2] Abend über Posen
"Doch am Ende sprach Rudenz:'Und frei erklär ich alle meine Knechte' ", las Antonina den letzten Satz in Schillers Wilhelm Tell vor und schloss geräuschvoll das Buch in ihren Händen.
Über den Ledereinband hinweg starrten sie zwei Paar blauer Augen neugierig an. Im zarten Licht der Petroleumlampen glommen sie wie vier kleine Saphire.
Augenblicklich seufzte die Polin, dann blickte sie lächelnd auf Georg und Wilhelmine herab.
Irgendwo im großen Anwesen hallte der geisterhafte Klang einer Uhr, als die Zeiger über die neun glitten und den Abend einläuteten.
"Es ist spät", erklärte sie den Kindern. "Kommt, geht es Bett. Madam von Kopcke wird sonst alles andere als zufrieden mit uns sein."
"Kannst du uns nicht noch eine Geschichte vorlesen? Bitte", flehte Wilhelmine, durch ihre ruckartige Vorwärtsbewegung flatterte ihr flachsblondes Haar wie eine Fahne hinter dem Mädchen.
"Wie eure Mutter, die gnädige Madam von Kopcke, bereits-", begann sie, wurde jedoch von dem Schnauben des Mädchens unterbrochen. Dieses hatte nämlich demonstrativ die Arme verschränkt. "Mutter ist doch ohnehin niemals da. Woher soll sie überhaupt wissen, wann wir ins Bett gehen?"
In diesem Moment hätte die junge Polin die preußische Adelige am liebsten dreimal verflucht, die in diesen Momenten eher die große Salonière gab, als wenigstens einen temporären Ersatz für das am Nervenfieber - manche nannten es bereits Typhus- erkrankte Kindermädchen zu finden. Sie, als Gouvernante, hätte das Haus bereits vor einer guten Stunde verlassen müssen, und versuchte hier krampfhaft und unbezahlt ein Werk der Weimarer Klassik in eine Gutenachtgeschichte umzuwandeln. Immerhin war sie Hauslehrerin, keine Amme. Doch sie hatte die beiden kaum allein in der oberen Etage des Anwesens stranden lassen. Aber bewahre Gott sie, wenn das Problem dahinter von ihr nur angesprochen wurde. Sie hatte schon früh gelernt, bloß kein schlechtes Wort über die preußischen Besatzer zu verlieren. Der Verlust ihrer Anstellung wäre da noch die mildeste Folge, und allein das wäre in ihrer momentanen Lage der Todesstoß für ihre Familie.
Schon lange vor dem Wiener Kongress 1815 war Polen-Litauen zwischen Preußen, Österreich und Russland geteilt worden wie ein bloßes Stück Kuchen. Grenzen wurden gezogen, ihre Nationalität mit Füßen getreten und ein Land vernichtet, aber Napoleon Bonaparte war aus dieser Düsternis gekommen wie eine Kerze in dunkler Nacht. Mit dem Herzogtum Warschau hatte er die Hoffnung der Polen entfacht, ihren langen geschändeten Stolz aus der Asche gehoben- doch dann hatte er alles verloren und war schlussendlich in Verbannung auf St. Helena im Nichts gestorben, genau wie er aus dem korsischen Nichts zum mächtigsten Mann Europas geworden war . Doch für Polen war der Wiener Kongress ein weiterer Nagel auf ihren Sarg gewesen, und hier, im Konzert der Mächte, dieser Pentarchie in Europa, war die Hand der Besatzer strenger wie noch nie.
Und somit blieb Antonina erneut nur Improvisieren als Möglichkeit.
Verschwörerisch beugte sie sich zu den kleinen Geschwistern herüber.
"Vielleicht eure Frau Mama nicht", gestand sie raunend. "Aber dafür die Kikimora."
Georgs Augen weiteten sich.
"Kikimora?", hakte er zittrig nach.
Heftig nickte Antonina. "Sie ist ein Poltergeist. Sie holpert und poltert bis die Bewohner eines Hauses in den Wahnsinn getrieben werden! Und wer sie erblickt, blickt zugleich in sehr großes Unglück."
Noch bevor sie geendet hatte, klammerten sich die zwei furchterfüllt aneinander. Sachte schüttelte die Braunhaarige mit dem Kopf, dann lächelte sie Georg und Wilhelmine aufmunternd entgegen. "Keine Sorge, ich passe auf euch auf und lasse keine Geister an euch heran."
"So etwas kannst du?", staunte die Ältere der beiden. Erneut schmunzelte Antonina vielsagend. "Einige Vorteile habe ich noch in meinem Ärmel. " Sie zwinkerte den beiden leicht zu. "Aber wenn ihr schlaft, könnt ihr die Kikimora nicht sehen, nicht wahr? Außerdem braucht ihr den Schlaf. Wir haben morgen einiges vor. Wilhelmine, wir könnten morgen vielleicht mit dem Accusativus cum infinitivo oder der Lehre des Euklid beginnen und Georg, du wolltest doch unbedingt ein paar Hexameter lesen und Klavier spielen, bevor du zur Kadettenanstalt geschickt wirst?"
"Unbedingt!", jubelte der Neunjährige und klatschte euphorisch, während Wilhelmine lustlos ein Stück weiter zusammensackte. Etwas versöhnlicher fügte Antonina hinzu: "Wenn ihr morgen gut mitarbeitet, kann ich die Köchin vielleicht davon überzeugen, ein Eis zuzubereiten." In diesem Moment war die Gouvernante unheimlich dankbar dafür, dass die von Kopckes eine dieser wundersamen Eismaschinen besaßen, die vor fünf Jahren von der genialen Nancy Johnson entwickelt worden war. Vielleicht war es für die preußischen Adligen nur ein weiterer, unscheinbarer Weg gewesen, selbst in der Küche zu protzen, was sie an Vermögen besaßen und wie gut die katastrophalen letzten Jahren voller Missernten, Aufbegehren und nagendem Hunger hinter sich gebracht hatten.
Mit einem Klatschen unterbrach sie ihre eigenen Gedankengänge und forderte die Geschwister auf, sich endlich zu Bett zu begeben. Ein paar sanfte Worte und eine geschlagene Viertelstunde später, schloss die Polin knarzend die schwere Eingangstür zu.
Ein frostiger Wind pfiff durch die nächtlichen Gassen und brachte Fensterladen zum Klappern.
Die Kikimora, schoss es ihr durch den Kopf, aber sie verwarf den Gedanken abfällig. Abergläubisch, sinnfrei und die bloße Ausgeburt einer menschenleeren, von Dunkelheit ausgefüllten Gasse.
Rasch zog sie den Mantel um ihre Schultern enger und die Schute tiefer ins Gesicht, nur um sich mit raschelnden Unterröcken hastig in die warmen Lichtkegel der Gaslampen zu bringen.
Der Weg nach Hause war nicht weit, eigentlich nur ein Katzensprung, und doch machte die frostige Dunkelheit jeden Schritt länger und die Strecke zäh. Manchmal fühlte es sich so als, als kröche die Schatten selbst unter ihre Röcke.
Augenblicklich glitt ein Schauder über ihren Rücken, dann beschleunigte sie ihre Schritte vorbei an den Häuserfassaden des Alten Markts, des Stary Rynek, die im Tageslicht in schillernden Farben leuchteten. Es war ein Kaleidoskop aus mint, orange und zarten himmelblau, aber jetzt war es nur ein schlammiges Grau.
Dann hörte Antonina es. Das leise Klopfen von Sohlen auf Kopfsteinpflaster. Ihr Herz machte einen Sprung, dass raste es stolpernd in ihrer Brust. Es tönte so laut, beinahe hätte sie überhört, wie die Schritte immer näherkamen. Hier, direkt unter dem langen Schatten der Stadtwaage.
Instinktiv fuhr ihre Hand zu der Seidenblume an ihrer Schute. Sie war ein altes Geschenk, abgetragen und von einem grässlichen Lachston, aber die junge Polin würde sie niemals eintauschen - denn sie war mit einer langen Hutnadel befestigt, die spitzer war als jedes Stilett und flinker als jeder Dolch.
Als sich ihre Finger um das zarte Metall schlossen, drückte es kühl gegen ihre Haut. Automatisch beruhigte sich ihr Herzschlag.
Im nächsten Moment löste sich etwas aus der Finsternis und trat aus der Nische der Stadtwaage. Eine hohe Gestalt zeichnete sich ab, sie streckte eine Hand nach Antonina aus und-
Diese handelte blitzschnell. Geschickt tauchte sie unter dem Griff hinweg, zog die Nadel aus ihrer Halterung und die Blume glitt raschelnd zu Boden. Noch ehe sie das Pflaster berührte, hatte die Gouvernante dem vollkommen perplexen Angreifer die Nadel gegen den Nacken gerichtet. Eine falsche Bewegung, bloß eine Andeutung, er würde ihr Schaden, sie würde die heimtückische Spitze in seinen Hirnstamm rammen.
"Verschwinden Sie!" , zischte sie, wissend, dass sie in ihrer Wolke aus Unterrücken niemals schneller als er sein würde. Also vertraute sie auf die schmale Klinge in ihrer Hand.
"Antonina?", stieß der Mann jedoch nur keuchend aus. Beinahe wäre ihr die Hutnadel entglitten.
"Stanislaw?", entwich es ihr ungläubig, dann entgegnete sie bitter. Ihre Hände zitterten vor schäumender Wut, die sie mühsam zurück presste. "Was sollte das? Wieso lauerst du mir auf? Ich hätte dich beinahe verletzt!"
Stanislaw trat einen Schritt nach vorn und wandte sich zu ihr um. Vorsichtig ließ Antonina ihr improvisiertes Stilett sinken und starrte verdrossen in sein schlankes Gesicht. Angeschauter zuckte jedoch bloß mit den schmalen Schultern.
"Eigentlich wollte ich dich nach Hause begleiten. Aber du scheinst ja außerordentlich gut mit Gefahrensituationen umzugehen", gab er zerknirscht zurück.
"Welch Kavalier!", schnaubte Antonina nur eine Spur gereizter als geplant und hob die zerrupfte Blume mit Spitzen Fingern vom Boden auf. "Erst aus der Dunkelheit kommen wie ein Ganove, dann den Schutzpatron spielen."
Stanislaw schnappte beleidigt nach Luft und trotz der schwerer Decke der Nacht konnte sie erkennen, wie er die Hände vor der Brust verschränkte.
"Wenigstens biedere ich mich nicht den Preußen an und arbeitete für sie!", hielt er dagegen und riss sie aus ihrem eigentlichen Gesprächsthema heraus.
Für einen Moment bereute die junge Polin, ihre Hutnadel wieder eingesteckt zu haben.
"Ich sorge mich um deren Kinder. Und welcher Mensch wird denn böse geboren? Sie wurden in diese Familie durch Zufall geworfen, das haben sie nicht entschieden." Selbst in ihren eigenen Ohren schnitt ihre Stimme wie eine Klinge durch die klirrende Luft. Aber Georg und Wilhelmine trafen einen wunden Punkt in ihr. "Außerdem ist nicht jeder Teil der Szlachta und besitzt das nötige Kleingeld, eine Familie ohne Arbeit zu ernähren!"
Augenblicklich verstummte Stanislaw und blickte betreten auf die Schuhspitzen.
"Tut mir Leid, das war ungerecht von mir", knirschte er zurück, dann ein leises Räuspern.
"Wie geht es eigentlich deinem Vater?", setzte er vorsichtig an.
Allein diese Frage reichte, damit alle Energie mit einem Schlag aus ihr floss. Schwach sackten ihre Schultern herab und für einen Moment schien ihre Stimme in ihrem eigenen Mund wie zerbrochen. Allein ein Krächzen entwich ihr. "Unverändert schlecht."
Ihr Gegenüber biss sich auf die Unterlippe, bevor er anmerkte: "Vielleicht könnte ich euch unterstützen. Finanziell meine ich."
Fast schaffte sie es nicht einmal, sich zu einem steifen Kopfschütteln zu zwingen. "Momentan verdiene ich genug. Und ich will dich nicht zu sehr belasten. Wer weiß, welche Zeiten noch auf euch zukommen." Doch wenn sie vollkommen ehrlich war, dann wollte sie auch nicht so tief in Stanislaws Schuld stehen. Das wollte sie von niemandem.
Seitdem sich der gesundheitliche Zustand ihres Vaters seit dem Tod ihrer Mutter rapide verschlechtert und seit zwei Jahren ihren Tiefstand erreicht hatte, schien ihr ganzes Leben auseinanderzufallen. Zuerst konnte ihr Vater seiner Arbeit als Buchhalter nicht mehr nachgehen. Plötzlich hatte er und somit auch sie mittellos und verlassen in der Welt dagestanden. Für eine unverheiratete Frau wie sie ein Desaster. Allein der Beruf der Gouvernante war für eine Dame ihrer sozialen Schicht akzeptabel, aber selbst dieses Gehalt erreichte noch lange nicht den Verdienst ihres Vaters. Und egal wie oft sie täglich betete, welche Ärzte sie auch konsultierte... Er litt weiter und weiter und kein Licht der Besserung zeichnete sich am düsteren Horizont ab.
"Aber wenn es wirklich nicht mehr reicht, dann wende dich an mich, ja?", hakte der polnische Kleinadlige nach und Antonina rang sich ein knappes Nicken ab.
"Danke", murmelte sie bloß erstickt. "Aber du bist nicht nur wegen mir hier, oder? Also, was treibt dich nachts auf die Straßen?"
Mittlerweile hatten sich die beiden in Bewegung gesetzt und schlenderten in Richtung Antoninas Heimat.
Aber kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, spannte sich alles in dem Körper ihres Gegenübers an. Gehetzt suchte sein Blick die Nischen und Schatten der Straße ab, bevor er raunend antwortete: "Ich habe mich wieder mi Kasimir getroffen." Augenblicklich hoben sich ihre Augenbrauen. Kasimir war ein weiterer adliger Freund Stanislaws, der sich regelrecht in den Untergrundkampf gegen die Preußen stürzte. Die beiden hatten froh sein können, dass sie im Polenprozess in Berlin letztes Jahr nicht zum Tode verurteilt worden waren.
"Wir haben eine Idee entwickelt", fuhr er jedoch rasch fort. "Jetzt, da in Berlin auch die Revolution ausgebrochen ist, können wir-"
Doch Antonina entwich lauter als geplant ein perplexes "Revolution?" bevor sie es unterdrücken konnte.
Heftig nickte Stanislaw. "Friedrich Wilhelm der Vierte hat heute Mittag auf seine eigenen Leute schießen lassen. Mittlerweile sind in ganz Berlin Barrikaden errichtet worden. Dort herrschen mittlerweile Wiener und Pariser Zustände."
Wer hätte gedacht, dass im Herzen der preußischen Hauptstadt eine Revolution entfacht werden konnte, direkt unter der Nase des Romantikers auf dem Thron? Dabei schien es Antonina jetzt nur wie die logische Konsequenz auf internationalen Druck und die schwelende Glut, die seit den nationalstaatlichen Bestreben der Lützower Jägern und dem Wartburgfest Funken schlug. Dies hier war nicht nur ein Frühling der Völker, es war ein Knall, der die ganze Weltordnung zum Beben bringen konnte.
"Denkst du, der Funke könnte auch hierher überspringen?", hakte sie aufgeregt nach. Wenn die preußische Armee sich so stark mit ihren eigenen Leuten herumschlagen musste, welche Truppen blieben dann noch für die Provinz Posen übrig? Das war ihre Chance.
"Eindeutig", entgegnete er schlagartig, dann zupfte ein Grinsen an seinen Mundwinkeln. "Aber um das zu ermöglichen, brauchen wir einen bestimmten Mann."
Er musste den Namen nicht aussprechen, den zu oft hatte Antonina diesen schon so stark mit hitziger Hoffnung in Verbindung gebracht. Ein einziger Name, der die Herzen unzähliger Freiheitsliebender zum Lodern bringen vermochte.
"Ludwik Mierosławski", sprach sie ihn aus, und als Stanislaw erneut nickte, runzelte sie die Stirn. "Aber momentan ist er noch in Berlin inhaftiert. Letztes Jahr wurde er im Polenprozess immerhin zu Tode verurteilt."
Ihre Zweifel quittierte der Schwarzhaarige nur mit einem glänzenden Lächeln. Seine Brust schien immer mehr vor Stolz anzuschwellen.
"Das wird kein Problem sein", verkündete er feierlich. "Denn Kasimir und ich werden ihn aus dem Zellengefängnis Lehrter Straße befreien!"
Antonina konnte ihr ungläubiges Schnauben nicht zurückhalten.
"Das ist blanker Wahnsinn", protestierte sie und stemmte die Hände in die Hüften. Am liebsten hätte sie seinen Kopf in diesem Moment Bekanntschaft mit der nächsten Wand schließen lassen. "Wenn es stimmt, was du sagst, dann ist Berlin momentan ein reiner Höllenschlund. Sollte man deinen Plan nicht hier aufdecken, wirst du dort eventuell von einem verirrten Geschoss getroffen. Eher gibt Friedrich Wilhelm den Gefangenen eine Amnestie, als dass er zulassen wird, dass jemand aus seinem Mustergefängnis ausbricht!"
Ruckartig blieb Stanislaw stehen und verschränkte die Arme.
"Aber wir brauchen ihn! Wir brauchen einen charismatischen Anführer und jemand, der weiß, wie man kämpft. Aber wenn dieser gefühlsselige Phantast in Preußen weiter die Nerven verliert, lässt er unsere Hoffnung erschießen! Denn die wissen in Berlin auch genau, wie wichtig Ludwik ist. Das Risiko ist es uns wert."
Zähneknirschend ballte Antonina ihre Hände zu zitternden Fäusten.
"Man wird dich füsilieren, wenn man das herausfindet. Dabei wird man gerade in diesen Zeiten die Sicherheit besonders stark ausbauen", versuchte sie es ein letztes Mal mit Vernunft , aber diese prallte nutzlos an ihm ab.
Trotzig erwiderte der Adlige nur: "Besser kämpfend sterben als feige zu leben."
Für einen Moment starrte sie ihn nur verständnislos an, dann seufzte sie frustriert.
"Wie kann ich euch Helfen?"
"Wie bitte?" Er blinzelte verwirrt. "Ich dachte, du wärst-"
"Ich möchte nur dafür sorgen, dass ihr nicht vollkommen unvorsichtig an die Sache herangeht. Ich möchte dich nämlich nicht hängen sehen", erwiderte sie bloß.
Hastig schüttelte er seinen Kopf. "Du musst nicht-", setzte er an, brach aber unter Antoninas frostigem Blick zusammen.
Unzufrieden presste er die Lippen aufeinander.
Vorsichtig beugte Stanislaw sich zu ihr vor.
"Wir haben einen Kontaktmann. In Berlin", berichtete er schnell. "Er ist dahin ausgewandert. Zwar kommt er aus Kongresspole, aber spätestens nach dem Novemberaufstand 1830 hassen die die Russen so sehr wie wir die Preußen. Die Adresse darf ich dir nicht, aber er wird uns vielleicht helfen können, uns wieder aus Berlin zu schmuggeln. Währenddessen brauchen wir aber auch hier Vorbereitung. Flugblätter, Bücher- so etwas. Du kennst dich mi Literatur doch aus, nicht? Schreib etwas, und Kasimir sorgt dafür, dass es insgeheim gedruckt wird, immerhin hat er Anteile an einer Druckerei in Posen. Während du also hier alles in die Wege leiten, befreien wir unseren Anführer."
"Dann könnt ihr auch einfach im Chaos der Barrikadenkämpfe untertauchen", gab sie zu bedenken, nickte aber nach einigen zähen Sekunden. "Wenn ich das Flugblatt abschicke, dann verstreut Kasimir den Verdacht, oder? Er lässt sie nicht offen drucken. Dann lässt sich all das hier nicht zurückverfolgen." Es klang eher, als würde sie sich mit ihren Worten selbst beruhigen wollen. Wenn sie einen Fehler machten, wenn sie hier zu tief drinsteckte... sie würde alles verlieren können. Wieso? Wegen diesem abstrakten Begriff der Freiheit. Wäre Stanislaw nicht der Junge, mit dem sie schon zu Kindertagen Papierbote in die Warthe gelassen hätte, sie hätte ihm wohl eine gescheuert.
"Genau", stimmte der junge Aristokrat zu.
Zweifelnd blickte Antonina zurück. "Wie wollt ihr das überhaupt schaffen? In ein Gefängnis eindringen, meine ich."
"Es ist ein Gefängnis mit Einzelzellen, nicht wahr?", merkte er verschmitzt an. "Noch ist es nicht einmal wirklich fertiggestellt. Und unser Kontaktmann hat zwei weitere Arbeiter für die Bauarbeiten beworben, dazu noch der Trubel eines Aufstands im Herzen des eigenen Landes... Soldaten wird man für andere Dinge brauchen als lausige Gefängnisse."
Noch ein letztes Mal schüttelte die junge Polin den Kopf. Irgendwie lösten diese Worte ein widerwärtiges Gefühl in ihr aus. Ihre Verabschiedung war leise. Sie drückten sich kurz, murmelten wenige Worte, dann strebte sie weiter nach Hause, bis sie vor den vertrauten Schemen ihrer Haustür stand. Holz blätterte ab und Farbe schälte sich von der rauen Oberfläche, aber die karge Einrichtung hinter der maroden Fassade borg viel mehr Schrecken für sie, als bloßer Zerfall von Türen. Dahinter zerfiel ein Mensch. Ein Mensch, den sie mehr liebte als die Freiheit und ihr Leben. Und sie konnte nichts tun außer hilflos zusehen.
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