9. Oktober, Kathi

Die Bahn war voll, aber das frühe Einsteigen hatte mir einen guten Platz gesichert. Ich beobachtete die Menge der Mitreisenden, die dicht an dicht standen und sich im Takt der ruckelnden S-Bahn bewegten. Ihre Mienen zeigten die Distanz, Langeweile und Gereiztheit, die viele Menschen auf dem Weg zur Arbeit befiel. Ich war froh darüber, dass ich mit dem Rad zur Schule fahren konnte und nicht auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen war. Nur bei Regen war es Mist, denn die Fahrt mit Bus und Bahn dauerte einfach länger.

Der Herr gegenüber von mir raschelte mit der Zeitung, die Schlagzeile Brand im Hochhaus – war es Brandstiftung? fiel mir ins Auge, aber die Nachricht sagte mir nichts. Müde schloss ich die Augen und ließ die Alltagsgeräusche der Bahnfahrt – die sich öffnenden und schließenden Türen, das Scharren von Füßen, das leise Gemurmel von Leuten, die sich unterhielten, und die Lautsprecherdurchsagen, die die kommende Haltestelle ankündigten – an mir vorbeiziehen.

Ich war wahnsinnig erleichtert gewesen, gestern von Sascha gehört zu haben und froh darüber, ihn nun so spontan treffen zu können. Ich brannte auch darauf, von dieser Demonstration zu hören, auf der er vermutlich gewesen war, und von der er mir natürlich nur bei einem Treffen erzählen konnte.

Ich dachte daran, wie Papa heute Morgen beim Frühstück gesagt hatte, die DDR wäre momentan ein Pulverfass, das jeden Augenblick hoch gehen konnte. Trotzdem hatte er mir die benötigten DM 25,- kommentarlos zugesteckt und mich nur gewarnt, mich von Menschenansammlungen fern zu halten. Ich presste die Lippen aufeinander und hoffte inständig, dass in der DDR nicht alles so schlimm werden würde wie in China.

Vielleicht sollte ich Sascha lieber von der Teilnahme an Protesten und ähnlichem abraten?

Die Sorgen vom Sonnabend hatten mir gereicht, ich wollte nicht, dass ihm etwas passiert! Wenn ich ehrlich war, glaubte ich allerdings nicht, dass er auf mich hören würde. Verstimmt öffnete ich die Augen, als sich unsere Fahrt verlangsamte, aber es war wieder nur einer der Geisterbahnhöfe. Vermutlich konnte ich schon froh sein, dass er nicht in Leipzig war, wo inzwischen jeden Montag demonstriert wurde, dachte ich resigniert und sah durch das Fenster hinaus in die nun wieder tiefe Schwärze des U-Bahn-Tunnels.

Doch je näher ich der Station Friedrichsstraße und damit der Grenze kam, desto mehr wurden meine Befürchtungen von der Vorfreude auf das Wiedersehen mit Sascha überlagert. Und es war deutlich leerer in der Halle vor dem Grenzübertritt, was ganz offensichtlich dem Werktag geschuldet war und meine Hoffnung auf ein schnelles Durchkommen wachsen ließ.

Doch stattdessen musste ich feststellen, dass die Leute, die die einzelnen Kabinen des Prüfbereiches betraten, schließlich auf meiner Seite wieder herauskamen. Was sollte das?!! Unwillkürlich begann mein Herz schneller zu schlagen, während ich in der Warteschlange ein Stück vorwärts rückte. Beunruhigt verknotete ich die Finger ineinander und fing ein paar der Sätze um mich herum auf.

„Die lassen einen nicht rein..."

„Das ist ja wieder mal pure Willkür..."

„Am Wochenende durfte auch niemand... "

Trotz der an Klarheit nichts zu wünschen übrig lassenden Äußerungen der Leute, die sich bereits wieder auf den Weg zur U-Bahn in Richtung West-Berlin machten, blieben wir Übrigen brav in der Warteschlange stehen. Wahrscheinlich hoffte jeder von uns, einer der Glücklichen zu sein, die heute ein Visum erhalten würden.

Nervös drückte ich meine Daumen. Sie mussten mich durchlassen. Sie mussten einfach!!! In Gedanken versuchte ich mir schon Argumente zurecht zu legen, überlegte, ob es ratsam wäre, mit unserer Fernbeziehung argumentieren. Oder würde das Sascha sogar eher schaden? Konnte man mit den Grenzbeamten überhaupt diskutieren?

Die alte Dame vor mir versuchte es, durch die geschlossene Tür hörte ich sie verzweifelt jammern:

„Aber meine Enkelin wartet doch auf mich. Sie ist erst fünf Jahre alt!"

Stumm starrte ich auf die beigefarbenen Wände vor mir, biss mir auf die Lippen und versuchte wegzuhören und mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Etwa zehn Meter von mir entfernt flackerte eine der Lampen und warf daher unregelmäßig ihr grelles Licht in die Halle, was wenig dazu beitrug, meine Nerven zu beruhigen. Einige Momente später kam die alte Dame mit verknittertem Gesicht wieder heraus, offenbar hatten ihre Einwände nichts genutzt.

Nun war ich an der Reihe. Mein Herz begann so laut zu pochen, dass ich dachte, jeder müsse es hören, und meine Kehle fühlte sich an, als würde ein Schraubstock sie umklammern. Konnte es tatsächlich sein, dass ich Sascha heute doch nicht treffen würde? Beklommen betrat ich den Kontrollbereich und reichte dem Grenzbeamten meinen Personalausweis. Es dauerte nur Sekunden, bis er ihn mir wieder entgegen streckte mit den Worten: „Einreise abgelehnt."

Obwohl ich das Gefühl hatte, dass meine Beine unter mir nachgaben, nahm ich meinen Mut zusammen und flüsterte: „Warum?"

Täuschte ich mich oder sah mich das Gesicht hinter der Plexiglasscheibe mitfühlend an?  Doch ein behördliche Anweisung war alles, was ich zur Antwort bekam. Eingeschüchtert durch diese ganze beklemmende Situation, an die ich mich trotz mittlerweile mehrmaliger Einreisen nie gewöhnt hatte, traute ich mich nicht mehr, weiter zu fragen.

Ich stolperte zurück aus der Tür, durch die ich gekommen war, und Tränen der Enttäuschung liefen über mein Gesicht, auch gespeist von der Angst, womöglich nie mehr einreisen zu dürfen. Dass ich heute beileibe kein Einzelfall war, nahm ich im Augenblick nicht wahr. Ich dachte an Sascha, der auf der anderen Seite der Mauer stand und warten würde ...

Wie in Trance ging ich zurück zur U-Bahn, verdrückte mich hinter ein Reklameschild und vergrub mein Gesicht in den Händen.

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