Kapitel 100
Halsey - Angel On Fire
Ich will mich nicht umdrehen. Nein, ich will es gar nicht sehen. Ich will ihn nicht sehen. Ich will auch gar nicht sehen, wer da noch steht und es jetzt mitbekommen hat. Das war ihr Ziel - sie hat es geschafft! Ich bin wütend. Ich bin unglaublich wütend, aber ich kann nicht auf sie losgehen. Mein Körper hält mich hier und jetzt gefangen, gefesselt und verspannt von meiner Wut und Erschöpfung. Didem wirkt ganz verdutzt, als sie Ramzis Satz hört. Woher weiß er das? Ich kann anhand seines Tones keine Trauer erkennen. Wenn ich mich umdrehen würde, würde ich vielleicht mehr erfahren, aber ich traue mich nicht. Ich habe seinen traurigen Blick vor meinem geistigen Auge, als er mir seine Liebe gestanden hat. "Und es ist besser für dich, wenn du es nicht weitererzählst. Ich will nichts sagen, aber es könnte Folgen haben", höre ich Ramzi ruhig hinter mir sagen. Didem errötet schon vor Scham und läuft einfach an mir vorbei. Jetzt stehe ich alleine hier, verspannt, gestresst, sprachlos. Er weiß es. Wie hat er es erfahren? Ich höre, wie er hinter mir seufzt. Ist er enttäuscht? Ich kann mich nicht umdrehen, ich habe zu viel Angst. "Glückwunsch euch beiden." Steht Ardan auch da? Danach höre ich, wie er bei jemandem einschlägt. "Ramzi ...", setzt Ardan an. Ist Ramzi gegangen? Ich muss mit ihm reden, auch wenn ich nicht weiß, was und wie ich es ansprechen soll.
Mir steigen vor Frust die Tränen auf. Mein Oberkörper fängt langsam zu beben an. Verdammte Scheiße, ich bin zu wütend, um irgendeinen klaren Gedanken fassen zu können! "Cana", höre ich Ardan hinter mir sagen. Er kommt zu mir, stellt sich vor mich, aber in die Augen schauen tue ich ihm nicht. Seine müden Augen zu sehen würde alles noch schlimmer machen. "Magst du reden?" Dieser Satz entfacht eine urplötzlich größere Wut in mir. Plötzlich kann ich meinen Kopf anheben, ohne gegen diese Starre ankämpfen zu müssen. "Erst jetzt? Jetzt?", blaffe ich. Seine Augen weiten sich verdutzt. "Die ganze Woche versuche ich mit dir zu reden, will dir helfen und brauche jemanden, bei dem ich diesen ganzen Frust und die Probleme rauslasse und jetzt, erst jetzt bietest du mir an zu reden? Jetzt, wo ich sowieso kurz vorm Zusammenbrechen bin?" Meine Stimme bricht am Ende. Ich kann seine Mimik nicht identifizieren, weil mir die Tränen die Sicht versperren. Ich bin so wütend, so frustriert und will einfach nur liegen. Ich fühle mich schwach, obwohl ich so viel Wut in mir trage. Ich konnte nichts gegen Didem tun, ich kann nicht zu Ramzi gehen und jetzt bin ich nicht mehr in der Lage, meine Wut zu kontrollieren, obwohl ein Teil in mir sagt, dass ich es dadurch nur schlimmer mache. Ein anderer Teil in mir sagt jedoch, dass ich meine Wut rauslassen soll. "Mir ging es die ganzen Tage beschissen, aber erst jetzt kommst du?", rufe ich erzürnt.
Ich wische mir grob die Tränen weg, um sein Gesicht wieder normal sehen zu können. Es hat ihn getroffen, er schaut mich sprachlos an. "Was ist passiert, dass du nicht mit mir sprechen wolltest?" Meine Stimme ist jetzt fast weg. Meine Frage kommt dennoch wie ein Flüstern über meine Lippen. "Setz dich doch. Du bist ganz blass." "Du siehst nicht viel besser aus, aber mir willst du ja eh nichts erzählen." "Es ist nichts, was du nicht schon weißt." "Dann wiederhol dich, damit ich es auch ganz sicher weiß! Du kannst dich nicht immer verschließen und kalt zu mir sein, wenn du ein Problem hast. Denkst du, du hilfst dir damit? Nein, du sorgst für Frust und Stress!" Seine Augenbrauen ziehen sich zornig zusammen, aber er antwortet nicht. Stattdessen schaut er nur stumm zur Seite und schließt seine Augen. "Willst du mich jetzt wieder ignorieren? Willst du mich wieder warten lassen?", frage ich. Meine Beine zittern, mein ganzer Körper tut es. Mir wird wieder schwarz vor Augen, aber das ist mir scheißegal! Dass er wieder schweigt und mich abweist, macht mich so rasend. "Antworte mir doch!" Er lässt sich von mir schubsen. Verdammt, ich muss mich zügeln! "Ich habe keinen Bock mehr, wenn es so weitergeht!" Plötzlich erwacht Ardan aus seiner Starre. Er kommt so schnell auf mich zu, dass ich es anfangs gar nicht realisiere.
Seine Hände umschließen grob meine Handgelenke und ziehen mich gegen seine Brust, weshalb ich erschrocken keuche. "Du willst mich verlassen?", flüstert er. Sein Blick ist gemischt, aber vor allem Wut ist zu sehen. Wut, die seine Trauer und Angst unterdrücken will. "Du willst mich verlassen?", wiederholt er sich keuchend, während er meine Hände gegen seine Brust schlägt. "Du willst mich alleine lassen?", kommt es ganz leise von ihm. Ich bin perplex. Sein Verhalten lässt mich schwer nach Worten ringen. "Ich ... ich will doch nur nicht mehr, dass du dich einkapselst. Ich will das nicht und habe keine Lust mehr drauf. Du versuchst nicht einmal, dich zu ändern." Der Griff um meine Handgelenke verfestigt sich für einen kurzen Moment, doch dieser Moment reicht mir, um mein Herz schneller schlagen zu lassen. "Ich ... ich ..." Er drückt wieder zu, zieht mich wieder an sich und schlägt meine Hände dieses Mal fester gegen seine Brust. Wieso macht er das? Er mag es doch nicht, wenn ich seine Brust berühre. Ich will mich aus seinem Griff lösen, lieber über seine Brust streichen, doch dann stößt er mich ab. "Was ist los mit dir?" Ich verstehe sein Verhalten nicht. "Rede mit mir, Ardan! So kann das nicht weitergehen. Du musst mit mir reden!" "Ich habe nur ein Schicksal, dem ich nicht entkomme und es tun muss. Das hier muss ich nicht. Ich kann mich dazu entscheiden."
Meine Schultern fallen enttäuscht. Er tut es schon wieder. Ich hatte einen kleinen Hoffnungsfunken, aber nein, er blockt mich ab. Ardan sieht ganz genau, wie enttäuscht ich bin. Das ist auch der Grund, wieso er mir nicht in die Augen sieht, sondern versteift an mir vorbeischaut. Ich habe keine Lust mehr. "Dann bitte. Bedenke die Konsequenzen, die mit der Wahl deiner Entscheidungen auftauchen. Heute muss ich mir nicht noch mehr Stress antun. Wann werde ich wieder etwas von dir hören? In einigen Wochen?" Natürlich antwortet er mir nicht. Nein, er ballt lieber seine Fäuste und spannt sich immer mehr an. "Dann bis in einigen Wochen. Du kannst dich auch ruhig früher bei mir melden." Mehr sage ich nicht und mehr will ich nicht sagen. Ich schleife mich müde und lustlos durch die Halle, wo einige aus seinem Sportkurs ihre neugierigen Blicke nicht geheim halten können. Sollen sie es doch wissen, mir ist gerade alles scheißegal! Ich werde langsamer, als ich in der Nähe meiner Halle bin, da Ramzi dort ist. Ich will ihn nicht sehen. Ich schäme mich, weil er dieses intime Geheimnis erfahren hat. Will er noch mit mir reden? Wie wird er damit klarkommen? Woher weiß er es? Er müsste noch mit mir reden, da er es schon wusste. Sonst wäre er doch nicht so normal zu mir. Zögernd laufe ich in unseren Hallenabschnitt, wo alle beschäftigt sind. Yasmins Blick gleitet sofort zu mir. In ihren braun-grünen Augen sehe ich, dass sie Bescheid weiß. Hat Ramzi mit ihr geredet? Wo ist er? Ich schaue mich in der Halle um, sehe ihn aber nicht.
Weiß Yasmin von mehr Bescheid? Dilan und Amal kommen mit ihr auf mich zu. "Was ist los? Wieso hast du geweint?", fragt Dilan mich besorgt. Der Druck, das emotionale Gemisch braust wieder in mir auf. Ich kann schon wieder nicht reden. Da ist eine Sache weggefallen und schon ist das nächste Problem aufgetreten. Jetzt muss ich an Mama denken, die mir sagte, dass Beziehungen Probleme mit sich bringen. Ich schwimme in Problemen! Ich will nach Hause, auf den Sport habe ich gar keine Lust und gar keine Kraft. Mit steigen wieder die Tränen auf. "Hey, was ist passiert?", fragt Dilan wieder, die mich mit Amal in den Arm nimmt. Meine Augenbrauen sind zornig zusammengezogen, meine Lippen versuche ich krampfhaft nicht zusammenzuziehen und Yasmin durch meinen Tränenfilm zu erkennen, der sowieso verschwindet, als mir die Tränen über die Wangen rinnen. Ihr fürsorglicher Blick macht mich noch emotionaler. "Komm, lasst uns in die Kabine", meint Yasmin. Dann müssen wir in die Halle, wo Ardan unter anderem ist. Dilan läuft neben mir und Amal vor mir, sodass man mich nicht sieht. "Es geht gleich schon wieder. Ich will nur kurz ..." Ich beende meinen Satz nicht, sondern schniefe. Was soll ich denn sagen? Es wird gleich sowieso nicht besser. Die Lasten sind noch da. "Nein, lasst uns in die Kabine. Die anderen gucken schon."
"Herr Rinke, kommen Sie schnell!", ruft Miran aufgebracht. Wir schauen alle zu Miran, der ganz angespannt und panisch wirkt. "Was ist passiert?", fragt Amal. Mein Herz setzt aus. "Ardan", flüstere ich instinktiv. Nein, bitte nicht. Ich renne sofort los, an Miran vorbei in die Halle, wo sich schon ein Kreis gebildet hat. "Ardan!", wimmere ich. Rücksichtslos schiebe ich die anderen zur Seite, auch wenn mir das Bild zum Verhängnis wird. Er kniet auf dem Boden, stützt sich mit seinen Händen ab. Ardan ist blass, sehr blass und er atmet schwer. Ist das meine Schuld? Habe ich ihm das angetan? "Ardan, der Rettungsdienst kommt sofort. Keine Angst", redet seine Sportlehrerin ihm zu. Ich will etwas tun, ich will etwas sagen, aber ich stehe nur erstarrt da, völlig unfähig zu reden. Mein Herz schlägt so schwer in meiner Brust. Ich habe das Gefühl, dass ich weder ein- noch ausatmen kann und das ist eventuell der Grund, wieso mir wieder schwarz vor Augen wird. Was soll ich bloß tun? Ich muss ihm doch irgendwie beistehen. Beweg dich, Cana!, schreie ich mir innerlich zu, doch ich bin nach wie vor in dieser Starre. Ich kann mich kein bisschen bewegen, bin gefangen und gezwungen, mir Ardan anzuschauen, wie er schwer nach Luft ringt und einen Schmerzenslaut von sich gibt. Mich überkommt das Gefühl, als ob jemand seine Hand um mein Herz schließen würde und es erbarmungslos zusammendrückt. Mir entkommt ein unterdrücktes Wimmern. Ich will ihm helfen!
Ich werde wieder zu dem Zeitpunkt zurückgeschleudert, wo Ardan sich zu stark belastet hat, als er diesen einen Typen geschlagen hat und der Krankenwagen gerufen wurde. "W-wo ... wo bleiben sie?", keucht er leise. Seine glasigen Augen schauen überall hin, bis sie auf meine treffen und mir den letzten Atemzug nehmen. Es fühlt sich so an, als ob mir jemand in den Bauch schlägt, als ob mir jemand einen Schaden anfügt. Es fühlt sich so an, als ob ich diejenige bin, die gerade dieses Leid fühlt. Dieses Herz schlägt wirklich nur für dich. Bitte behandele es mit Vorsicht, ich kann sonst nicht mehr, kommt mir seine Bitte von damals in den Sinn, als er einen inneren Konflikt erlitt und mir nichts davon gesagt hatte. Meine Luft wird immer knapper. Ich komme aus unerklärlichen Gründen nur schwer dazu, zu atmen. Träge lasse ich mich zu ihm auf dem Boden nieder, lege zitternd meine Hand auf seinen Rücken und lasse einfach die Tränen fließen. Wieso hört dieser Stress nicht einfach auf? Wieso habe ich das Gefühl, dass alles zu Ende gehen wird? "Hallo? Hier hin!", höre ich Herrn Rinke sagen. Wenigstens fällt mir jetzt eine Last von den Schultern, als die Notärzte eintreffen. Sofort schaffe ich mit den anderen Platz, auch wenn meine Knie stark zittern. Ist mein Körper plötzlich zum Leben erwacht oder woher kommt dieser Energieschub? Doch spüre, wie ich tief im Inneren noch das Bedürfnis zu weinen verspüre. Ein letztes Mal sehe ich zu Ardan, der mit Miran - sein Begleiter - in den Krankenwagen steigt.
Das waren die längsten drei Stunden, die ich jemals erlebt habe. Ich habe es sogar in Erwägung gezogen, zu schwänzen, habe es aber doch nicht getan. Meine Gedanken schwingen immer noch von Ramzi zu Ardan und wieder zurück - die ganzen drei Stunden! Ramzi ist nach Didems Aktion nach Hause gegangen, weshalb ich ihn nicht gesehen habe. Kommt er Ardan besuchen? Wie wird die Freundschaft zwischen ihnen sein? Wir müssen reden, unbedingt! Ardan liegt wieder auf der dritten Etage ... wieder auf Zimmer 3A, wie damals, als er nach dem Besuch am See eingeliefert wurde. Wie konnte ich damals so unaufmerksam sein und nicht bemerken, dass wir uns auf der Kardiologie-Station befanden? Ich hätte auf so vieles achten müssen, um früher an die Erkenntnis zu gelangen. Die Stimmung ist bedrückt, keiner redet wirklich von uns. Wie geht es Ardan? Je näher ich dem Zimmer komme, umso schneller schlägt mein Herz und umso bedrückter werde ich. Wann werden wir reden? Wann wird es besser werden? Werden wir reden, wenn ich diese Tür öffne? Wir treten in das Zimmer, wo beide Elternteile besorgt am Bett sitzen. Ardan hängt wieder am Tropfen, sein Gesicht ist nicht mehr blass, sondern rötlich. Jetzt muss ich wieder an ein anderes Szenario denken, nämlich an jenes bei ihm zu Hause, nachdem wir intim wurden und es ihm schlecht ging. Ich habe seine Mutter angerufen und als sie ihn gesehen hat, war sie in Alarmbereitschaft. Ardan musste sofort ins Krankenhaus. Bei der Erinnerung erschaudere ich.
Ich sehe, wie beide Eltern verweint auf den Stühlen sitzen. Vor allem seine Mutter scheint schrecklich geweint zu haben. Dennoch lächelt sie mir traurig zu. "Ardan, wie geht es dir?", fragt Yasmin. Er kann ihr nicht einmal sein sanftes Lächeln schenken. Mich trifft es. Ich senke den Blick. "Ich sollte mich nicht beklagen. Es ging ja gut aus", höre ich ihn müde antworten. Er ist sehr erschöpft. "Kommt Ramzi?" Mein Gesicht verzieht sich bei der Hoffnung in seiner Stimme. Ramzi ist auf keine einzige Nachricht und auf keinen einzigen Anruf von uns eingegangen. Wir wissen nicht, wo er ist und was er gerade tut. Ich schreibe ihm noch einmal, dass Ardan ihn sehen möchte, aber ob er auf diese Nachricht eingehen oder sie überhaupt lesen wird, entscheidet nur er. Alles kommt plötzlich. Zu plötzlich. Plötzlich war Ardan da, plötzlich war ich in Ardan verliebt, plötzlich habe ich erfahren, dass Ardan herzkrank ist, plötzlich geht alles den Bach runter. Plötzlich, plötzlich, plötzlich.
Wir stehen und sitzen stumm in diesem kleinen Krankenzimmer, wobei nur vier von zehn wissen, wieso Ardan hier liegt. Keiner wird es ansprechen, solange Ardan nichts sagt und Ardan wird wegen seiner Angst, durch seine vergangenen Erfahrungen schweigen. Das ist zwar nicht richtig, aber gegen ein Trauma kann man ohne Hilfe nur schwer ankommen. Ich bin auch nicht besser, indem ich alles in mich hineinfressen will, seitdem Ardan sich vor mir isoliert, aber ich habe einen Grund. Ich würde das Vertrauen Ramzis brechen und vielleicht in eine Konfrontation geraten, wenn ich mich an wen anders wenden würde. Ardan weiß von allem Bescheid, aber auch wenn ich ihm alles erzähle, tut er nicht dasselbe. Wieso will er mir nicht vertrauen? Die Angst zu wenig von ihm zu wissen, sorgt für ein größeren Gedankenstrudel. Ich weiß nichts, obwohl ich so viel denke. Dabei könnte man bei den ganzen Gedanken, die ich habe, meinen, dass ich mir dadurch vieles selber beantworten könnte, aber nein. Nein, ich kann es nicht, weil mir die wichtigen Gedanken fehlen; und diese kriege ich nur durch Ardan. Es klopft an der Tür. All unsere Köpfe drehen sich hoffnungsvoll zu ihr, aber es ist nicht Ramzi, sondern die Ärztin, mit der Mama sich sonst immer zankt. Diese bittet uns, aus dem Raum zu treten, um mit Ardan zu reden. "Was hat er?", fragt Yasmin mich besorgt. Ich schweige. Mein besorgter Blick gleitet wieder in den Raum zu Ardan. Beim Schließen der Tür lasse ich mir Zeit.
Das Letzte, was ich sehe, sind seine müden Augen, die das akzeptieren, was die Ärztin sagt.
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