Das Abschlusskonzert

Ich weiß gar nicht mehr, wie lange wir da gesessen hatten, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Die Zeit verging unerbittlich und ich kam erst wieder bewusst zu mir, als wir vor den großen Toren der Arena standen. Ich hatte Angst. Angst vor dem Auftritt, Angst vor allem, was danach sein würde und ich war froh, dass Jen an meiner Seite war. Sie schleppte mich schließlich ins Hotel, um mich auf Abstand von den ganzen Vorbereitungen zu halten und so konnte ich mir noch ein paar ruhige Stunden vor dem finalen Auftritt gönnen.

Ich nahm genüsslich ein Bad und lungerte so lange es ging im Bett herum und hatte während der ganzen Zeit immer Asp's ‚Und wir tanzten' im Kopf.

Schließlich war es an der Zeit, zurück zur Arena zu fahren, wo meine Stylistin Stephanie bereits auf mich wartete. Von dem Trubel und der gewohnten Hektik bekam ich dieses Mal nichts mit. Jennyfer hatte dafür gesorgt und managte alles, auf eigene Faust – ich liebte sie einfach dafür.

Mit jeder weiteren Minute stieg meine Nervosität. Ich wusste, dass sie mit dem Augenblick verschwand, sobald ich die Bühne betrat. Doch noch war es nicht so weit.

Ich hörte von der Garderobe aus das Jubeln der riesigen Menge, während unsere Vorband sie aufheizte. Und spürte, wie ich zu zittern begann und mir wurde abwechselnd heiß und kalt.

„Joanne!" Jennyfer schnippte mit ihrem Finger vor meinen Augen, um mich zurück ins Diesseits zu bringen.

Ich fixierte sie, doch mein Herz klopfte weiter so heftig. Sie war gerade vom Backstagebereich zurückgekommen und sah noch ein wenig abgehetzt aus.

„Schau nicht so wehleidig: Du liebst deinen Job!"

Ich sah sie ungläubig an, ohne sie wirklich wahrzunehmen, weil ich lauschte, wie weit die Vorband war, um festzustellen, wie viel Zeit mir noch blieb.

„Mir ist so schlecht, Jen", gestand ich schließlich.

„Stell dich nicht so an", Jennyfer lachte, „es ist zu spät, Jo. Du brauchst jetzt nicht beim letzten Gig mit Lampenfieber anzufangen!"

„Du hast leicht reden! Du stehst ja nicht da oben vor neuntausend Leuten!"

„Fast zehntausend", korrigierte meine Freundin mich.

„Danke, Jen!" Ein Schauer lief mir über den Rücken.

„Du und Alex, ihr rockt schon das Haus, da habe ich gar keine Bedenken. Nicht nach den Auftritten, die ihr bereits hingelegt habt."

Alex.

Mein Magen krampfte sich schmerzlich zusammen, doch ich schob jeden unangenehmen Gedanken zur Seite. Das musste am Lampenfieber liegen.

Die Wände erzitterten und ich sah beunruhigt zur Decke. Die Vorband hatte ihr letztes Lied gespielt, nun blieben mir noch genau dreißig Minuten, denn so lange dauerte es, bis die Bühne umgebaut war.

„So letzter Check, Joanne!" Stephanie war zu uns gekommen, um mein Make-up noch einmal aufzufrischen. „Jetzt wird's ernst", sagte sie munter.

Mir war einfach nur speiübel und ich ersparte mir jegliche Kommentare.

Jennyfer packte mich schließlich irgendwann, zog mich vom Stuhl und führte mich auf den Gang, die Treppen hinauf in den Backstagebereich. Meine Aufregung erlangte den Höhepunkt angesichts des Bildes, das sich mir hier bot. Techniker wuselten umher. Die Kameraleute, die für die Aufnahmen der Live-DVD zuständig waren, nahmen ihre Plätze im Graben ein. Securityleute waren via Funkgerät am Kommunizieren und die Veranstaltungsmanager prüften, ob alles seine Richtigkeit hatte.

Ich sah nur, wie Alex bei den Jungs im Gewusel stand, ohne mir viel dabei zu denken. Achim hatte seine Drumsticks in der Hand und sprach leise mit Domi. Ich konnte ihre Anspannung selbst auf die Entfernung sehen. Ich war also nicht alleine mit dem Gefühl, selbst Pix blickte ernst in die Runde der Jungs.

Das Licht auf der Bühne ging aus. Die Menge brüllte und brachte die Bühne zum Beben. Ich sah ängstlich zu Jennyfer, die noch immer eisern meinen Arm umklammerte. Das Intro wurde eingespielt. Der Applaus wurde stärker. Mein Herz klopfte heftig.

Die Jungs verschwanden aus meinem Blickfeld, um ihre Plätze auf der Bühne einzunehmen, und sie ließen Alexander alleine zurück. Er stand am rechten Eingang, umklammerte die Rehling mit seinen Händen und lauschte. Unsere Blicke begegneten sich.

Er lächelte knapp, nickte mir aufmunternd zu, doch auch er sah nervös aus. Dann kam sein Zeichen und er verschwand auf der Bühne. Der Lärm, den das Publikum veranstaltete, schwoll zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen an.

Jennyfer führte mich zu dem linken Eingang. Es war mir fast, als stände ich neben mir. Alle Bewegungen liefen automatisch ab wie ein Computerprogramm. Ich prüfte den Sitz meines Outfits, steckte mir den Knopf ins Ohr und setzte einen Fuß auf die erste Stufe, während ich zitternd auf mein Zeichen wartete.

Dann war es da, ich verstand nicht mehr, was Jen zu mir sagte, sondern schritt auf die Bühne, trat ins Licht der Scheinwerfer und sah hinab in die gigantische Menge. Ihr Jubel war atemberaubend, die Luft vibrierte und mein Lampenfieber war mit einem Mal wie weggewaschen.

Alex' Stimme drang an meine Ohren, so vertraut. Meine Nackenhärchen stellten sich unweigerlich beim Anblick der Menge und ich musste lächeln. Ich liebte dieses Gefühl, es war mit nichts anderem vergleichbar, das ich kannte. Dieser Moment war der Grund, warum ich Musik machte, warum ich mich all die Stunden durch stressige Meetings und nervenaufreibende Verhandlungen quälte. Dieser Moment war es Wert, denn er galt nur mir – und dieses Mal auch Eisbrecher.

Herzblut!", flüsterte ich ins Mikrofon, um den ersten Song anzukündigen.

Achim stimmte den Takt mit dem Schlagzeug an und die Jungs schlossen sich ihm an.

Es würde jener Auftritte sein, die mir für immer in meinem Gedächtnis bleiben sollten. Nicht weil es der Letzte war, sondern weil es der beste der gesamten Tour sein würde, das spürte ich bereits nach den ersten Liedern. Wir alle waren mit unserem Herzblut bei der Sache. Jeder Einzelne gab sein Bestes und das Publikum dankte es uns.

Wir rockten die Arena, wie ich es zuvor nicht erlebt hatte, heizten uns gegenseitig auf und brachten uns in Hochform und legten eine einzigartige Performance an den Tag. Es war einfach perfekt.

Wir hatten die Hälfte der Songs hinter uns, als eines meiner lieblings Live-Acts dran war. Ich mochte dieses Lied besonders, weil er sich einfach super performen ließ:


Alex:

„Ja genau, ich bin der eierlose Heuchler.
Ja genau, ich bin das bodenlose Fass.
Ja genau, ich bin dein lebenslanger Täuscher,
der dich verletzt und den du gerne hasst."


Ich:

„Ja genau, ich bin die käufliche Hure.
Ja genau, ich mach die Beine breit.
Ja genau, ich bin 'ne hässliche Furie,
die dich infiziert mit ihrer Grässlichkeit."


Alex kam auf mich zu und ich wandte mich von ihm ab, ging zur linken Seite der Bühne und er folgte mir.


Alex:

„Ja genau, du weißt, was mal gut war.
Ja genau, das muss immer so bleiben.
Ja genau, es soll regieren immerdar-"

Ich drehte mich mit gespielter Wut zu ihm um und sang, mit einem unangenehmen Ziehen in der Magengegend:


„Nur willst du's immer wieder mit 'ner and'ren Schlampe treiben!"


Alexander setzte seinen Part fort, während mir unangenehm bewusst wurde, wie passend die Worte aus seinem Mund waren und hoffte inständig, dass ihm die Parallelen nicht aufgefallen waren, als ich meinen Platz am Mikro einnahm, um gleich den Refrain anstimmen zu können.

Das war sein Signal umzukehren und in die entgegengesetzte Richtung von mir zu gehen, während er weiter sang:


„Ja genau, ich bin der schwanzlose Bastard.
Ja genau, ich bin die endlose Qual.
Ja genau, du bist mein lebenslanger Ratschlag.
Das Kleingeistliche wär mein Gral."


Ich:

„Zwanzig Jahre lang
hast du dich an mich gehängt.
Ich hatte dir sogar mein Wesen geschenkt.
Zwanzig Jahre lang."

„Nun willst du mir verbieten
mit Herz zu singen?
Lieber werde ich mich selbst umbringen"


Beide:

„Es ist egal, wer dich umgibt,
es ist egal, was dir befiehlt.

Es ist egal, auf wen du baust,
es ist egal, wer dich beraubt.

Es ist egal, wer dich verschreit,
es ist egal, was dir bleib!

Es ist egal!"


Ich:

„Ja genau, ich bin der schwanzlose Bastard
Ja genau, ich bin die endlose Qual.
Ja genau, du bist mein lebenslanger Ratschlag"


Alex:

„Ja genau!"


Ich:

„Ja genau!"


Alex:

„Ja genau, ich bin das angehäufte Böse.
Ja genau, ich zieh dich mit hinab.
Ja genau, du willst mich eigentlich erlösen,
doch dafür bist du viel zu schlapp!"


Ich:

„Zwanzig Jahre lang
hast du dich an mich gehängt.
Ich hatte dir sogar mein Wesen geschenkt.
Zwanzig Jahre lang."


Alex:

„Zwanzig Jahre lang."


Ich:

„Zwanzig Jahre lang."


Alex:

„Zwanzig Jahre lang.
Nun willst du mir verbieten
mit Herz zu singen?
Lieber werde ich mich selbst umbringen!"


Beide:

„Es ist egal, wer dich umgibt,
es ist egal, was dir befiehlt.

Es ist egal, auf wen du baust,
es ist egal, wer dich beraubt.

Es ist egal, wer dich verschreit,
es ist egal, was dir bleibt.

Es ist egal, wer dich verführt,
es ist egal, was dir gebührt."


Alex:

„Total egal!
Ja genau, ich bin dein größter Fehlschlag.
Ja genau, du bist durch mich kaputt.
Ja genau, nur durch meinen Beitrag,
schicke mir getrost all deine Wut!

Ja genau, ich kann sie verwandeln,
ja genau, in Gleichgültigkeit.
Ja genau, du musst nicht mal handeln
dafür gibt's noch so – viel – Zeit!"


Ich:

„Es ist egal!"


Der Song war vorbei und die Melodie klang nach, doch sie ging nicht zu Ende. Die Band spielte weiter, doch die instrumentale Besetzung war ausgedünnt und viel leiser als zuvor. Die Aufregung pulsierte plötzlich wie ein Feuersturm in mir. Etwas lief nicht nach Plan. Ich versuchte, mir diese Unsicherheit nicht anmerken zu lassen und warf einen verunsicherten Blick zur Band im Hintergrund, als Alex das Mikro an die Lippen hob und weitersang.


Alex:

„Ja genau, das muss nicht immer so bleiben.
Ja genau, es ist wirklich und wahr!"


Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter und ich war zur Eissäule erstarrt. Alexander kam zielsicher auf mich zu, sang dabei weiter, ohne sich beirren zu lassen.


Alex:

„Ja genau, ich bin bereit, um dich zu kämpfen.
Ja genau, ja genau."


Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich mir seiner Worte bewusst wurde. Ich nahm nichts mehr um uns herum wahr. Zu überrascht war ich, zu schockiert. Er blieb vor mir stehen und sang, als ob diese Worte nur für mich bestimmt waren. Unsere Blicke begegneten sich und ich begann, zu zittern.

Seine braunen Augen glitzerten im Licht der Scheinwerfer und sie schienen direkt in meine Seele zu blicken. Wie lange es her war, dass ich so etwas gefühlt hatte.


Alex:

„Dreihundert Tage lang
hat uns einfach nichts getrennt.
Ich hatte dir sogar mein Wesen geschenkt."


Nur noch wenige Zentimeter war er entfernt. Wenige Zentimeter und doch kam es mir vor wie ein unüberwindbares Hindernis. Die Musik verstummte. Es war allein Alexanders Stimme, die die Arena mit den tausenden von Menschen füllte.


Alex:

„Und nun willst du mir verbieten
mit Herz zu sehen?
Lieber werde ich mich selbst umbringen!"


Stille.

Alexander ließ sein Mikrofon sinken. Mein Herz hämmerte so laut in meiner Brust, dass ich glaubte, man müsste es hören können. Das Publikum starrte gespannt und still zu uns hinauf. Es war ein geradezu magischer – ein zeitloser Moment.

Jedes Wort von ihm war in meinen Geist gedrungen. Jedes einzelne Wort.

Warum war ich bloß so unglaublich stur?

Nur wer sich öffnet für den Schmerz, lässt auch die Liebe mit hinein.

Seine wunderbaren braunen Augen sahen zu mir hinab, voller Hoffnung, voller Erwartung.

Die gespannte Stille drückte fast schmerzhaft auf meine Trommelfelle.

Nur wer sich öffnet für den Schmerz, lässt auch die Liebe mit hinein.

Manches Mal muss man einfach über seinen eigenen Schatten springen. Mein Herz machte einen verräterischen Hüpfer. Meine Augen huschten für den Bruchteil einer Sekunde von Alex' Augen zu seinen Lippen und wieder zurück.

Was sprach eigentlich dagegen?

Ich überwand die letzten Zentimeter und schloss die Augen. Das Publikum brach in einen ohrenbetäubenden Beifall aus, als sich unsere Lippen berührten. In meinem Innern explodierte ein Feuerwerk, als sich Alexanders Lippen auf meine legten und erinnerten mich an das noch immer ungestillte Verlangen, das in mir schlummerte.

In seiner ungestümen wilden Art zog er mich in seine Arme, vollführte eine Drehung, die mich fast von den Füßen riss, sodass ich in seinen Armen lag. Die Fans tobten.

Adrenalin schoss in mein Blut. Ich wollte nicht, dass er aufhörte, wollte, dass dieser Moment ewig andauerte.

Achim stimmte mit dem Schlagzeug einen neuen Takt an und Alexander löste sich von mir und half mir wieder auf. Seine Augen funkelten glücklich und er lächelte breit.

Herzdieb war der nächste Song. Noch nie hatten wir ihn mit derselben Leidenschaft gesungen. Es war ein einmaliges Ereignis und ich hatte das Gefühl, dass sich meine Euphorie auf die Fans übertrug. Ich strahlte einfach über das ganze Gesicht, die ganze Show lang. So erfüllt war ich von dem Glück.

Alexander und ich zogen das Programm durch, als gäbe es keinen Morgen mehr und es hatte sich eine einmalige Stimmung in der ganzen Arena verbreitet, an die ich mich für immer erinnern sollte. Das Publikum war selbst dann noch in Hochstimmung, als wir den letzten Song sangen. Doch ich war kein bisschen traurig. Nichts von der Angst über das, was danach kommen würde, war geblieben. Ich freute mich auf das Ende der Show – ich freute mich auf Alex!

Wir bedankten uns und verließen im gedimmten Licht die Bühne. Ich war kaum hinter den Kulissen angekommen, als mir Jennyfer quietschend um den Hals fiel.

„Oh mein Gott, du hast es getan, Jo! Ich hatte solche Angst!", rief sie mir lauter als beabsichtigt in mein Ohr.

„Du hast davon gewusst?", fragte ich fast ein wenig eingeschnappt.

„War das nicht eine brillante Idee? Oh, ich freu' mich so für euch!", fiepte sie und ließ mich wieder los.

Die „Zugabe"-Rufe der Fans wurde bereits lauter.

„Du bist so doof!", erwiderte ich, drehte mich um und suchte verzweifelt nach einer Flasche Wasser.

„Hier."

Alex erschien neben mir, lächelte sogar fast ein bisschen schüchtern und hielt mir eine Flasche hin.

Ich grinste verlegen zurück und nahm sie an mich. Verliebtheit war einfach etwas so Seltsames. Wir ließen die Menge noch zwei Minuten zappeln, bevor wir für die Zugabe wieder auf die Bühne traten, um sie noch einmal zu rocken.

Die Fans fieberten jede Silbe mit, stimmten in den Refrain ein und waren einfach super.

Und dann war auch von dieser Show das Ende erreicht. Die Band kam hinter ihren Instrumenten hervorgekrabbelt und fasste sich an den Händen, um sich gebührend zu verabschieden. Wir verbeugten uns einige Male.

„Vielen Dank", rief Alex durch das Mikro.

„Dankeschön!", fügte ich hinzu.

Alexander ergriff meine Hand, führte sie zu seinen Lippen und hauchte mit einem seligen Lächeln einen Kuss auf meinen Handrücken, bevor wir uns gemeinsam verbeugten. Mein Herz klopfte heftig.

Ich sah in seine herrlichen braunen Augen, die im Scheinwerferlicht unwiderstehlich funkelten, und freute mich seit langem wieder auf die Zukunft. Vielleicht würde unsere Beziehung nicht ewig halten, doch was sprach dagegen, es nicht zumindest zu versuchen?

Nur wer sich öffnet für den Schmerz, lässt auch die Liebe mit hinein – wie sehr Asp doch Recht hatte.

Selbst wenn es nicht für immer war, nun einmal stand uns eine schöne Zeit bevor und die konnte ich kaum erwarten und wenn ich Alexander in die Augen blickte, dann glaubte ich, dass er dasselbe fühlte.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top