9. November, Sascha
Wir hingen auf dem Bett und diskutierten die Nachrichten. Erst vor ein paar Tagen hatte es eine neue Reiseregelung gegeben, wonach man für Ungarn und die Tschechoslowakei kein Visum mehr brauchte. Außerdem konnte man dreißig Tage im Jahr ins Ausland fahren. Allerdings war die Finanzierung dafür unklar, da man Devisen benötigte, die kaum zu kriegen waren.
„Völliger Quatsch, diese Regelung", sagte Carsten gerade und wackelte mit seinem Fuß, in dessen Strumpf sich unübersehbar ein großes Loch am Zeh befand.
Ich grinste und sekundierte: „In die Welt ohne Geld", ein ironischer Spruch von der Montagsdemonstration am 6. November.
Wir lachten mit betonter Lässigkeit, die die darunterliegende Unzufriedenheit verbarg, und vertilgten den Rest der Schokolade, die Carsten mitgebracht hatte. Wir hatten uns vorhin nach langer Zeit mal wieder in der Stadt getroffen und waren zusammen etwas Trinken gewesen, was sich ohne Rainer irgendwie ungewohnt angefühlt hatte. Ich hatte wenig Neigung gehabt, den restlichen Donnerstag alleine ausklingen zu lassen, was nur wieder zu Grübeleien geführt hätte, und hatte Carsten daher angeboten, noch mit zu mir zu kommen.
Es war mir mittlerweile egal, was meine Eltern davon hielten. Sie sagten auch nichts mehr. Meine Mutter hatte mich nur beredt angeguckt, aber Carsten immerhin mit einem Minimum an Höflichkeit gegrüßt. Sie hatten wohl endlich verstanden, dass sie mir nicht mehr in mein Leben reinzureden hatten. Vielleicht warteten sie auch einfach nur ab, bis ich eingezogen wurde und dachten sich, dass man bis dahin auf unnötige Streitereien verzichten konnte.
Die Unterhaltung über das Reisen fortsetzend fragte Carsten: „Und, willst du jetzt in die Tschechoslowakei?"
Ich hatte in der Tat darüber nachgedacht, sogar mehrmals in den letzten Tagen. Es war noch gar nicht so lange her, dass ich diese Chance herbeigesehnt hatte. Doch jetzt war hier so viel in Bewegung geraten... Es herrschte eine Art Aufbruchsstimmung und man hatte das Gefühl, hier vor Ort etwas bewirken zu können.
Wenn bloß der blöde Wehrdienst nicht wäre... Es gab eigentlich gar keine andere Wahl, als nun endlich die DDR zu verlassen, um ihm zu entgehen. Doch irgendetwas hielt mich zurück...vielleicht war es der Gedanke an die Endgültigkeit eines Entschlusses, der mir vor dem Hintergrund der ganzen aktuellen Veränderungen im Moment nicht so ganz gerechtfertigt erschien. Aber womöglich war es riskant, das hinauszuzögern...
„Christa Wolf hat dazu aufgerufen, hier zu bleiben", bequemte ich mich schließlich zu einer Reaktion, weil ich nicht gewillt war, ihm die Gedanken mitzuteilen, die mir durch den Kopf gingen, und beobachtete, wie er albern mit seinem bloßen Zeh wackelte.
„Du hast da ein Loch", sagte ich dann.
„Ich weiß", gab Carsten gelassen zurück. „Wenn das jetzt die Mauer wäre, wäre es gut."
Wir grinsten uns an. Es war nicht dasselbe wie mit Rainer, aber immerhin nahe dran.
„Ich muss los", sagte Carsten mit einem Blick auf die Uhr, die mit großen Schritten in Richtung dreiundzwanzig Uhr wanderte, und gähnte unverhohlen. Während er morgen wieder früh aufstehen musste, schwelgte ich noch in dem Luxus, ausschlafen zu können. Faul erhoben wir uns von meinem Bett und ich begleitete ihn in den Flur. In diesem Moment klingelte das Telefon, was mich angesichts der Uhrzeit zusammenzucken ließ. Schrecken und Hoffnung durchfuhren mich gleichermaßen, vielleicht war es Kathi! Ich stand direkt in der Nähe des Telefons und griff daher sofort zum Hörer, um meinen Eltern zuvor zu kommen, doch diese schienen das Klingeln gar nicht gehört zu haben.
„Alexander Brenner", meldete ich mich aufgeregt, als mir auch schon Rainer Stimme entgegen schallte:
„Die Grenzübergänge in Berlin sind offen!"
Ich brauchte einen Augenblick, um einzuordnen, was ich da hörte, doch die Nachricht war so unglaublich, dass ich die Stirn runzelte und an Rainers Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln begann.
„Hast du was getrunken?", fragte ich misstrauisch. Sein Lachen brandete mir entgegen und dann fuhr er aufgeregt fort:
„Meine Eltern öffnen gerade einen Sekt. Sie haben es eben in den Nachrichten gebracht!"
„Haben was gebracht?", fragte ich skeptisch und mit einer Spur Ungeduld, und dachte, dass Rainer wohl schon mehr als ein Glas Sekt genossen haben musste, wenn er so einen Unsinn von sich gab.
„Ich habe es in der ARD gesehen, da kommen Leute vom Grenzübergang und die sagen, die Grenze ist offen", klang nun Rainers jubelnde Stimme durchs Telefon. Er klang nicht im Mindesten betrunken, sondern einfach nur unglaublich glücklich.
Für einen Moment war in meinem Kopf eine totale Leere. Wie vom Donner gerührt blickte ich auf den gegenüberliegenden Spiegel, aus dem mir ein fassungsloses Gesicht entgegen blickte, und wagte kaum, mich zu rühren.
„Sag das nochmal", forderte ich ihn mit vor Aufregung heiserer Stimme auf. Konnte das tatsächlich wahr sein?
Carsten sah mich neugierig an und versuchte, in meinem Gesicht zu lesen.
„Die Gren-zen sind of-fen", betonte Rainer in aufreizender Langsamkeit und ließ ein glückliches Lachen hören und erst jetzt erfasste ich wirklich, was er mir mitteilte.
„Das muss ich mir ansehen", stieß ich erregt hervor und suchte nach meiner Jacke.
„Mach das!", empfahl Rainer. „Und ruf an, wenn du in Westberlin bist!" Dann legte er auf.
Ich ging hastig zum Fenster hinüber, sah aber draußen nichts als Dunkelheit. Nichts, was darauf hindeutete, dass etwas Besonderes im Gange war.
„Was ist?", kam es ungeduldig von Carsten, der bereits gehfertig in der Tür stand.
Aufgeregt riss ich meine Jacke von der Garderobe und schlüpfte hinein.
„Das war Rainer", erwiderte ich Carstens fragenden Blick und fügte mit einer Stimme, die kaum meine Emotionen verbarg, hinzu: „Er hat in der ARD gesehen, dass die Grenzen offen sind!"
„Waaasss?!" Carsten schüttelte ungläubig den Kopf.
„Wir fahren hin", beschied ich kurzentschlossen und schaute noch einmal ins Wohnzimmer hinein, in dem mein Vater über irgendwelche Unterlagen gebeugt war und meine Mutter leise Musik hörte. Angesichts meiner hastigen Bewegung sahen beide auf.
„Habt ihr mitbekommen, dass die Grenzen offen sein sollen?", fragte ich atemlos. „War das in den Nachrichten?"
Ich traute ihnen durchaus zu, alles in den Westnachrichten gesehen zu haben, als ich noch unterwegs gewesen war, ohne es für nötig befunden zu haben, mir das mitzuteilen.
Ich überging das Gefühl, das sich im Gesicht meines Vaters abzeichnete, das ich aber nicht einordnen konnte – war es Trauer, Resignation oder Müdigkeit? – als er mit neutraler Stimme antwortete:
„Laut der Nachrichten können ab sofort Reisen in den Westen ohne Vorliegen besonderer Gründe beantragt werden." Und jetzt klang seine Stimme eindeutig niedergeschlagen, als er fortfuhr: „Du kannst also morgen früh einen Antrag stellen."
Ich warf Carsten, der hinter mir im Flur stand, einen Blick zu.
„So lange warte ich nicht! Wir gehen uns das jetzt mal angucken", informierte ich meine Eltern entschlossen, in Gedanken bei dem, was Rainer in der ARD gesehen hatte und ohne die Geduld, bis morgen zu warten.
„Du kommst aber doch wieder?"
Die erschrockene Frage meiner Mutter hing ein wenig in der Luft - dann hatten sie also doch mehr gehört als sie zugaben? - bis ich sie mit einem gedankenlosen, nachlässig hingeworfenen „Ja, ja" beantwortete.
Und dann waren wir im Treppenhaus und auf der Straße und in der Bahn. Wir schwiegen, je näher wir dem Grenzübergang Bornholmer Straße kamen, jeder in seine eigenen Gedanken verstrickt. Ich fragte mich, was ich tun würde, wenn die Grenze wirklich offen sein würde. Mich nach Westberlin zu Kathi absetzen? Oder ausprobieren und dann zurück und hoffen, dass die Grenzöffnung von Dauer sein würde? Wenn es denn überhaupt stimmte... Und würden dann nicht wieder die russischen Panzer rollen?
„Was machen wir, wenn wir wirklich rüber können?", unterbrach Carsten meinen Gedankenfluss.
Ich sah ihn an und zuckte mit den Achseln.
„Einfach mal gucken gehen, oder?"
Und dann verließen wir die Bahn und gingen zu Fuß weiter. Meine Aufregung wuchs mit jedem Schritt, meine Augen spähten in die Dunkelheit vor uns. Wir waren beileibe nicht die Einzigen, die sich so spät noch auf den Weg gemacht hatten. Vor allem junge Leute waren zielstrebig in der gleichen Richtung unterwegs, Autos fuhren an uns vorbei. Und dann hörten wir es: ein Hupkonzert und ausgelassenes Jubeln brandete an unsere Ohren. Unwillkürlich beschleunigten wir unsere Schritte. Vor uns, im hellen Licht der Grenzanlage, tauchte eine riesige Menschenmenge auf, doch alle waren in Bewegung und für Autos und Menschen gab es nur eine Richtung: nach Westen.
Von Aufregung gepackt schlug Carsten mir kräftig auf die Schulter, dann wurden wir von dem Sog mitgerissen. Vorbei an Grenzbeamten, die resigniert und erschöpft aussahen, den Strom der Menschen beobachteten und keinerlei Anstalten machten, die Ausweise zu kontrollieren. Schließlich landeten wir auf einer Brücke, über den Gleisen irgendwelcher Züge.
„Warte mal!"
Ich zog Carsten an der Jacke, so dass er stehen blieb, fasste an das Geländer und sah zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren, und die weiterhin voller Menschen war.
„Ich muss das erst mal verinnerlichen."
Hinter uns lag der Grenzübergang, den wir soeben passiert hatten. Und direkt vor uns der Sehnsuchtsort meiner ständigen Gedanken, Westberlin. Nun hatte ich es tatsächlich geschafft! Es war einfach unglaublich. Im Nu stürzten die verschiedensten Gefühle auf mich ein.
„Wahnsinn!", war jedoch alles, was ich heraus brachte.
"Wahnsinn!", echote Carsten gleichermaßen mit glänzenden Augen, wir grinsten uns entrückt an und klatschten uns begeistert ab.
„Und nun?", wollte Carsten wissen, während mit ohrenbetäubendem Lärm hupende Autos und jubelnde Menschen an uns vorüber zogen. Es war wie im Traum, nur besser.
Ich sah auf meine Armbanduhr, es war ein paar Minuten nach Mitternacht, zu spät, um bei Kathi aufzukreuzen, denn bis in die Außenbezirke Berlins würde es vermutlich lange dauern. Schmunzelnd stellte ich fest, dass ich es auch im Angesicht historischer Ereignisse nicht schaffte, meine gute Erziehung über den Haufen zu werfen.
"Weiter, einfach weiter", entschied ich mit einem Kloß im Hals und stellte zu meiner Überraschung fest, dass ich vor lauter Emotionen feuchte Augen bekam.
Daher ließen wir uns im Strom der Menschen weiter treiben, die Brücke hinunter, sahen Westberliner, die uns klatschend und mit Sektgläsern empfingen, gingen die Straße entlang, auf der plötzlich ein BMW neben uns hielt, die Beifahrerin das Fenster runter kurbelte, den Kopf herausstreckte und fragte:
„Habt ihr Lust auf eine Sightseeing-Tour?"
Das ließen wir uns natürlich nicht zweimal sagen und so stiegen wir zu dem Pärchen in den BMW, sahen Siegessäule, Bundestag, den Ku'damm..., es war ein Potpourri von Lichtern, Farben, Eindrücken, es war einfach unbeschreiblich, und am Schluss landeten wir in einer Kneipe und begossen zusammen mit Kerstin und Jürgen die neugewonnene Freiheit mit viel Sekt und Bier...
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