Generalprobe

Vor der Generalprobe war ich furchtbar aufgeregt. Zu Recht wie ich feststellte, als ich an der alten Sporthalle ankam. Alexanders Laune war fast unerträglich und die Anspannung, die in der Luft lag, war geradezu greifbar.

Ich kündigte meine Anwesenheit mit einem gespielten Lächeln und einem zaghaften ‚Hallo' an. Die Jungs grüßten mich alle freundlich – alle, bis auf Alex.

In meinem Magen bildete sich ein flaues Gefühl und ich fühlte mich ziemlich unwohl in meiner Haut.

Nach einem knappen Teamgespräch, das ich nur stumm verfolgte, nahmen wir unsere Plätze hinter der Bühne ein und warteten auf das Zeichen des Lichttechnikers.

Das Intro wurde eingespielt, die Nebelmaschinen zischten laut. Es vergingen einige Sekunden, bis die Musiker im Dunkeln ihre Plätze an ihren Instrumenten eingenommen hatten und Alex und mich alleine zurückgelassen hatten. Dieser würdigte mich keines Blickes, während er auf seinen Einsatz wartete und die Bühne betrat.

Rote Lichtstrahlen erhellten die Bühne und verstärkten das Pochen des Intros, welches immer stärker an einen Herzschlag erinnerte.

„Stellt euch vor, wie das Publikum ausrastet", kommentierte Jan, der Tontechniker, „Jubel!!!"

Alex' tiefe Stimme erklang.

Mein Herz schlug einen Takt schneller und meine Nackenhärchen stellten sich auf. Nach ein paar einleitenden Zeilen verstummte Alex wieder. Das Intro wurde stärker. Das Pochen des Herzschlages langsamer, immer langsamer ... und dann setzte es aus. Das penetrante Piepen eines Elektrokardiogramms erklang: Es war mein Signal.

Etwas unbehaglich schritt ich auf die beleuchtete Bühne. Mit einem falschen Lächeln bewaffnet und ohne mir meine Unsicherheit anmerken zu lassen. Ich sah hinüber zu Alexander, der auf mich deutete, ohne mich anzusehen und sagte: „Takhisis".

„Wieder Jubel!", kommentierte Jan erneut.

Als ich die Stelle erreichte, an der mein Mikro stand, erstarb das furchtbare Piepsen und der Herzschlag setzte wieder ein. Langsam und gleichmäßig. Es war ein Neuanfang.

Ein Neuanfang nach dem ich mich so sehr sehnte.

Herzblut", sagte ich und kündigte damit den ersten Titel an.

Achim startete den Takt mit dem Schlagzeug, das Intro wurde leiser und erstarb und mit ihm meine Unsicherheit.

Der erste Song hatte begonnen: Mein Job hatte begonnen und darin ging ich eben völlig auf. Doch schon nach dem ersten Lied hatte ich die Veränderung bemerkt und ich war mir sicher, dass sie auch den Jungs nicht entgangen war.

Alex zog sein Ding durch, ohne Leidenschaft und mit einer Kälte, die mich frösteln ließ.

Selbst die Showeinlagen, die wir miteinander teilten, ratterte er herunter, als sei es eine lästige Pflicht. Es dauerte keine Viertelstunde, da hatte er sich das erste Mal mit Pix in den Haaren.

„Hey, hey, hey", versuchte Jan zu schlichten, bevor der Streit ausartete, „was meint ihr, wie ihr die Fans mit diesem Zoff verunsichern würdet?" Er lachte schelmisch, doch irgendwie war niemand anderem aus der Band nach Lachen zumute, einschließlich mir.

„Reiß dich ma' zusammen, Alex!", fauchte Pix und widmete sich wieder seiner Gitarre.

„Ach, halt's Maul!", antwortete Alexander nur und wandte seinem Freund den Rücken zu.

Pix hatte gar nicht reagieren können, denn Achim und Domi spielten den nächsten Song an und so war auch er gezwungen einzustimmen. Ich war so schockiert über diese Reiberei gewesen, dass ich glatt meinen Einsatz verpasste.

„Joanne?!?", tadelte Jan mich durch sein Mikro und zog mich wieder in die Realität.

„Sorry!" Meine Wangen wurden heiß und ich atmete einmal tief durch, um meine Konzentration zu sammeln, und nahm den Faden wieder auf.


Die Probe verlief weiterhin so schlecht, wie sie begann und ich hatte das ungute Gefühl, dass ich daran schuld war. Die schlechte Laune des Frontmanns zog auch den Rest der Band hinunter und selbst Jan hatte aufgegeben die Stimmung aufzuheitern.

Schließlich leierten wir die Songs der Reihe nach herunter, einschließlich der Zugabe. Ich war heilfroh, dass unser Vorspielen vor A.I.M. besser gelaufen war, denn wenn die Manager Zeugen dieses Trauerspieles gewesen wären, das wir heute ablieferten, hätten diese sicherlich alle Liveauftritte gecancelt.

„Na gut, das war's!", sagte Jan nach gut zwei Stunden. „Jeder hat mal einen schlechten Tag. Lernen wir daraus und machen es bei der Tour besser!"

„Amen!", stichelte Alex und steckte sein Mikro zurück in den Halter.

„Was ist dir schon wieder passiert, dass du heute so ein Arschloch sein musst, Alexander?" Pix hatte wütend seine Gitarre abgestellt und sah nun kaum mehr weniger zornig aus wie Alex.

„Das geht sich 'nen Scheißdreck an, Pix!", zischte der Frontmann böse.

„Und ob mich das 'was angeht! Und jeden anderen in diesem Raum auch! Vielleicht ist es dir entgangen: Das war die Generalprobe!"

„Ja und? Was zählt das schon? Es läuft doch sowieso immer alles anders in diesem scheiß Leben!"

„Hör' endlich auf, dich selbst zu bemitleiden! Das steht mir nämlich hier oben!" Pix machte eine wütende Geste.

„Ach, fick dich doch einfach, Pix!"

Alexander drehte sich um, den Mittelfinger in Jochens Richtung haltend und rauschte davon. Ich war einen Moment wie gelähmt. So heftig hatten sich die beiden noch nie gestritten und das ausgerechnet eine Woche vor Tourbeginn. Zudem kam mein schlechtes Gewissen zurück. Ich war zweifelsfrei schuld an Alexanders übler Laune, weil ich einfach nicht meine Klappe hatte halten können. Von Wut und Frust verführt und dabei so taktvoll wie ein Backstein. Das war ein Talent, das ich immer mal wieder an den Tag legte und mit dem ich schon einige meiner Liebsten gekränkt hatte.

Ich dachte an meine Worte zurück und mir wurde erneut mulmig.

Zumindest eine Entschuldigung war fällig, denn ganz offensichtlich hatte ich den ‚Checker' tiefer getroffen, als ich es beabsichtigt hatte.

Ich beachtete die verwunderten Blicke der Jungs nicht, als ich Alex nachlief. Ich eilte zum Parkplatz und entdeckte ihn, als er schon fast an seinem Auto war.

„Alex!" Er schenkte mir keine Beachtung. „Warte! Alexander!"

Ich erreichte den Wagen gerade, als die Knöpfe durch die Zentralverriegelung hochsprangen.

„Bitte! Nur einen Augenblick." Etwas muss in meiner Stimme gewesen sein, dass ihn innehalten ließ, denn Alex stieg nicht ein. Er sah mich jedoch auch nicht an, sondern kramte seine Brille aus der Brusttasche, setzte diese auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich musste keuchend nach Luft schnappen, als ich die Fahrerseite erreichte. Der kurze Sprint hatte mich ausgelaugt und mein Herz zum Rasen gebracht.

„Es tut mir leid", begann ich mit zittriger Stimme, „was ich gestern zu dir sagte ... und wie ..."

„Muss es nicht, Joanne", antwortete er, ohne mich anzusehen. „Weißt du, du bist nicht die erste Frau, die auf meinen Gefühlen herumtrampelt und du wirst mit Sicherheit nicht die Letzte sein."

Es war ein gezielter Schlag und mir wurde augenblicklich übel und ich spürte Trotz in mir aufsteigen.

„Allerdings hat Pix Recht mit seiner Aussage", brachte ich heiser hervor und räusperte mich. „Das war ein mieser Abschluss so kurz vor der Tour!"

„Scheiß auf die Tour, Joanne!", fuhr Alex mich an, dass ich zusammenzuckte. „Das geht mir gerade so'was von am Arsch vorbei!"

Ich nahm die Lautstärke seiner Worte gar nicht wahr. Zu geschockt war ich von der Aussage. Es dauerte einige Atemzüge, bis ich mich gefangen hatte.

Ich zitterte vor Wut und Entsetzen. War Alex wirklich so kurz davor, alles hinzuschmeißen? Hatte er auch nur ansatzweise eine Ahnung davon, welche Konsequenzen das hätte?

Ich schluckte Angst und Empörung hinunter, doch meine Stimme war bei Weitem nicht so selbstsicher, wie ich das wollte.

„Du willst die Tour schmeißen, wegen ... wegen so einer Lappalie?" Mein Herz klopfte wild und unkontrollierbar. „Das ist ein Vertragsbruch. Hast du eine Ahnung davon, wie hoch der Schadensersatz für A.I.M. ausfallen würde? Dagegen ist die Bonuszahlung für den Platz 1 Hit ein Witz!"

Alexander hatte die Ellenbogen auf das Autodach gestützt und fuhr sich mit beiden Händen über den kahlen Schädel. Es verging eine gute Minute, in der keiner von uns beiden sprach und in der ich ihn genau beobachtet hatte. Dann wandte ich meinen Blick ab. Ich konnte es nicht ertragen ihn so zu sehen und ich verabscheute mich für die harten unfairen Worte, die ich ihm an den Kopf geschmissen hatte.

Mein Magen zog sich unangenehm zusammen bei dieser Erinnerung. Wie hatte ich nur so widerlich sein können?

„Ich weiß nicht", sagte Alex plötzlich und ziemlich leise, „ob du verstanden hast, was ich dir gestern hab' sagen wollen, Jo: Dass ich mich in dich verliebt habe."

Mein Herz machte einen verräterischen Hüpfer und doch wandte ich mich kopfschüttelnd ab. Meine Kehle war wie zugeschnürt und ich schloss für einige Sekunden die Augen.

Ich wollte es nicht hören! Ich wollte es nicht fühlen und doch quälte ich mich nun schon seit einigen Monaten mit diesem Gefühl. Aber nun hatte sich alles geändert und es stellte meine Entscheidung auf eine harte Probe.

Ich ging um das Auto herum, ohne mir dessen bewusst zu sein. Viel zu vertieft war ich in meiner eigenen Gedankenwelt.

Es war alles einfach nicht so leicht, wie es aussah. So viele Dinge sprachen dagegen. So viele Dinge, die uns trennten. Selbst wenn ich Vertrauen finden würde und Alex seinen freizügigen Lebensstil für mich aufgab. Selbst dann gab es noch Differenzen. Wenn der Vertrag auslief und unsere Geschäftsbeziehung endete, was verband uns dann noch?

Er wohnte so viele Kilometer von der Heimat weg, die ich so sehr liebte. Er hatte eine völlig andere Lebensart und nicht zuletzt trennten uns fast dreizehn Jahre. Was würde meine Familie zu ihm sagen, meine Freunde?

Mein Innerstes krampfte sich schmerzhaft zusammen. Warum konnte ich nicht einfach ein bisschen mehr sein wie Asp? Wie sehr ich ihn immer für seine selbstbestimmte und introvertierte Art bewundert hatte, während ich selbst mich immer allen Regeln, Etiketten und Gesetzen gebeugt hatte. Ich war nicht so stark wie Asp und vermutlich würde ich das auch nie sein.

Ich seufzte und lehnte mich auf der Beifahrerseite gegen den Wagen und stützte mich mit den Ellenbogen – wie Alex – ab. Ich sah ihn an und bemerkte, dass er mich wohl die ganze Zeit beobachtet hatte und der Ausdruck in seinem Gesicht verriet mir, dass er auch von dem Kampf mit meinen inneren Dämonen wusste.

„Es geht hier nicht um dich oder mich, Alex", sagte ich schließlich bestimmt und sah dem Frontmann in die Augen.

Zum ersten Mal, seit wir uns gestritten hatten, erwiderte er den Blick.

„Es geht um die Band, um unser gemeinsames Projekt und um den Vertrag, den wir zu erfüllen haben!"

Alexander nickte zustimmend, blieb jedoch stumm.

„Ich wollte dir lediglich sagen, dass es mir aufrichtig leidtut, was ich gesagt habe. Das war nicht fair, ich war überrumpelt und ... und ... ich hatte versucht ... Versucht mich zu ... mich zu", ich suchte nach den rechten Worten, doch sie wollten mir einfach nicht über die Lippen kommen.

„Schon ok, Joanne. Entschuldigung angenommen."

Ich zwang mich zu einem Lächeln, als mir seine Worte zu Beginn dieses Gesprächs wieder einfielen. Meine Wangen begannen zu Glühen und doch wollte ich das noch loswerden: „Ich wollte dich wirklich nicht verletzten, Alex!", flüsterte ich reumütig.

„Schon gut."

Eine peinliche Stille folgte und es war an der Zeit, sich zu verabschieden. Ich klopfte leicht auf das Blechdach des Autos und raffte mich auf.

„Na, dann. Schon dich noch ein bisschen vor der Tour, Alex!"

„Mach' ich. Erhol' dich gut, Joanne!"

„Danke!" Dieses Mal war es ein ehrliches Lächeln, wenn auch peinlich berührt. „Bis nächste Woche."

„Tschüss, Jo."

Ich drehte mich um und ging zurück zum Proberaum. Dabei bildete ich mir ein, Alexanders Blick in meinem Rücken zu spüren, doch die Autotür schlug zu. Der Motor startete und als ich mich auf der Türschwelle umwandte, konnte ich den grauen Wagen noch hinterhersehen.

Das würde eine einsame Woche werden, dessen war ich mir sicher.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top