibt Mama in einer kindlichen Tonlage von sich und drückt mich fest. Ich bin froh, dass ich keinen Ärger von den beiden bekommen habe. Mit ihren Reaktionen hätte ich aber niemals gerechnet: Baba ist komplett sprachlos und weiß nicht, wie er reagieren und antworten soll und Mama ist ganz aus dem Häuschen. So kenne ich beide nicht. "Also ... also mit der Schere hast du ihr Oberteil aufgeschnitten und dann ... ihren BH?" Baba kratzt sich die Schläfe und blinzelt oft. Schüchtern nicke ich. "Aber wieso denn der BH?" Oh Mann, das kann ich ihm doch nicht sagen. Ich schaue Mama an und drücke mich an sie.

"Die Tochter hat meine Tochter beleidigt, das reicht schon." Baba stottert überfordert und seufzt dann. "Ich rufe dann vorsichtshalber Shevin an", gibt er am Ende leise von sich und nimmt sich sein Handy, um meine Tante anzurufen. "Ach, dazu wird es nicht kommen, Can." Baba murrt nur. "Das hast du toll gemacht, mein Schatz", lobt Mama mich. "Du bist mir wirklich nicht sauer?" Mama schnalzt mit ihrer Zunge. "Du hast dich nur gewehrt. Dieses Miststück hat mehr verdient." "Woher kennst du die Mutter?", flüstere ich. Mamas Mundwinkel zucken belustigt. "Erzähle ich dir gleich." Sie krault meinen Kopf und meinen Rücken. Heute wurde die ganze Zeit nur über die Auseinandersetzung geredet und all meine Lehrer haben mich schockiert und vorsichtig angeschaut. Als ob ich die Lehrer oder das Miststück jetzt absteche. Genervt verdrehe ich meine Augen. "Ja, damit du Bescheid weißt. Falls etwas passiert, lasse ich es dich wissen." Baba verabschiedet sich von meiner Tante und schaut mich wieder an. Ich weiß nicht wieso, aber ich muss lachen. "Du bist eine Hexe, genau wie deine Mutter." Und schon lacht Mama boshaft auf und drückt mich ganz fest. "Tu nicht so, als ob du ein Pazifist bist, Ehemann." "Als ob ich bei dir ruhig bleibe." "Na siehst du? Dann gehörst du auch zu den Hexen." Ich schmunzele. Baba scheint immer noch überfordert zu sein. "Ich hätte einfach niemals damit gerechnet, dass meine einzige Tochter so aggressiv handeln kann und dann noch mit einer Schere. Die wollen sicherlich Schadensersatz." "Ach, ich schmeiße die mit Geld ab. Bin ja arrogant und abgehoben genug dafür - und reich." Mama drückt mich wieder an sich und setzt mich auf ihren Schoß.

"Aber ihr seid auch wirklich nicht sauer?" Mama verneint es und Baba schüttelt seinen Kopf. "Du hast dich gewehrt, was gut war. Ich hätte auch zugeschlagen. Mobbing ist nicht gut." Er seufzt und fährt sich über sein Gesicht. "Das wollte ich doch verhindern." "Can", setzt Mama sanft an. Baba steht auf und läuft ins Arbeitszimmer. Jetzt seufzt Mama. "Was hat er?", will ich besorgt wissen. "Dein Vater ist sehr sensibel, was Mobbing angeht. Er hatte schon immer Angst, dass seine Kinder davon betroffen werden. Er liebt euch wirklich sehr." Oh Mann, das macht mich schon sensibel. "Aber mir geht es doch gut." "Aber auch du hast einige Tränen verloren. Wir kümmern uns schon drum, okay?" Ich nicke und schmiege mich an sie. "Erzählst du mir jetzt, woher du die Mutter kennst?" Mama lacht kurz. "Wir waren auf derselben Schule. An meinem ersten Tag habe ich sie schon angepöbelt, weil sie so dämlich war. Damals war dein Vater mit ihr." Wir verziehen beide angeekelt das Gesicht. "Jedenfalls mochten wir uns überhaupt nicht und auf unserer Fahrt nach Berlin gab es dann eine kleine Kloppe, weil dieses Miststück einen Typen geholt hat, der mich küssen sollte. Dein Vater hat direkt eingegriffen und als ich es erfahren habe, habe ich sie angegriffen. Sie hat es verdient." Dann hat Didem wohl vieles von ihrer Mutter ... und dann will sie meine Mutter schlechtreden?! Verbitterte Menschen. "Hat Herr Barndt noch etwas gesagt?" Sie verneint es. "Morgen kannst du auch zur Schule, mach dir keine Sorgen." Ich nicke. Ob ich ihr sagen sollte, dass ich die ersten beiden geschwänzt habe? Ich brauche ja ihre Unterschrift für die Entschuldigung.

Die Tür wird schniefend aufgeschlossen. Sofort schiebt mich Mama von ihrem Schoß und steht auf. "Amir?" "Ja?" Er hört sich erkältet an. "Amir, oh Gott!" Mama läuft in den Vorraum und zieht Amir ins Wohnzimmer. "Alles gut", schmunzelt er. Baba kommt jetzt auch wieder aus dem Arbeitszimmer. Mama läuft in die Küche und dann ins Schlafzimmer, wo sie mit ihrer Kuscheldecke zurückkommt. "Meinem Baby geht es nicht gut. Du gehst morgen nicht zur Uni", schimpft sie am Ende. Amir nickt nur belustigt und lässt sich verwöhnen. "Gott, ich dachte schon, er ist verletzt." Mama schaut Baba finster an. Das hätte er wohl nicht sagen dürfen. "Sein Immunsystem ist schwach. Wahrscheinlich ist auch sein thermoregulatorisches Zentrum im Diencephalon, im Hypothalamus angegriffen worden", giftet Mama ihn an. Abwehrend hebt er seine Hände und setzt sich aufs Sofa. "Die Suppe köchelt. Danach kriegst du Nurofen, mein Schatz." Mama zieht Amir halb auf ihren Schoß und wiegt ihn hin und her. Es ist schon lustig, das zu beobachten, weil Amir echt groß ist und Mama eben nicht. "Meine Kinder werden ja von Parasiten befallen. Bricht eine Epidemie in Hamburg aus oder was ist los?" Schmunzelnd zucke ich mit meinen Schultern. Das mit dem Schwänzen erwähne ich einfach ein anderes Mal. Jetzt begebe ich mich in mein Zimmer und nehme mir mein Handy zur Hand.

'Was meinten deine Eltern?', fragt Miran in unserer Cliquengruppe.

'Nichts, sie waren nur überrascht.'

'Fliegst du also nicht von der Schule?', fragt Yasmin.

'Ich glaube nicht. Ich hoffe, es passiert nichts.'

'Das nächste Mal gehen wir alle auf sie drauf!' Ramzi schickt eine Reihe an Gorilla-Emojis. Mein Herz setzt kurz aus, als mir Ardan privat schreibt.

'Geht es dir besser?' Soll ich ihm antworten? Noch bin ich nicht auf unseren Chat gegangen. Ach, eine kurze Antwort kann ich ja geben.

'Ja.' Sofort gehe ich offline und muss augenblicklich auf meinen Bildschirm schauen, wo mir eine weitere Nachricht angezeigt wird.

'Ich hätte nicht gedacht, dass du dazu in der Lage wärst.' Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen und entsperre mein Handy.

'Was? Dass ist dazu in der Lage bin, mich und meine Eltern zu verteidigen?'

'Nein, das meine ich nicht. Ich meine, dass ich nicht gedacht hätte, dass du so wild sein kannst. Du kamst mir sonst immer schüchtern und zurückhaltend vor.' Genervt verdrehe ich meine Augen und gehe wieder offline, nur um wieder online zu gehen, weil er mir wieder geschrieben hat.

'Ich fand es gut, dass du dich gewehrt hast. Das hat gezeigt, dass du dich nicht unterkriegen lässt.' Da ich nicht weiß, was ich schreiben soll, bedanke ich mich einfach. Ist die Konversation jetzt beendet? Irgendwie will ich es, jedoch will ich auch, dass sie weitergeht.

'Gerne. Ich stehe immer noch bereit, falls du reden magst.' Ich spitze meine Lippen.

'Danke, ich erinnere mich noch.' Aber ich werde mich niemals bei ihm dazu äußern.

'Kommst du morgen zur Schule? Heute warst du die ersten beiden Stunden nicht da, wieso?' Wieso interessiert ihn das so? Ach ja, er ist ja mein persönlicher Bodyguard.

'Ja, ich komme wahrscheinlich. Heute wollte ich einfach nicht kommen.'

'Okay, dann sehen wir uns hoffentlich morgen in Englisch :)' Mein linker Mundwinkel zuckt kurz nach oben.

'Hoffentlich.'

'Und bleib genauso stark wie heute. Sie kann dir nichts, außer ihren Neid aus ihrem Herzen freizulassen.' Ich freue mich echt, dass er so nett zu mir ist ... aber ... ach, ich weiß nicht, was ich denken soll. Seit der Nachricht von gestern bin ich so abgeneigt und ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll.

Ich steige wieder die Treppen hinab und setze mich im Wohnzimmer hin. Aiman und Adam sind jetzt auch unten. Mama krault Amirs Kopfhaut, der es genießend hinnimmt und seine Suppe schlürft. "Ich glaube, ich sollte öfters krank werden." Mama murrt und zieht an seinen Haaren. "Natürlich! Damit deine arme Mutter vor Sorgen nicht mehr schlafen kann?" "Es ist doch nur eine Erkältung", beruhigt Amir sie lächelnd. "Nein, ist es nicht." Seufzend schließt sie ihre Augen und tätschelt Babas Kopf. "Baba, ich glaube, wir sollten Cana zur Aggressionstherapie schicken." Babas Kiefer zuckt. "Braucht sie nicht." Spöttisch lächele ich Adam an, den ich dann haue. "Aua, guck doch!" Ich muss an Ardan denken, weil die beiden Gründe neben mir sitzen: Aiman und Adam. Ich will sie nicht darauf ansprechen, weil mir das irgendwie unangenehm vorkommt. Haben sie es ihm einfach so gesagt? Haben sie Ardan gesagt, dass er auf mich aufpassen soll, falls etwas passiert? Ich habe doch genügend Freunde, wieso dann er? "Kommt es zur Konferenz?", frage ich meine Eltern. "Das steht noch nicht fest, Cana. Aber du wirst nicht von der Schule geschmissen", antwortet Baba mir. "Und wird eine Anzeige erstattet?" "Ich hoffe nicht", murmelt Mama. Eine Anzeige hätte mir noch gefehlt. Aber ich glaube nicht, dass sie mich anzeigen wird, weil ich ihr Oberteil auf- und die Fütterung aus ihrem BH herausgeschnitten habe. Hätte sie nicht gepöbelt, wäre es gar nicht dazu gekommen, also sollte sie nicht auf Unschuldslamm tun.

"Baba, hast du dich auch für Mama so tatkräftig eingesetzt?", schmunzelt Adam. "Wie oft musste ich mich prügeln, wegen ihr?", seufzt er. Mama kichert freudig und schmiegt sich an ihn. Wie süß. "Er liebt mich halt wie verrückt, natürlich setzt er sich mit ganzem Körper für mich ein." Ich würde auch mal gerne wissen, wie es sich anfühlt, wenn ein Junge mich vor einem anderen Jungen schützt. Es fühlt sich natürlich toll an oder so, aber ich hatte diese Situation noch nie. Sowas habe ich nur in Büchern gelesen oder in Filmen gesehen. Na ja, ich sollte mir nicht zu viel erhoffen - vor allem nicht jetzt, so schön es auch wäre. "Wann schreibst du Mathe, Cana?", will Mama wissen. Oh Mann, wieso muss sie mich an diese grässliche Klausur erinnern? Sofort kommt mir Ardans Angebot in den Sinn mit dem Matheunterricht. Das werde ich sicherlich nicht annehmen, weil ich sonst wieder falsch denke. Habe ich denn wirklich falsch gedacht? Was habe ich überhaupt gedacht? Ich weiß es gar nicht. Ich weiß nur, dass ich mich oft komisch gefühlt habe und oft komische Gedanken hatte, bis dann die Erschütterung kam und mich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hat. Dieses demütigende Gefühl schwebt wieder in meinem Inneren herum. Ich habe es doch verstanden, mein Gott! Ich lenke mich mit meiner Familie im Wohnzimmer ab, ehe ich mich ins Bett lege und sofort an ihn denken muss.

Ich stelle mir mich und Ardan in verschiedenen und verrückten Situationen vor. In Situationen, die niemals passieren werden. Ich stelle mir vor, wie ich ihm sein Leben rette. Aber nur, weil Mama heute von einem Patienten erzählt hat, der seine Zunge verschluckt hat. Deshalb stelle ich mir vor, wie ich ihn rette. Es wird zwar niemals dazu kommen, aber trotzdem. Außerdem stelle ich mir vor, wie wir uns einfach necken und wegen Kleinigkeiten diskutieren. Zudem stelle ich mir vor, wie er mir Nachhilfe in Mathe gibt. Wie sanft er es erklärt und mir zur Belohnung immer einen Schokobon gibt. Ich will doch nicht mehr an ihn denken! Ist er noch wach? Super, es ist ja schon respektlos, wie ich mir widerspreche. Aber, wenn ich es mir aus einer anderen Perspektive ansehe, dann frage ich mich, wieso ich nicht an ihn denken sollte? Was spricht denn dagegen? Alle Menschen denken doch an etwas oder an jemanden. An Stars, Tiere oder Menschen aus dem Alltag. Das ist doch nicht verwerflich. Ich stelle mir ja nicht vor, wie ich mit ihm rummache oder sonst was. Meine Gedanken sind einfach nur Situationen, die geschehen könnten, jedoch eine geringe Wahrscheinlichkeit haben, zu passieren. Schließlich wünsche ich ihm nicht, dass er sich an seiner Zunge verschluckt, sodass die Situation passieren kann oder soll - Gott bewahre. Es sind einfach nur Situationen, die immer auf dasselbe hinausgehen: Nähe zueinander. Ich bin ja nicht die Einzige, die sowas tut. Andere machen es doch auch mit Stars oder mit ihrem hübschen Nachbarn.

Mir kommt eine verbotene Situation in den Kopf. Wir sind am Schwimmen und ... oh Gott, nein, daran darf ich nicht denken ... oder doch? Was spricht dagegen? Es wird ja nicht praktiziert. Niemand erfährt etwas davon und freiwillig will ich es auch nicht preisgeben. Außerdem bin ich nicht die einzige Person dieser Welt, die sich so eine Situation gerade im Moment ausmalt oder schon ausgemalt hat. Wir sind am Schwimmen und ... irgendwie schäme ich mich für meine Gedanken, muss aber dennoch kichern. Sein Oberkörper ist bis dahin bestimmt ein wenig definiert ... hoffentlich. Ob er jetzt schon definiert ist? Und nimmt er seine Leinenshirts mit? Hoffentlich, die stehen ihm nämlich so gut und schmeicheln seinen tollen Oberarmen. Oh und seine Armbänder. Mann, Ardan ist schon ein Schnuckelchen, aber das muss er ja nicht wissen - das muss niemand wissen. Er muss gar nichts wissen, keiner muss etwas wissen. Ich kann mich und meine Gedanken kontrollieren, also muss ich mir Sorgen um gar nichts machen.

Ich muss mir nur dann Sorgen machen, wenn mir mein Herz gestohlen wird.

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