Neuanfang
Die folgenden Wochen waren völlig chaotisch. Ich war sogar etwas geschockt, von der Unkoordination, die Alexander an den Tag legte. Es gab keinen roten Faden, es gab keine Regelmäßigkeit in unseren Terminen und auch keinen Plan.
Mal stand Alex vor meiner Tür, das andere Mal trafen wir uns im Bagel-Laden um die Ecke oder er sagte mir kurzfristig per SMS ab. Ich hatte mein säuberlich angelegtes Notizbuch für unser Projekt immer dabei. Alex hingegen kritzelte seine Ideen auf einen Bierdeckel, eine Serviette oder was sonst gerade da war. Das führte zum einen dazu, dass seine Notizen entweder verloren gingen oder nicht mehr zu entziffern war, was darauf gestanden hatte und wir mehr oder weniger wieder von vorne beginnen mussten.
Am Anfang konnte ich das alles mit Humor nehmen, doch nach und nach konnten weder Alexanders Witze, noch sein Charme dieses Benehmen wettmachen. Ich war kurz davor, dass mir der Geduldsfaden riss, weil nunmehr fast vier Wochen vergangen waren, ohne dass wir etwas Handfestes fabriziert hatten und ich vor meinem geistigen Auge den Sand rieseln sehen konnte. Wir hatten einen Vertrag unterzeichnet und die Termine darin waren verbindlich. Natürlich hatten wir noch genügend Zeit, doch die Panikstimme in mir betonte nach jedem neuen Treffen, dass wieder nichts Produktives dabei herausgekommen war. Ich wurde nervös. Vielleicht war es übertrieben, doch Jennyfer war nicht hier, um mich zurück auf den Boden der Tatsache zu führen. Ich musste damit nun alleine klarkommen und ich hatte schon einen Plan.
Es war fast vierzehn Uhr, als ich bei Coffee Dreams an einem Tisch am Fenster saß, hinaus auf die Fußgängerpassage blickte und auf Alex wartete. Er war bereits eine Viertelstunde zu spät, nichts Neues, doch die Wut kochte langsam und stetig in mir auf.
Es vergingen weitere fünf Minuten, in denen ich mich tiefer in meine Wut hineinsteigern konnte und mir den restlichen Tagesablauf ausmalte:
Zunächst beisammen sitzen und plaudern im Café; nach drei Stunden feststellen, dass es bereits früher Abend war; zu Pix hetzten, diesem erklären, dass wir noch nicht so weit waren; dann die erbärmlich, zusammengeschusterte Bruchstücke unserer Kompositionen mit Pix abstimmen; beim musikalischen Umsetzen im Studio scheitern; Pix verärgern, mich verärgern, Alex verärgern; resigniert die Arbeit abbrechen; den Abend in Pix' Wohnung ausklingen lassen; viel zu spät ins Bett fallen, um den nächsten Tag so weiter zu machen.
NEIN!
So konnte es nicht weitergehen!
Ich hatte mir wütend eine Haarspange aus den Haaren gezogen und drückte diese zum Öffnen so fest zusammen, dass diese sich unbrauchbar verbog. Missmutig und mit zusammengebissenen Zähnen sah ich auf das kleine Stück Blech zwischen meinen Daumen und Zeigefinger, während ich mich weiter über Alexanders unmögliches Verhalten ärgerte.
„Servus, Joanne!"
Mein Kopf fuhr herum. Wenn Blicke hätten töten können, wäre Alex sicher direkt umgefallen.
„Alles in Ordnung?", fragte er verwundert.
„Du bist zu spät!", zischte ich gereizt und ließ die verbogene Haarspange geräuschvoll in den leeren Aschenbecher fallen.
„Joooar, ist gestern ja'n bisschen später geworden-", begann Alexander, doch ich ließ ihn gar nicht aussprechen.
„So kann das nicht weitergehen, Alex!"
„Oh, Mann!" Es war das resignierte Seufzen eines Mannes, der solcherlei Unterhaltungen scheinbar zur Genüge kannte.
Mit einem finsteren Blick ließ er sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen und zog sein Basecap aus und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Und was schlägst du vor?!?"
Uuuh, wie mich dieser genervte Unterton provozierte, doch ich nahm all meine Selbstbeherrschung zusammen, immerhin ging es bei diesem Disput nicht darum, dass wir stritten. Ich wollte die Probleme beseitigen.
„Ich brauche ein kleines bisschen mehr Alltag. Dieses Chaos der letzten Wochen macht mich einfach wahnsinnig! So kommen wir doch nie zu Potte!"
Alexander schwieg vorwurfsvoll.
„Läuft das immer so bei euch ab?", fragte ich ihn nach einigen Sekunden. „Hier mal'n bisschen gemacht, da mal'n bisschen gemacht und wenn's heut' nicht wird, dann vielleicht morgen?!?"
„Ja, das ist unser Konzept", antwortet Alex schlicht.
Konzept?!?
Ich schnaubte höhnisch und sah dann verärgert zur Coffeebar.
Wir schwiegen uns einige Minuten an und ich hörte nur, wie Alexander sich eine Zigarette anzündete und noch zwei Kaffee bestellte. Offensichtlich hatte die Zigarette ihn nach ein paar Zügen daran beruhigt, denn als er den Stummel im Aschenbecher zerdrückte, fand Alexander auch plötzlich wieder Worte.
„Also, was willst du jetzt konkret ändern?"
Ich sah ihm das erste Mal, seit er heute hier aufgetaucht war, in die Augen. Er erwiderte den Blick ernst, beinahe schon routiniert und ich ignorierte den Kaffee, den er mir zuschob.
„Ich möchte ein wenig mehr Selbstdisziplin, eine gewisse Regelmäßigkeit mit unseren Treffen und", ich zog betont die Brauen zusammen, „Pünktlichkeit!"
Alexander lehnte sich in seinen Stuhl zurück, seufzte und strich sich nachdenklich durch den kurzen Bart. Seine linke Braue hob sich verräterisch und er hatte bereits wieder ein Grinsen im Gesicht: „Letzteres könnte schwierig werden!"
„Alexander!", sprach ich mahnend, da ich durchschaut hatte, dass er nur versuchte, mich zu ärgern.
„Okay, okay, ich geb' ja zu, wir waren die letzten Tage-"
„Wochen!", korrigierte ich.
„Wochen", wiederholte Alex mit einem müden Lächeln, „vielleicht etwas nachlässig. Ich hatte viel um die Ohren, wegen der anderen Jobs – einige Termine, aber damit bin ich jetzt größten Teils durch, denke ich."
Andere Jobs?
Ich spürte, wie ich errötete.
Warum hatte ich daran nicht gedacht? Keiner der Jungs konnte von der Musik leben, zumindest nicht von Eisbrecher allein. Ich wusste, dass Pix für Werbungen und Serien komponierte. Er hatte es mir erzählt, als wir zusammen im Studio waren. Doch warum hatte ich das so vollkommen ausgeblendet?
Wie hatte ich nur so ignorant sein können?
Und nun machte ich auch noch Alex eine Szene, weil dieser nicht genug Zeit für mich hatte?!?
War ich zur Diva verkommen?
„A-a-also, das hatte ich nicht so gemeint", stammelte ich und hoffte, nicht allzu große Ähnlichkeiten mit einer Tomate zu haben.
„Nein, Joanne, du hast recht", unterbrach Alex mich, „vollkommen! Es wird in Zukunft etwas strukturierter ablaufen, okay?"
„Okay", antwortete ich peinlich berührt.
„Gut!", seufzte Alex, nahm einen Schluck Kaffee und sagte: „Dann wäre ja alles geklärt."
„Nicht ganz", gestand ich.
Seine Miene versteinerte. Ich unterdrückte ein Grinsen, zog ein gebundenes, jungfräuliches Notizbuch aus meiner Tasche und schob es über den Tisch auf Alex zu.
„Bitte schreib in Zukunft deinen Kram da 'rein!"
Alexander lachte erleichtert und stellte seine Tasse ab und meinte: „In Ordnung!"
„Und ... es tut mir leid, wenn ich... wenn ich etwas katzig war."
„Ach, was", er tat meine Entschuldigung mit einer Handbewegung ab und lächelte süffisant, „das bin ich gewohnt."
Wir lachten gemeinsam. Meine Wut war verraucht und zurück blieb nur eine aufgeregte freudige Joanne voller Tatendrang.
„Also, erzähl mir von deinen Nebenjobs? Was macht ein Rockstar, wenn er nicht gerade auf der Bühne steht?"
„Ein bisschen Werbung, ein bisschen Schreiben, Auflegen – was mir die Agentur halt 'raussucht." Er zwinkerte mir zu und nickte zu der Tasse Kaffee, die ich bisher ignoriert hatte.
Ich nahm sie dankbar an und lächelte freundlich.
„Apropos auflegen. Wollte nicht deine Freundin mal herkommen für ein Wochenende?"
„Ja", bestätigte ich und nahm einen Schluck Kaffee, „aber wir haben noch keinen passenden Termin gefunden."
„Dann wird's allmählich Zeit! In vier Wochen startet ein Megaevent im Moonlight", sagte Alexander verschwörerisch. „Ich könnte uns Tickets besorgen."
„Ein Megaevent?", hakte ich nach.
„Ja, Asp ist dort und legt dann auf. Du kennst Asp?"
Mein Herz blieb fast stehen.
„Ob ich Asp kenne!?! Er ist mein Mentor! Ohne ihn müsste ich vermutlich noch meine Musik auf eine Online-Plattform ins Internet stellen, damit sie jemand hören kann! Oh je, ich hab ihn schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen."
„Na dann", grinste Alex, „ist das ja der perfekte Anlass!"
„Und ob!"
„Abgemacht, Samstag in vier Wochen!"
„Jeeeeahr, ich muss Jen sofort anrufen!", jubelte ich, zog mein Handy aus der Tasche und hatte schon fast ihre Nummer gewählt, als sich Alexanders große Hand über meine legte.
Überrascht sah ich auf.
„Das kann auch noch warten bis heute Abend", meinte er ernst, „wir wollten doch heute noch etwas arbeiten."
Mein Blick traf seinen und eine angenehme Wärme breitete sich in meinem Innern aus.
„Stimmt, dann schlag schon 'mal dein Notizbuch auf!"
Alexander gehorchte mit einem Lächeln. Ich hatte ein gutes Gefühl nach diesem Gespräch und mir war so, als ginge es Alex genauso.
Und es wurde tatsächlich besser.
Alexander hielt all seine Versprechen. Er war pünktlich, er war konzentriert und er hatte wirklich begonnen, das Notizbuch von mir zu verwenden. Ich war zufrieden, auch etwas euphorisch, denn nun, da wir endlich einen Anfang gefunden hatten, ging es uns wesentlich einfacher von der Hand.
Bald darauf hatten wir sogar einen der Texte fertig und ich konnte es kaum erwarten, mit den Jungs im Studio zu stehen. Alexander hingegen zog sich etwas. Es kam mir fast so vor, als würde er sich davor drücken, doch so lange die Texte noch nicht den Endschliff hatten, konnte ich das akzeptieren.
Ich nahm seinen Vorschlag, mit Pix die Vorarbeit im Studio zu machen gerne an. Immerhin kannte Alexander die Prozedur schon in- und auswendig. Es würde mir also nicht schaden, mich vorab mit Pix' Arbeitsablauf vertraut zu machen.
So kam es, dass wir Samstagvormittag im Studio zusammensaßen, um etwas Brauchbares aus unserem Text zu machen. Jürgen und Dodo leisteten uns Gesellschaft und unterstützten Pix in den Einweisungen, bevor ich im Aufnahmeraum verschwand.
Und es lief phantastisch, nur die Tatsache, dass Alex nicht anwesend war, um seinen Part zu übernehmen, trübte ein wenig meine Stimmung. Doch ich überspielte dies professionell.
„So, das reicht, du kannst 'rauskommen und es dir anhören, Jo!" Dodo stand in der Tür, gestikulierte wild mit seinem Armen und deutete mir ihm zu folgen.
Ich legte den Kopfhörer ab, hing ihn an seinen Platz, trat zu den Jungs in den Kontrollraum und nahm dankbar die Flasche Wasser an, die Matthias mir parat hielt.
„Alex wird sich noch wundern", feixte Pix und spulte zurück, „er wird sich ganz schön anstrengen müssen, um mit deiner Stimmgewalt mithalten zu können."
„Meinst du, er hätte sich besser 'nen anderen Duettpartner ausgesucht?", witzelte ich und überspielte die Verlegenheit, die Jochens Kompliment in mir auslöste.
„Nee, Alex hätte sich sonst niemals 'nen Duettpartner ausgesucht!"
„Dass, der Checker sich plötzlich die Bühne teilt, hat mich allerdings auch sehr überrascht", mischte sich Dodo ein, „aber mit 'ner Frau fällt's ihm bestimmt leichter."
Die Jungs lachten – mir war das Lachen vergangen.
„Wie meinst du das denn?", fragte ich nun sichtlich verunsichert.
„Na, unser Alex ist 'ne Rampensau." Jürgen grinste. „Der will das Publikum für sich alleine haben."
„Aber Joanne ist ja auch keine Konkurrenz, sie ist wie", Dodo suchte nach Worten und errötete, als ich ihn ansah und kritisch eine Braue hochzog, „wie ... wie eine Art Geschmeide "
„Danke!", entgegnete ich pampig und kniff die Augen zusammen.
Pix und Jürgen brachen in schallendes Gelächter aus und Dodo versuchte, sich verzweifelt aus dem Fettnäpfchen zu winden: „Nein, so meinte ich das auch nicht – also nicht abwertend! Es ist wie bei Jessica – so eine Art Upgrade."
„Upgrade!?!", prustete Jürgen los und hielt sich den Bauch vor Lachen, während Dodos Gesicht ein dunkles Rot annahm.
„Red' dich nur noch tiefer 'rein, Dodo!" Betonte ich und gab mir alle Mühe dabei sauer zu wirken, was angesichts des Gelächters von Jochen und Jürgen wirklich schwierig war.
„Also nein ... ja ... ich mein das ja anders – nicht ", Dodo begann, zu stottern, und nun konnte ich mir das Lachen endgültig nicht mehr verkneifen.
„Nein, schon klar! Ich bin nur ein hübsches Detail, an Alex' Seite – sozusagen ein Set-Upgrade – hab's verstanden."
Die Jungs kringelten sich vor Lachen und ich stimmte mit ein. Dodo entspannte sich etwas und zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln, als er merkte, dass ich gar nicht wirklich sauer war.
Es dauerte ein paar Minuten, bis wir wieder mit der nötigen Ernsthaftigkeit bei der Sache waren, aber Jürgens Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich erinnerte mich nur noch wage an den Auftritt beim Festival, an dem ich die Jungs das erste Mal live erlebt hatte. Doch Alexanders Charisma war mir in Erinnerung geblieben – oder glaubte ich mich nur daran zu erinnern, weil ich ihn nun kannte?
„Die Studioarbeit ist nicht so sein Ding, hm?", warf ich wie nebensächlich in die Runde und meine Vermutung wurde von Jürgen bestätigt.
„Nein. Er quält sich hier immer. Alex ist für die Bühne gemacht."
„Dabei jammert er uns zuvor immer die Ohren voll und macht alle verrückt mit seinem Lampenfieber", ergänzte Dodo und fuhr grinsend fort: „Aber wenn er auf der Bühne ist, dann macht ihm keiner 'was vor!"
„Er braucht halt einfach das Publikum", schloss Jürgen.
„Die glänzenden Augen und schmachtenden Blicke der Frauen nicht zu vergessen!", Matthias lachte.
„Jaja, Alex und die Frauen – das ist ein Thema für sich."
Jürgen und Dodo grinsten sich vielsagend an, das war mir nicht entgangen. Pix dagegen riss die Packung eines Schokoriegels auf und biss herzhaft hinein, ohne den Erzählungen seiner Bandmitglieder Beachtung zu schenken. Die allerdings hatten mich neugierig gemacht und die folgende Frage, geisterte mir schon lange im Kopf herum.
„Wie lange kennen er und Jessica sich denn schon?", hakte ich nach.
„Wie lange? Ich glaub, seit fünf Jahren sind sie schon zusammen", plauderte Jürgen darauf los und wurde von Dodo unterbrochen.
„Nun ja, zusammen würde ich das nicht gerade nennen. Das ist doch nur 'ne..."
„Wohngemeinschaft", mischte Pix sich ein.
„Fickbeziehung, meinst du wohl."
„Danke, Jürgen. So schamlos wollte ich es im Beisein der Dame eigentlich nicht ausdrücken." Matthias' Gesicht nahm wieder diesen leichten Rosaton an.
Jürgen lachte schallend und sagte: „Manchmal glaube ich, dass Jessy nur sein Alibi ist, wenn ihn Groupies nachstellen, auf die er keinen Bock hat."
Pix schwieg und widmete sich seinem Computer.
„Aber naja, so ist halt unser Checker, was soll man machen?"
„Vielleicht wieder auf die Arbeit konzentrieren", antwortete Pix finster und mit eindeutig tadelndem Unterton.
Die beiden Jungs tauschten kurze Blicke und Jürgen zuckte mit den Schultern.
Ich war etwas peinlich berührt und versuchte tunlichst, den Blickkontakt zu Jochen zu vermeiden. Ich hatte nicht so tief in Alexanders Privatsphäre eindringen wollen und irgendwie war es mir unangenehm. Pix schien es genauso zu gehen.
„Also, ich würd' sagen, die vorletzte Strophe ist noch nicht ganz stimmig", sagte Jürgen schließlich und ich war erleichtert über den Themenwechsel.
Es fiel mir nicht schwer, mich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren. Es war mein Metier und die kleine Unannehmlichkeit, war schnell vergessen. Zumindest für's Erste.
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