Kapitel 106
Shawn Mendes - It'll Be Okay
Es ist endlich Dienstag! Und es ist womöglich der längste Dienstag, den ich je hatte, denn der Unterricht wollte, abgesehen vom Biologieunterricht, einfach nicht enden! Alles hat sich so extrem in die Länge gezogen, dass ich am Ende gar nicht mehr wirklich am Ball bleiben konnte. Das musste ich aber auch nicht, da die Hausaufgabe meiner Mitschülerin in der letzten Stunde über 20 Seiten ging und ich mit meinen Freunden über iMessage Spiele gespielt habe. Ardan hat sich heute noch nicht fit genug gefühlt, weshalb er zu Hause geblieben ist. Demnach muss ich mich noch weiter gedulden, aber es dauert ja nicht mehr lange bis ich bei ihm sein darf. Mama und Aiman sind immer noch nicht zurück. Wann sie kommen, wissen sie selbst nicht, aber dadurch, dass Baba und Mama heute eine Konferenz haben, werden sie auch sicherlich ein wenig reden können. Ich habe gestern Schokobons und Waffelröllchen geholt, die wir gemeinsam essen können. Adam und Amir wissen Bescheid und decken mich, wenn gefragt wird. Was er wohl gerade macht? Er hat mir erzählt, dass seine Familie nach mir gefragt hat. Als auf eine zukünftige Hochzeit angespielt wurde, habe ich wie verrückt gekichert, ihn aber noch nicht zu seiner aktuellen Ansicht gefragt. Noch nicht, aber gleich, wenn ich an seiner Tür klopfe.
Mir bleibt die Luft weg, als ich ihn sehe. Mein Mund steht offen. Ardan wirkt extrem angeschlagen. Seine Haut ist blass, selbst seine sonst so schönen rosa Lippen. "Hallo, Mopsi." "Hi, alles gut?" Ich ziehe ihn besorgt in meine Arme. Am Nacken spüre ich seinen kalten Schweiß. "Ardan, setz dich!" Ihm geht es überhaupt nicht gut. Mein ganzer Körper schlägt Alarm. Ich streife mir die Schuhe ab, ziehe ihn hektisch an seiner Hand hinter mir her. Seine Mutter ist auch zu Hause. Wenigstens das beruhigt mich neben den Notfall-Knöpfen. "Hallo, Liebes. Lass dich drücken." Ardans Mutter kommt auf mich zu, doch selbst ihre liebevolle Umarmung kann mich nicht ganz besänftigen. "Hallo", murmele ich steif. Mein Blick gleitet immer wieder zu Ardan. Sein sanftes Lächeln ist wunderbar, aber in Kombination mit seinen glasigen Augen bringt es mich fast zum Weinen. "Alles gut? Wie war die Schule?" Die Mutter fährt mir sachte über mein Haar. Ich kann meinen Blick nur schwer von ihm nehmen. "Ganz okay. Ohne Ardan ist es schwer auszuhalten, aber nach dem Abitur können wir ja weitersehen." Da werde ich ihn nicht mehr aus den Augen lassen. Die Mutter lächelt. Wie kann sie so ruhig bei seinem Zustand bleiben? "Liebes, alles ist gut. Geht hoch. Das Essen dauert noch ein wenig. Mach dir keine Sorgen." Wie soll ich mir keine Sorgen machen, wenn Ardans Haut kalt ist?
"Komm, Mopsi." Es ist doch paradox, wie normal sie sich verhalten. Es ist sogar ein Transportsystem an der Treppe installiert worden, womit eigentlich bewegungseingeschränkte Personen die Treppen hinauftransportiert werden! "Willst du mal fahren? Du magst Treppensteigen doch nicht." Ich verneine es. Mir wird übel beim Anblick. Ich könnte wirklich hier und jetzt weinen, verkneife es mir jedoch. "Sollen wir im Wohnzimmer bleiben?" "Nein, komm. Du wolltest mir doch noch etwas erzählen." Er hält mir die Hand hin, setz seinen Fuß auf die erste Treppenstufe. "Was versuchst du da?" Ich drücke ihn wortlos auf den Sitz. Spinnt er, dass er sich mit Treppensteigen belasten will? Wenn es ihm unangenehm ist, dann schaue ich nicht hin. Ihm zuliebe tue ich alles. Ich lege meine Sachen oben ab, warte, bis auch er zu mir kommt und schlage seine Bettdecke auf. "Wieso hast du nicht gesagt, dass es dir schlecht geht?" "Sehe ich so scheußlich aus, Mopsi?" Bin ich zu sensibel oder Ardan zu abgestumpft, dass er das ganze so gelassen sieht? Ich schüttele fassungslos den Kopf. "Wenn du nicht so aussehen würdest, wie du aussiehst, würde ich dich verprügeln." Er grinst und beugt sich zu meinem Scheitel runter, um mir einen Kuss zu geben. "Ich mag es eigentlich wild. Du bist doch mein kleiner Tiger mit deinen schönen Dehnungsstreifen." Er scheint mich überhaupt nicht ernst nehmen zu wollen, auch wenn er mich mit Liebe überschüttet. "Ardan", seufze ich gegen seinen Bauch.
"Mopsi, beruhige dich bitte. Alles ist gut. Ich bin nur angeschlagen." Seine Hand fährt über mein Haar. Ich umarme ihn sofort, als er sich zu mir setzt. "Ist wirklich alles gut?" "Ist es. Wirklich. Es ist nichts, was ich nicht kenne. Wollen wir nicht lieber ein wenig für Mathe lernen?" Ich weiß nicht, was gerade grauenhafter ist. "Nein", murmele ich wehleidig. Auf Mathe habe ich überhaupt keine Luft. Ich will viel lieber seinen sanften Duft einatmen. Er hat geduscht. "Doch, Mopsi. Mathe ist wunderbar und dein Thema ist extrem einfach." Ich ziehe entgeistert meinen Kopf zurück. "Du bist ein Psychopath." Er schmunzelt. "Für meine Vorliebe?" Ich nicke. Ich kenne wirklich niemanden, für den Mathematik etwas so Simples und Angenehmes ist. Das ist doch nicht mehr normal. "Dann solltest du fliehen, wenn du meine anderen Vorlieben kennenlernst." Seine Lider senken sich auf meine Lippen. Oh ... seine dominante Ader. Ich erschaudere bei seiner Hand, die mir durch meine Haarlängen fährt. "Ich mag dein Haar. Vor allem, wenn es so schön lockig ist. Wir können ja das Volumen ermitteln, wenn du magst." "Wenn du noch einmal über Mathe redest!" Ich will mich wirklich bemühen, ernstzubleiben, aber sein Schmunzeln und seine dumme Aussage lassen mich prusten. "Wollen wir nicht den Tag genießen? Mach dir bitte keinen Kopf. Ich kann mich in dieser Situation gut einschätzen. Komm, zeig mir deine Hausaufgaben und was Frau Radski in die Klausur nehmen will." Weil ich so widerwillig bin, nimmt er sich die Sachen aus meinem Rucksack raus. Hoffentlich belastet ihn das nicht.
"Oh, noch mehr Süßigkeiten?" Er hält die Tüte Schokobons und die Packung Waffelröllchen hoch. "Was heißt noch mehr Süßes?" Ardan legt lächelnd meinen Rucksack auf seinem Bett ab. "Meine Mopsi ist doch süß genug oder nicht?" Oh Mann! Ich grinse verlegen. Er soll mich nicht dazu bringen, ihn voller Wucht aufs Bett zu drücken und über ihn herzufallen, wenn er so kränklich wirkt. "Du alter Schmeichler", schmunzele ich, spüre seine Lippen an meiner Schläfe, als ich verlegen zur Seite schaue. "Nur kann meine liebste Süßigkeit ziemlich bitter sein, wenn sie so böse zur Mathematik ist." Er lacht leise, als ich ihm in die Seite knuffe. "Das ist berechtigt." "Gib der Mathematik doch eine Chance." "Nein, sie ist zu schwierig für mich." "Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen ist es schwer." Wie sehr ich seine philosophischen Zitate vermisst habe, auch wenn ich keinen Gefallen daran finde, dass er damit gegen meine Mathe-Antipathie appelliert. "Meinst du nicht, der Philosoph hat es mehr auf Lebensabschnitte abgesehen mit dieser Aussage?", schmunzele ich, woraufhin er seufzend zur Decke schaut. Ich mag es, wie sein Adamsapfel beim Schlucken springt. Wie schön er von der Seite aussieht. Wie ein Engel aus der Kunst. "Mathe ist konstant. Es begleitet dich in jedem Lebensabschnitt." "Leider", bedauere ich. Er lacht leise.
"Ach, Mopsi. Beschwer dein Herz nicht mit so einer Belanglosigkeit. Es gibt so viel Schönes. Wieso sich den Tag mit einer Kleinigkeit vermiesen?" "So klein ist es nun auch nicht, wenn es meine Zukunft als Studentin beeinflusst", murmele ich voreingenommen. "Mopsi, noch ein Wort und ich leg dich übers Knie. Entweder genießt du die Mathematik oder ich sorge persönlich dafür, dass du sie genießt." Übers Knie legen hört sich gar nicht so schlecht an. Ich beiße mir bei diesem schmutzigen Gedanken schmunzelnd auf meine Unterlippe. Oje, Ardan hebt seine Augenbraue. "Was amüsiert Sie so sehr?" "Nichts." Ich will nach meinen Unterlagen aus meinem Rucksack auf seinem Schoß greifen, als er meine Hände auf den Rucksack drückt ... und damit auch auf seinen Schoß. "Erzählen Sie mir doch, welch untüchtigen Gedanken Ihr kleiner Kopf hegt, liebste Mopsi." Nein, vergiss es! Ich grinse nur selbstgefällig, stehle mir einen kleinen Kuss von seinen Lippen. "Gehört das zu den Gedanken?" "Nein", ziehe ich die Antwort verräterisch in die Länge. Ich kann nicht aufhören zu lächeln, sodass meine Wangen schon wehtun. "Was versteckt sich nur hinter diesem kleinen Lächeln?" "Sag ich nicht." "Ist das so, werte Freundin?" "Wahrlich, werter Freund." Mein Grinsen wird durch sein Schmunzeln immer stärker und als er mich plötzlich aufs Bett drückt, gluckse ich laut auf. "Soso, du stellst dich also komplizierter als die Kontinuumshypothese dar?" "Keine Ahnung, was das sein soll, aber ja, tue ich." Er macht mich gerade so glücklich. Ich könnte ein Leben lang so mit ihm verbringen.
Mein Herz schlägt so schnell. Ich fühle mich so frei, wie auf Wolken! "Das ist eine ganz wunderbare Hypothese der Mathematik, Mopsi. Es gibt keine Menge deren Mächtigkeit zwischen der Mächtigkeit der natürlichen Zahlen und der Mächtigkeit der reellen Zahlen liegt. Das, was mich an ihr fasziniert, ist es, dass sie weder bewiesen noch widerlegt werden kann. Ein wahres Mysterium." Ich habe überhaupt keinen blassen Schimmer, was Ardan da voller Faszination von sich gibt, aber das muss ich auch nicht, wenn er so hübsch über mir gebeugt ist. "Und wozu braucht man das?" Ardan hält inne. Ich grinse verschmitzt. "Gute Frage. Manche Dinge sind einfach da, ohne einen ernsthaften Nutzen zu haben." "Kann ich diese Hypothese anwenden, damit du öfter über mir schwebst?" Meine Frage lässt seinen Mundwinkel nach oben gehen. "Mopsi, Mopsi, du bist ziemlich schmutzig", setzt er mit schwererem Atem an. Meine Sorgen sind sofort wieder an Ort und Stelle. Ich drehe uns vorsichtig um, helfe ihm unter die Decke. "Was ist los?" "Hätte nicht zu viel Energie anwenden sollen, als ich dich aufs Bett gedrückt habe." "Brauchst du Wasser?" "Wäre lieb. Unter meinen Schreibtisch ist ein Six-Pack Wasser." Ich nehme eins der grünen Wasserflaschen und öffne sie auch für Ardan. Ich übernehme auch das Halten für ihn. Er soll sich nicht belasten. "Danke", seufzt er. Ich lasse es nicht einmal zu, dass er sich selbst das überschüssige Wasser von seinen Lippen entfernt.
"Willst du dich hinlegen?" "Nein, Mopsi. Komm, lass uns die Zeit gut benutzen, bevor wir essen." Er klopft neben mich. Ich sehe erst jetzt die Gänsehaut an seinen Armen. "Ist dir kalt?" "Ist dir kalt?" "Das spielt keine Rolle. Ist dir kalt?" "Würdest du mir eventuell einen Hoodie aus meinem Schrank geben?" Natürlich! Ich taste hektisch die Oberteile ab, um zu wissen, welches am dicksten gefüttert ist, fühle aber keinen Unterschied und entscheide mich deshalb für den schwarzen Hoodie. Ich lasse es nicht einmal zu, dass er es sich selbst überzieht. Ich will keine Überanstrengung riskieren. "Soll ich die Heizung aufdrehen?" "Alles gut. Komm." Er zieht mich an meiner Hand aufs Bett zurück. "Wir fangen an. Augen auf deinen Hefter, Mopsi." Das geschieht erst, als er meinen Kopf mit seinem Zeigefinger aufs Blatt dirigiert. Ich bemühe mich wirklich, alles beim ersten Mal zu verstehen, weil ich Ardan wirklich kein bisschen überlasten will. Ich weiß nicht, ob das Thema an sich einfach ist, Ardan es mir einfach wunderbar erklärt oder ob der Druck mich dazu bringt, es zu verstehen, aber es klappt. Die ersten drei Aufgaben gelingen mir einwandfrei. Bei der vierten hapert es aber. "Du musst auf das Vorzeichen achten." "Ich wusste es! Immer vergesse ich das." "Ist mir auch aufgefallen. Ich muss dich dazu konditionieren, damit du es beibehältst." Ich muss wieder an seine Schläge auf meinen Hintern denken, während er mir Mathe beigebracht hat.
Ich bearbeite ein anderes Aufgabenfeld, nachdem ich die falschen Ergebnisse korrigiert habe. "Stopp." Wieso? Ich habe gerade mal eine 7 nach dem Gleichheitszeichen hinschreiben können. "Das ist falsch." Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen. "Da kommt 41,36 raus." "Aber der Taschenrechner sagt das." "Ich weiß schon, wo der Fehler liegt, Mopsi. Würdest du auf deinem Bauch liegen, wäre dein Hintern rot. Du hast erstens wieder die Vorzeichen vertauscht und zweitens statt einer Acht eine Neun hingeschrieben." Er hat ja nicht einmal auf meinen Taschenrechner geschaut. Woher weiß er das? "Hast du das jetzt wirklich im Kopf gerechnet?" "Ja, hab ich. Willst du auch mal?" Ich kann es nicht fassen. "Wow!", gebe ich überwältigt von mir. Wow, wirklich wow! Ich wünschte, ich würde so eine Gabe besitzen. Das würde mir so einiges im Leben erleichtern. "Du bist echt ein Wunderkind." Er lächelt verlegen. "Danke. Jeder hat seine Stärken." "Was würde ich dafür geben, deine Stärke zu haben?" Ich stütze mein Kinn an seiner Schulter ab, spitze meine Lippen bereitwillig für einen kurzen Kuss. Danach klopft es schon an der Tür, weshalb ich bis zu einem respektablen Abstand wegrutsche. Der Vater kommt rein, begrüßt mich lächelnd. "Hier, eure Partnerin." Meine liebste Golden Retriever Hündin kommt ins Zimmer gehechelt und springt voller Freude ihren Besitzer und mich an. "Hi, meine Hübsche! Wo warst du?", frage ich sie. "Sie war beim Arzt. Ihr könnt runterkommen. Das Essen ist fertig."
Ardans Vater verlässt uns nicht und ich weiß auch wieso. Seine grünen Augen beobachten voller Vorsicht seinen Sohn dabei, wie er - mit der schlabbernden Roxy im Nacken - versucht, aufzustehen. Seine Hände zucken schon hilfeleistend, aber er möchte Ardan nicht allzu sehr bedrängen. "Treppen runter schaffe ich ohne den Stuhl", versichert er seinem Vater. Roxy stupst seine Hand an, springt und drückt sich an seinen Bauch. "Ich weiß, Roxy. Aus." Auch ich erhebe mich langsam vom Bett und folge ihnen nach unten. Ich beginne wieder mit meinen innerlichen Gebeten, die ich auch heute und gestern während des Unterrichts in Gedanken verrichtet habe. Ich habe auch meine Omas nach Bittgebeten gefragt. Sie waren so stolz auf mich, als ich mich beim Beten zu ihnen gesellt habe. Ardan kriegt unten eine kleine Menge an Tabletten, die er alle mit einem Mal zu sich nimmt. Das sind mehr als sonst und die Uhrzeit zur Einnahme hat sich auch verändert. Das beunruhigt mich, aber seine schönen, grünen Augen versichern mir, dass alles gut ist. "Setz dich, Mopsi. Komm." Seine Haut fühlt sich so ungewöhnlich kalt an meinem Handgelenk an. Ich kann das Essen gar nicht richtig genießen. Er lügt mich aber nicht an, oder? Er würde es mir doch sagen, wenn es ihm schlecht geht. Er hatte doch gerade erst einen Anfall. Noch einen kann er jetzt nicht kriegen, wenn er doch nur zu Hause bleibt, oder?
"Cana, Liebes. Schmeckt es dir nicht?" Ich schaue mit glasigen Augen zu seiner Mutter. Sie erwidert meinen Blick mitfühlend, unterdrückt es aber schnell. Sie leidet. Und wie sie leidet. "Alles gut", murmele ich. Das Kauen und Schlucken des Essens lösen den Klos im Hals nur für kurze Perioden. "Möchtest du in einer gewissen Stadt studieren, Cana?" Ich verneine kopfschüttelnd die Frage seiner Mutter. "Hamburg", murmele ich. Mit Ardan. Mit einem lebhaften Ardan. Mir steigen immer mehr Tränen auf, weshalb ich meinen Blick wieder senke. Es ist mir unangenehm, dass sie mir aus den Augen fallen. Noch mehr stört es mich, dass er es bemerkt. Seine Fingerkuppen sind so kalt, als sie mir die Tränen wegwischen wollen. "Geht schon", flüstere ich. Vielleicht ist es nur heute so. Hoffentlich kriegt er so schnell wie möglich ein Spenderherz. "Cana, meine Liebe, mach dir bitte nicht allzu viele Sorgen." Ich weiß, dass du selbst Angst hast. Ich erwidere nur kurz den Blick seiner Mutter. "Und wie lange bleibt er so?" Ich schniefe einmal, kriege von Ardan ein Taschentuch gereicht. "Innerhalb der Woche wird er sich sicherlich wieder auskurieren." "Bleibst du dann solange zu Hause?" Er nickt. Eine Woche ohne Ardan in der Schule. Ich sehe ihn zwar sowieso seltener, aber ... keine Ahnung. Aber das ist besser so, vor allem nach der letzten Sache in der Schule. Gott, er soll am besten für immer zu Hause bleiben. Nie in meinem Leben hätte ich gedacht, dass die Schule ein so extremes gesundheitliches Risiko ist.
Als wir wieder in seinem Zimmer sind, drehe ich die Heizung weiter für ihn auf. Er wirkt energiereicher als vorhin. Diese Tatsache beruhigt mich ein kleines bisschen. "Mathe als Dessert?" "Ich bring dich gleich um!" Sein kleines Lachen besänftigt meine strapazierten Nerven. "Durch deine Hände zu sterben, wäre sicherlich ein schöner Tod. Dennoch bevorzuge ich sie auf andere Art und Weise." Mein Blick ist warnend, seiner schelmisch. Er zeigt auf meine Lernsachen. "Zum Schreiben von Matheaufgaben, Mopsi. Nichts Weiteres." "Dein Humor ist grauenhaft", stöhne ich entgeistert. "Also ich finde die Höhepunkte immer treffend." Genug! Ich knuffe ihm sanft in seine Seite, lächele, als er anfängt zu lachen. "Gut. Wir machen ein wenig Pause, aber dann lernen wir weiter. Was wolltest du eigentlich ansprechen?" Ich atme tief durch, drücke seine Hand einmal, die ich zwischen meinen Händen unauffällig erwärme. "Weißt du noch damals? Als du es in Erwägung gezogen hast, um meine Hand anzuhalten?" Ardan nickt und lächelt sanft. "Wie stehst du heute dazu?" "Meine Meinung hat sich prinzipiell nicht geändert. Wieso?" Das ist gut. Ich kuschele mich an ihn, würde am liebsten unter seine Kleidung schlüpfen, um ihn ganz nah an mich zu haben. "Ich habe die letzte Zeit daran gedacht." "An Heirat?" Ich nicke. "Zumindest die islamische Eheschließung. Die große Hochzeit kann ja irgendwann danach folgen."
Ardan antwortet mir nicht. Seine grünen Augen wandern nachdenklich auf die Bettdecke, die seine Beine umhüllt. "Würden deine Eltern das zulassen?" Das ist eine Frage, dessen Antwort mir wirklich nicht klar ist. Ich kann mir vorstellen, dass meine Eltern erst die Bildung bevorzugen wollen, andererseits würden sie es lieber haben, dass es aus islamischer Sicht gesegnet ist und wir somit keine Sünden deshalb mehr begehen können. Ich weiß es wirklich nicht. "Keine Ahnung. Vielleicht nach dem Abi?" "Klingt doch nach einem Plan. Meine Eltern würden auch nichts dagegen haben. Klar, meine Mutter war damals etwas entsetzt deshalb, aber ich kann sie verstehen." "Und du hättest keine Einwände?" "Keines Wegs. Was gibt es Schöneres, als mit der Liebe seines Lebens eine Stufe hinausgehen zu dürfen? Kannst du beten?" Ich nicke. "Und du?" "Früher haben mich meine Eltern immer zur Moschee gebracht. Es war schön, ich mochte es." Sein kleines Lächeln fällt. "Nach einer Zeit ging das nicht mehr. Die Untersuchungen haben schon sehr früh angefangen. Es ist nie zu spät, es wieder aufzuholen. Die Philosophie des Islams zu verstehen, steht auch noch auf meiner Liste. Was möchtest du noch so machen, Mopsi?" Wir legen uns unter die Decke. Ardan zieht mich an sich heran, sodass ich meinen Kopf in seine Halskuhle legen kann. "Eigentlich nichts. Nur mein Abi schaffen und mit dir zusammenziehen zu wollen." Die Tür wird vom energiereichen blonden Bündel geöffnet, der aufs Bett springt.
"Gibt es dort auch Platz für Roxy?" "Im Herz und im Haus", schmunzele ich. Sie setzt sich auf Ardans Bauch, trifft meinen Arm immer wieder mit ihrer wedelnden Route. Ich erinnere mich daran, wie er erzählt hat, dass Roxy Herzmassagen geben kann. Roxy ist seine Assistenzhündin. Musste sie mal wirklich so eine Herzmassage machen? "Hat Roxy mal Maßnahmen ergreifen müssen?" Hoffentlich geht ihm das nicht zu Nahe. "Es gab tatsächlich eine Situation, da hat sie mir wirklich das Leben gerettet." Ardan streichelt seine treue Hündin. "Wann?" "Vor zwei Jahren. Ich bin im Zimmer zusammengebrochen und durch den Besuch hat es niemand mitgekriegt. Ich bin zu Boden gesackt und Roxy hat wie verrückt gebellt und gejault. Ich erinnere mich noch, wie ich ganz schwach gesehen habe, dass Roxy meinen Vater in mein Zimmer geholt hat. Sie ihn an seiner Hose zu mir gezerrt. Wäre sie nicht da, wäre jede Hilfe sicherlich zu spät." Ich halte die Luft an. Ardan am Boden, völlig hilflos und ... kurz vorm Sterben. "Das war dann der Tag, an dem wir beschlossen haben, Roxy ausbilden und fördern zu lassen. Sie war noch ein kleines Bündel und trotzdem voller Talent und Intelligenz. Sie erinnert mich daran, meine Medikamente einzunehmen, spürt es, wenn sich mein Blutdruck ändert und zwingt mich zu Boden, falls es ganz gefährlich wird." "Wieso ganz gefährlich?" "Weil das Herz mehr Arbeit aufbringen muss, wenn man steht. Im Liegen ist es sicherer." Oh. Das muss ich mir merken. Ich sollte am besten ein kleines Notfallbuch anfertigen, damit ich alles im Blick habe.
"Und jetzt kann sie sogar die Notfallknöpfe bedienen. Nur muss sie noch ein wenig Muskeln aufbauen, damit sie mich ein wenig schleifen kann und spätestens Endes dieses Jahr darf sie sich offiziell als Assistenzhündin anerkennen lassen." Meine gedankliche To-Do-Liste erweitert sich. Es steht jetzt ein Hundekuchen für Roxys Abschluss an. "Eine richtige Powerfrau." Roxy genießt die Krauleinheiten sehr. Zwar ordnet sie durch ihre Hyperaktivität Ardans Bauchorgane neu an, das nimmt er gerne hin. Ich nehme seine Hand in meine, um sie auf meinem Schlüsselbein abzulegen. "Du kannst keine Schokobons essen, oder?" "Vielleicht später einen." Ich nicke. Hätte ich das gewusst, hätte ich sie nicht mitgebracht. "Gibt es eigentlich neue Informationen bezüglich ... eines Spenders?", flüstere ich am Ende. Ich muss es wissen! Das kann so doch nicht mehr weitergehen. Ihm entweicht ein tiefes Seufzen. "Leider nicht. Ich stehe auf der Liste." "Aber das kann doch nicht immer so weiter gehen!" "Wir hoffen alle auf baldige gute Nachrichten. Es gibt strikte Regelungen, die ich hinnehmen muss." "Aber du bist doch jederzeit gefährdet?" "Laut der Bundesärztekammer bin ich kein akuter Notfall, so sehr meine Ärzte alle meine Dringlichkeit aktualisieren. Wenigstens bin ich schulisch abgesichert. Ich hatte vor meiner Wiederholung ein Gespräch mit den Lehrern. Sie werden alles dafür tun, dass ich durchkomme." Das beunruhigt mich mehr als es sollte. "Du kommst durch. Deine Mathe-, Physik- und Philosophiekenntnisse sind besser als die der ganzen Schüler zusammen."
Manchmal kann ich es gar nicht fassen, wie gelassen er bleiben kann. Was für eine Ruhe er doch besitzt! "Ich finde es schon beneidenswert, wie entspannt du bist und dieser ruhige Optimismus!" Davon sollte ich mir eine dicke Scheibe abschneiden. Während ich hysterisch durch die Gegend kreischen würde, würde er wahrscheinlich mit einem Messer im Arm noch so ruhig wie ein Mönch bleiben. "Das lernt man mit der Zeit, Mopsi. Und mit vielen philosophischen Büchern. Man lernt alles. Von Glücklichsein bis Sterben." Ich verziehe das Gesicht, als ich über Roxys Fell streichele. "Du hättest auch ein anderes Beispiel nehmen können." "Stimmt. Mathematik statt Glücklichsein, aber strenggenommen ist es ja dasselbe." "Du bist unmöglich!" Ich stimme in sein sanftes Gelächter ein. Die Stille danach tut mir gut. Auch Roxy legt sich zu uns, wärmt Ardan so von seiner freien rechten Seite. "Dir ist nicht warm?" "Ist angenehm gerade." Ich schwitze schon, aber ich will die Temperatur nicht beeinflussen. Ich kann mir ja gleich ein T-Shirt von ihm anziehen. Doch jetzt möchte ich noch die Stille und seine Nähe genießen, die mich langsam schon müde macht. "Es wird aber alles gut, oder?" Ardan summt rau. "Geduld ist eine Tugend. Alles wird wieder gut." Hoffentlich. Meine Hand legt sich zögernd auf seine Brust, fährt vorsichtig über sie, während ich Ardan beachte.
Dann fällt mir wieder die eine Sache ein! Ich rappele mich sofort auf, wecke aus Versehen damit Roxy, die mir neugierig zu meinem Rucksack folgt. "Alles in Ordnung?" "Ja, ich muss dir was zeigen!" Ich hole aus dem kleinen Umschlag die Bilder raus, die ich solange unter meinem Kopfkissen gelagert habe. Ardan nimmt sie mir prüfend entgegen, zieht seine Augenbrauen zusammen. "Also, ich weiß nicht, wer es ist und keine Ahnung ... ich hatte so ein Gefühl, dass du es sein könntest." Ardan nickt nur halb zuhörend, geht alle Bilder durch, die Roxy einzeln beschnüffeln will. Was sagt er? Vielleicht ist es nur ein Zufall. Vielleicht ist es auch wer anders und ich habe mir nur zu viel eingebildet, aber sein konzentrierter Blick "Das bin ich." Er ist genauso verdutzt wie ich es war. "Das bin ich, zu hundert Prozent! Ich zeige sie später meiner Mutter. Wann hast du sie gefunden?" "Am Samstag hab ich ein wenig in meinen Fotoalben gestöbert und sie dann gefunden. Ich fand es so verrückt und musste an eine gewisse Überlieferung denken." "An welche?" "Man sagt im Islam, dass schon feststeht, wer der Partner wird. Das kann doch kein Zufall sein!" Alleine wieder daran zu denken, sorgt für Herzklopfen bei mir. Wenn auch die Mutter das bestätigen kann, dann kann mich niemand mehr aufhalten, ihn zu heiraten. "Ich sollte schon mal den Ring kaufen, oder?" Sein linkes Grübchen sticht hervor, genau wie mein rechtes.
Sowie unsere Herzen füreinander geschaffen sind, erfüllen sie sich auch gegenseitig.
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