5. März

Als ich am nächsten Morgen erwachte, erstrahlte mein Zimmer in einer unnatürlichen Helligkeit. Verwundert rappelte ich mich auf, schlurfte zum Fenster und ein Lächeln huschte über mein Gesicht.

Die Welt war über Nacht weiß geworden. Die kahlen Zweige der alten Linde, die im Hof stand, bogen sich gefährlich und die Nachbarskinder errichteten einen prächtigen Schneemann darunter.

Es war ein herrlicher Anblick und doch trübten Erinnerungen meine Stimmung. Ich sah seine Spuren im Schnee wieder vor meinem inneren Auge. Damals hatte auch Schnee gelegen. Es war eine blendende, grässliche Masse gewesen und hatte rein gar nichts mit dem heutigen Tag gemein. Und doch erinnerte mich dieser Morgen an jenen, an dem Michael endgültig gegangen war.

Ich seufzte wehmütig, streifte meinen Pyjama ab und kramte mir etwas Warmes zum Anziehen heraus. Gegen die finsteren Gedanken konnte ich nichts tun, doch diesen wunderbaren Tag wollte ich nicht ungenutzt verstreichen lassen.

Ich machte die bittere Erfahrung, dass der erste Schnee in einer Großstadt nichts mit dem Zauber auf dem Land gemeinsam hatte. Ich hatte mich dick eingepackt und wollte einen ruhigen Spaziergang machen, doch nachdem ich den Hof hinter mir gelassen hatte, war alles wie immer.

Die Leute waren hektisch und nun auch genervt unterwegs. Die Gehwege und Straßen waren bereits geräumt und auf ihnen lag nur noch ein unansehnlicher, grau-brauner Matsch. Hier tollten keine Kinder und hier sprangen auch keine Hunde im Schnee umher. Ich schalt mich dafür, vergessen zu haben, dass in einer Großstadt die Uhren anders tickten und so machte ich mich nach wenigen Minuten wieder auf den Rückweg.

Hier im Hinterhof war das Idyll perfekt, also strich ich den Schnee von der kleinen Mauer, nahm darauf Platz und ich begnügte mich damit, den Kindern zuzusehen, wie sie ihre Schneemann-Familie vollendeten. Doch das alles brachte mir reichlich wenig Ablenkung.

Es waren nur noch wenige Wochen bis Weihnachten, doch ich freute mich nicht darauf. Die Jungs und ich hatten eine Auszeit abgemacht, um die Vorbereitungen für das Fest treffen zu können, ohne dass alles in Stress ausartete. Wir würden uns erst im neuen Jahr wieder sehen und ich sah dieser Auszeit mit einem unguten Gefühl entgegen. In wenigen Wochen würde ich wieder zu Hause sein. In meinem Haus, alleine ... Dann war ich wieder für mich mitsamt meinen Problemen und all die Dinge, die ich hier hatte vergessen können, würden mich wieder einholen. Dann war alles wieder beim Alten.

Wenigstens würde ich meine Familie wieder sehen. Auf das Fest freute ich mich, auf das Essen und meine Liebsten, doch selbst diese Freude wurde getrübt: Es war das zweite Jahr in Folge, dass ich Weihnachten ohne Michael feiern würde.

Ich würde abends einfach alleine nach Hause kehren. Mich ins Bett legen und die Decke anstarren. Kein Kuscheln am Kachelofen. Kein Chilikakao. Kein gemeinsames Fernsehen. Nichts von all den Dingen, an die wir uns im Laufe der Jahre gewöhnt hatten, würde mehr stattfinden.

Ich war alleine.

„Du bist traurig." Es war eine Feststellung in einem vertrauten Ton und diese entwaffnende Ehrlichkeit, machte es mir unmöglich, alles abzustreiten.

Ich hob den Kopf ein wenig, doch das wäre gar nicht nötig gewesen. Ich hatte seinen Gang erkannt, seine Stimme und selbst den Duft seines Aftershaves. Ich hatte Alexander erkannt, noch bevor ich ihn bewusst wahrgenommen hatte und ein seltsamer Schauer lief mir bei dieser Erkenntnis über den Rücken.

„Ich bin nicht traurig", sagte ich schließlich, „ich bin nur nachdenklich."

„Und worüber denkst du nach?" Er hatte hinter mir Platz genommen und lehnte sich mit dem Rücken gegen meinen.

Ein Feuerzeug klickte zweimal und einen Augenblick später zog ein dünner Rauchfaden an mir vorbei. Ich sah ihm zu, wie er sich in der Luft wand, wie er immer dünner wurde, bis er sich schließlich auflöste, so als hätte er nie existiert.

Ich schloss einen Moment lang die Augen, ein paar Sekunden nur, bis ich mich dabei ertappte, dass ich Alexanders Anwesenheit einfach nur genoss.

„Über das, was war", sprach ich irgendwann weiter, „und wie es sein könnte, wenn ich – wenn ich anders gehandelt hätte."

„Das ändert nichts in deiner Vergangenheit", sagte Alex und zog an seiner Zigarette.

„Nein", bestätigte ich ihm, „aber es ändert meine Zukunft."

„Inwiefern?"

„Indem ich aus vergangenen Fehlern lerne."

Alex schwieg einen Augenblick. Er schien, zu überlegen, bevor er antwortete: „Das ist sehr weise."

Ich schnaubte amüsiert und suchte nach Worten, um zu erklären, was ich meinte.

„Manchmal braucht man etwas Abstand, um die Dinge sachlich zu sehen."

„Sind ‚die Dinge' männlich?"

Ich stutze überrascht, fühlte mich fast schon ertappt.

„Ja", gestand ich schließlich.

Alexander hakte nicht nach und so verfielen wir einige Minuten in Schweigen, während er seine Zigarette rauchte und ich an Michael dachte. Ich war so in meine Gedanken versunken gewesen, dass ich Alex erst wieder registrierte, als dieser den Zigarettenstummel neben sich ausdrückte.

„Ich muss noch oft an Michael denken – obwohl bereits über ein Jahr vergangen ist. Aber was ist schon ein Jahr? Es ist gerade einmal ein Zehntel der Zeit, die wir gemeinsam verbracht haben", erzählte ich, ohne zu wissen warum.

„Das ist lange."

„Ja", sagte ich vor mich hin und erinnerte mich, „war 'ne schöne Zeit – meistens zumindest."

„Warum ist es dann auseinandergegangen?", fragte Alex trocken.

Ich seufzte und überlegte. Ich hatte Michael wirklich geliebt, so wie er mich, aber wir hatten es von Anfang an nie geschafft, uns zu einigen. Wir waren so dermaßen verschiedene Menschen gewesen und gleichzeitig nicht im Stande einen gemeinsamen Nenner zu finden. Immer hatte einer von uns beide einstecken müssen. Das ging eine Zeit lang gut, doch irgendwann funktionierte es nicht mehr.

„Wir haben nicht zusammen gepasst", sagte ich schließlich und etwas in meinem Innern krampfte sich schmerzhaft. „Ich hab' es nicht wahrhaben wollen, all die Jahre. Ich dachte ... wenn ich mich nur genügend bemühen würde, dann könnte es funktionieren. Es war ja auch lange gut gegangen."

„Aber?"

„Irgendwann wurde mir klar, dass sich ein Boot mit einseitigem Antrieb im Kreis dreht."

Ich spürte wieder die Traurigkeit, die damals mein täglicher Begleiter gewesen war. Spürte die Verzweiflung und das bedrückende Gefühl in meiner Brust. Mir gefiel das Ende nicht, das diese Beziehung genommen hatte. Ich hatte Michael geliebt, denn er war ein toller Mann gewesen. Mit ihm hatte ich alt werden wollen, doch leider war ich nicht im Stande gewesen die Kränkungen zu ertragen oder die Sehnsucht zu lindern. Ich hatte sie ertragen können – fast zehn Jahre lang, doch irgendwann wurde mir klar, dass ich diese Umstände nicht ein Leben lang aushalten wollte.

„Und nach der Resignation", fuhr ich fort, „nach der Eiszeit kam dann irgendwann die Trennung."

„Eiszeit", wiederholte Alexander leise und nachdenklich.

Aus einem mir unergründlichen Grund hatte ich das Gefühl, dass er verstand, was ich nicht direkt hatte aussprechen wollen. Vielleicht war es, weil wir beide Songwriter waren und uns gleichermaßen an Phrasen bedienten. Vielleicht aber auch, weil eine ähnliche Situation hinter ihm lag. Es war einige Minuten still und ich lauschte den Geräuschen der Stadt und dem gelegentlichen Ruf einer Amsel, als Alexander nach einiger Zeit wieder das Wort ergriff: „War das die Geburtsstunde von 5. März?"

Ein unbehagliches Gefühl ging von meiner Magengegend aus und ich spürte, wie mein Körper sich anspannte. Mein Herz klopfte ein wenig schneller. Wie konnte Alexander nur immer genau die Dinge erraten, die ich selbst nie ausgesprochen hatte? Es war mir unangenehm, denn ich fühlte mich dadurch durchschaubar und angreifbar.

„Wie kommst du darauf?", fragte ich schließlich, anstatt ihm zu antworten.

Ich wollte wissen, wie er geschlussfolgert hatte. Konnte mir einfach nicht erklären, wie Alex nach so wenigen Wochen der Bekanntschaft schon so tief in mein Seelenleben blicken konnte.

„Es ist schon ein gutes Jahr her, als ich die Einladung für die Aufnahme zu 5. März bekommen hatte", antwortete er schlichtweg.

Ich entspannte mich ein wenig. Er hatte also nur gut kombiniert. Ein Glückstreffer, nichts weiter und doch – damit hatte er absolut richtig gelegen.

„Ja", beantwortete ich ihm schließlich seine vorangegangene Frage. „Damals habe ich den Song geschrieben und doch ... da war einfach alles schon zu spät gewesen."

„Manchmal glaube ich, Joanne, das der Mensch nicht gemacht ist für ein ewiges Zusammenleben in Liebe. Früher oder später wird aus der Lust nur Frust und es sind immer die Menschen, die man liebt, die einen am meisten verletzen."

Seine Stimme hatte einen seltsamen Ton angenommen, dass sich mir die Härchen stellten.

„Das liegt meiner Meinung nach, aber nur daran, dass sie die Einzigen sind, die es wirklich können", meinte ich. „Was kümmern dich schon die Worte eines Fremden?"

Alexander rührte sich nicht. Antwortete auch nicht. Doch dann, nach wenigen Sekunden sprang er so plötzlich auf, dass mein Oberkörper nach hinten kippte. Er seufzte laut hörbar und als ich mich zu ihm umdrehte, konnte ich gerade noch sehen, wie er nachdenklich den Kopf schüttelte.

„Was für'n depressives Thema an diesem schönen Tag!", rief er aus, ging um mich herum und reichte mir die Hand, um mir aufzuhelfen. „Wie wär's mit 'nem heißen Kakao gegen die Kälte und danach auf zu Pix, um ein bisschen zu texten – denn dafür bin ich eigentlich heute hergekommen."

Ich nahm seine Hilfe an und klopfte mir den Schnee von den Kleidern, doch die melancholische Stimmung blieb an mir haften.

„Ja, ein Kakao wäre – glaub ich – eine gute Idee", sagte ich schließlich. „Und am besten, 'nen Schuss Rum 'rein."

Alex lächelte.

Es war ein gezwungenes Lächeln, das erkannte ich sofort. Anscheinend hatte auch ihn das vergangene Gespräch in einen emotionalen Abgrund gezogen, doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

„Schön!", rief er, legte mir den Arm um die Schultern und zog mich mit sich. „Einen leckeren Kakao – und eine extra Portion Sahne!"


Nach einem kurzen Abstecher zu Alexanders Wohnung, die nur zwei Straßen weiter lag, machten wir es uns dann bei Coffee Dreams gemütlich. Die junge Bedienung war direkt an unserem Tisch gewesen, zückte Block und Stift und fragte fröhlich: „Grüß Gott. Das gleiche wie immer, Alex?"

„Nein, Susanna, mach mir 'nen großen Kakao mit Sahne. Und was willst du, Jo?"

„Ich nehm' dasselbe", sagte ich und bettete meinen Kopf in meine Hände.

„Herrje, was ist euch denn über die Leber gelaufen? Kommt ihr nicht weiter mit eurem Projekt?"

Ich wandte mich ab, um mich nicht an dem Smalltalk beteiligen zu müssen. Ich hasste solche inhaltslosen Gespräche, doch Alexander meisterte die Situation auch ohne mich und ich war dankbar darum. Als Susanna weg war, um die Getränke zuzubereiten, nahm ich meinem Blick vom Fenster und widmete Alex wieder meine gesamte Aufmerksamkeit.

„Ganz schön neugierig", meinte ich und nickte in Richtung Bar.

„Sie kennt Eisbrecher. Hat mich gleich an ihrem ersten Arbeitstag darauf angesprochen", grinste Alex.

Ich brummte nur zur Antwort und wir schwiegen, bis unsere Kakaos kamen.

„Ich hab' mal das Chaos zuhause geordnet und da sind mir noch einige Notizen in die Hände gefallen." Nahm Alexander den Faden wieder auf. „Vielleicht ist 'was Brauchbares dabei, wir sollten mal 'drüber schauen."

Ich nahm einen kräftigen Schluck der schokoladigen Flüssigkeit zu mir, nickte und sagte: „Wir brauchen noch was gediegeneres auf der Platte. Etwas, um zu Atem zu kommen, bevor es weiter geht."

„Eine Ballade?"

„Eine Ballade", seufzte ich, „mit Streichern und Chören..."

„Solange die aus dem Computer kommen, wird Pix nichts dagegen haben", meinte Alex und grinste. „Was ist mit 5. März? Wir könnten den Song noch einmal komplett überarbeiten."

Ich stöhnte genervt, nicht wegen Alexander, sondern weil ich vermutete, dass sein Vorschlag auf Jen's Beharrlichkeit zurückzuführen war. Ich konnte Alex' überraschten Blick nicht sehen, weil ich mir nicht die Mühe machte, aufzuschauen.

„Hat Jennyfer dich dazu überredet?"

„Sie hat es vielleicht ein- zweimal fallen lassen, als wir im Club waren, nicht ernsthaft", er grinste schief und es strafte ihn Lügen, doch auch das konnte ich nicht sehen. „Was spricht dagegen?", hakte er nach.

Ich seufzte tief und schwieg einige Sekunden, um zu überlegen. Doch eigentlich war es komplett sinnlos, zu lügen. Es würde nur dazu führen, dass Alexander, so wie Jen, mich weiter dazu drängen würde, diesen Titel aufzunehmen und als Singleauskopplung in Betracht zu ziehen.

„Weißt du, Alexander, ich habe ... noch ziemlich viel an diesem Track zu knabbern. Jen sollte das wissen, aber sie will es aus irgendeinem Grund einfach nicht akzeptieren."

„Wie meinst du das?"

„Es ist mit meinem Herzblut geschrieben", sagte ich sachlich und blickte ihn an und mir schien so, als verstünde er, was ich meinte.

„Ich dachte – der Song wäre für eine Soap entstanden."

„Ist er auch. Es war ein willkommenes Ventil für meinen Frust."

Es folgte einige Sekunden Stille, in denen keiner von uns sprach und ich darüber nachdachte, wie viel ich tatsächlich von meinem Seelenleben preisgeben wollte.

„Ich hatte den Song schon einige Wochen vor den fünften geschrieben. Den Titel, gab ich ihm erst im Nachhinein. Es war der Tag, an dem alles endete – endgültig." Es tat nicht gut, sich daran zu erinnern. Mir war nicht wohl dabei. „Mich in die Arbeit zu stürzen, kam mir gelegen. Mein Album war gerade erst einige Tage veröffentlicht und so konnte ich mich in die Tour flüchten. Doch als der Stress vorbei war, und ich zuhause wieder runter kam ... da bin ich abgestürzt – emotional, meine ich." Ich machte eine kurze Pause und tat so, als wollte ich einen Schluck trinken, doch eigentlich war mir viel zu übel, als dass ich mir etwas in den Magen kippen wollte. „Tja", sagte ich schließlich und versuchte, witzig zu klingen, und seitdem läuft nichts mehr rund. Und meine Kreativität, blieb bei der Gelegenheit wohl auch auf der Strecke."

„Weil du noch nicht damit abgeschlossen hast", meinte Alex.

„Womöglich."

Mir war Alexanders ernster Blick unangenehm und ich sah aus dem Fenster. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Die Schneeflocken wirbelten so wild vom Himmel, wie die Gedanken in meinem Kopf.

„Joanne?" Alex' Stimme riss mich zurück in die Gegenwart.

„Bitte?"

„Wir werden 5. März, als Singleauskopplung nehmen!"

Ich sah mit überraschten Entsetzten zu ihm auf und schüttelte verärgert den Kopf. Hatte er mir nicht zugehört? Verstand er nicht, wie sehr ich mich noch immer mit diesen Erinnerungen quälte.

„Nein!", protestierte ich gereizt.

„Doch!", er hatte die Arme auf den Tisch gelegt und beugte sich darüber, um mir ein Stückchen näher zu sein. „Du kannst nicht ewig davor davonlaufen, Joanne. Wenn du das alles bewältigen willst, dann musst du dich auch damit konfrontieren."

Ich verschränkte verstimmt die Arme vor der Brust, lehnte mich im Stuhl zurück und sah Alexander säuerlich an. Das hatte ich nun von meiner Ehrlichkeit: Jennyfer hatte einen weiteren Verbündeten und ich in Zukunft eine quengelnde Stimme mehr in meinem Ohr.

„Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!", beschwor ich und sah Alex an.

Dieser lächelte freundlich und zwinkerte mir zu.

„Das is'n Deal!"

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