8. Juli, Susanne
8. Juli, Susanne
Neugierig beobachtete Susanne, wie Markus den Inhalt des Rucksacks im Gras verteilte. Sie hatten sich einen schönen Platz mitten auf einer kleinen Anhöhe ausgesucht, von dem aus sie direkt auf einen Teil des Sees sahen. Auf dem Strand unterhalb von ihnen tummelten sich Badende, die sich von den geringen Temperaturen nicht abschrecken ließen.
„Tada! – Es ist angerichtet. Guten Appetit!"
Susanne griff nach den würzig duftenden Frikadellen. „Selbst gemacht?", fragte sie.
„Selbst gekauft", korrigiert Markus lächelnd und steckte sich ebenfalls ein Stück in den Mund.
Für einen Moment kauten sie schweigend und genossen das Picknick, die Umgebung und das Zusammensein, ohne dass sie die Notwendigkeit verspürten, die Harmonie durch Worte zu stören. Susanne lehnte sich an Markus, der sogleich den Arm um ihre Schultern legte, und sah zum Wasser hinüber. Der See spiegelte den Himmel wieder und schimmerte blaugrau, ab und an kräuselte ein Windstoß die glatte Oberfläche.
Susanne unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte sich fest vorgenommen, Markus zu sagen, dass sie nicht die war, für die er sie hielt, denn sie hatte es Kathi versprochen, ihrer Schwester waren die paar Momente in der Schule, in denen sie auf Markus traf, äußert unangenehm. Susanne konnte das absolut verstehen und auch sie war alles andere als glücklich darüber, dass an Kathis Schule diese Scharade nötig war.
Es war daher allerhöchste Zeit für die Wahrheit, schließlich war das hier bereits ihre zweite Verabredung, und je länger sie zögerte, desto peinlicher würde es werden. Doch es fiel ihr so unsagbar schwer - sie hatte keine Ahnung, wie sie ihr Verhalten in Worte fassen sollte. Sie konnte doch nicht einfach zusammenhanglos sagen „Übrigens, ich bin gar nicht Katharina, sondern ihre Zwillingsschwester."
Markus stupste sie liebevoll an.
„Was ist los, du machst auf einmal ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter."
Susanne zuckte zusammen und obwohl Markus' Frage eine gute Gelegenheit darstellte, brachte sie es nicht über sich, ihm das Täuschungsmanöver einzugestehen und erwiderte daher ausweichend das, was ihr als erstes an schlechten Nachrichten in den Sinn kam:
"Mein Vater hat gerade seine Arbeit verloren."
„Oh, das tut mir leid zu hören." Markus sah sie betroffen an. „Das sorgt ja wirklich nicht für gute Laune. Seit wann?"
„Ab August."
Susanne spielte nervös mit einer Haarsträhne. Ein plötzlicher Windstoß wehte weitere Strähnen in ihr Gesicht. Markus strich sie zart beiseite.
„Was macht er denn beruflich?"
„Ingenieur", antwortete Susanne knapp und wünschte, sie hätte das Thema nicht angeschnitten. Sie wollte diesen Tag genießen und sich nicht mit unschönen Themen beschäftigen, die sie am liebsten verdrängt hätte.
„Da findet er bestimmt bald etwas Neues", munterte Markus sie auf, „Ingenieure werden doch gesucht".
Ja, in Süddeutschland, dachte Susanne, sprach es aber nicht aus. Betrübt betrachtete sie ihre Finger. Wenn sie nun fortziehen mussten?
Aus der Ferne war das fröhliche Gelächter badender Kinder zu hören. Nichts war ihrer Stimmung im Moment ferner als diese Heiterkeit.
„Kathi?"
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Susanne klar wurde, dass Markus natürlich sie meinte und betreten sah sie zu ihm hin. Vorsichtig nahm er ihre Hände in seine und drückte sie sanft.
„Du machst dir doch nicht wirklich Gedanken über eine längere Arbeitslosigkeit, oder?" Mitfühlend blickten seine Augen sie an.
„Nein... ja....", stammelte Susanne und war durch seinen intensiven Blick einen Augenblick lang verwirrt. „Die meisten Ingenieure sind in Süddeutschland..."
„In welchem Bereich arbeitet er denn?", erkundigte Markus sich und hielt weiterhin ihre Hände.
„Elektrotechnik."
„Aber da gibt es doch viele Einsatzmöglichkeiten!", rief er aus, „...gerade in einer so großen Stadt wie Berlin."
„Meinst du?"
Sie hatte sich bisher nur mit ihrer Schwester ausgetauscht, die genauso geschockt war wie sie selbst, und hatte daher in Gedanken nur das Schlimmste angenommen.
„Na klar!"
Markus' Stimme klang so zuversichtlich, dass es schwer war, sich dieser Überzeugung zu entziehen. Sein beruhigendes Lächeln vertrieb langsam ihre Zweifel und machte ein wenig Hoffnung Platz. Zaghaft lächelnd erwiderte sie seinen Blick und bemerkte dabei, dass seine Augen nicht nur blaugrau, sondern auch ein paar grüne Anteile hatten, die gerade besonders intensiv leuchteten. Vielleicht würde es ja doch nicht so schlimm werden...
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Später packten sie die Reste des Picknicks zusammen und schlenderten Händchen haltend am Ufer entlang, fort von der großen Menge der Freibadbesucher, deren Lärm allmählich verklang. Das Wasser schwappte träge gegen die vom Moos bewachsenen Baumwurzeln und kleinen Buchten, und als sich ein kleiner Sandstreifen auftat, wateten sie zusammen in das von sanften Wellen bewegte Wasser. Der See war kalt, aber nach einigen Sekunden hatten sie sich daran gewöhnt und schlenderten nebeneinander den Uferbereich entlang, während die Wellen ruhig und stetig gegen ihre Füße schwappten.
„Wie war das in Frankreich, erzähl mal!", wollte Susanne neugierig wissen und Markus ließ sich nicht lange bitten und berichtete bereitwillig von seinen letzten Jahren in der Nähe von Bordeaux.
„Ich bin eigentlich ein halber Franzose", bemerkte er lachend und beschrieb in allen Einzelheiten die französische Lebensart, während Susanne fasziniert zuhörte und sich wünschte, all das auch einmal erleben zu können.
„Das Essen wird so richtig zelebriert, mit mehreren Gängen, oft in größerer Runde, alle unterhalten sich angeregt...", schwelgte er in Begeisterung, „...nicht so eine kurze Sache wie hier."
Da sie am Ende des sandigen Bereiches angekommen waren, bevor ihnen eine steile Böschung den weiteren Weg verwehrte, plätscherten sie noch ein wenig mit den Füßen im Wasser herum. „Und die Kinder?", wollte Susanne neugierig wissen, „Langweilen die sich dabei nicht?"
„Ich denke mal, die wachsen da rein", vermutete Markus. „Jedenfalls hat Ines als kleines Mädchen immer brav mit den anderen am Tisch gesessen. Ich fand's jedenfalls klasse. Wir waren alle so eins, weißt du, jung und alt und alle haben mitdiskutiert...oder philosophiert..."
Unwillkürlich erschien ein Leuchten in seinen Augen, das Susanne richtig als Sehnsucht interpretierte und sie vermutete, dass ihm der Umzug nicht leicht gefallen war. Bevor sie ihn jedoch darauf ansprach, stellte sie erst noch eine andere Frage, die ihr auf der Zunge lag.
„Sind die Mädchen da wirklich alle so schick gekleidet?"
Beiläufig kam das und sie starrte mit einer Aura von Gleichgültigkeit in die Baumwipfel, als interessiere sie die Antwort nicht wirklich.
„Sehr!", betonte Markus ernsthaft und zwinkerte ihr anschließend zu, so dass Susanne nicht wusste, wie sie seine Antwort deuten sollte. Mit Sicherheit war sie weitaus weniger modisch. Unsicher zupfte sie an ihrer Bluse herum. Markus hatte es bemerkt und zog sie in seinen Arm.
„Ich finde dich mindestens genau so schön", versicherte er.
„Du bist süß", gab Susanne verlegen zurück und reckte sich, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu drücken.
Anschließend verließen sie das Wasser, in dem ihre Füße inzwischen kalt geworden waren, und schlenderten langsam den mit Baumwurzeln und losen Zweigen übersäten Pfad zurück. „Erzähl weiter!", bat Susanne und Markus beschrieb Radtouren durch Kiefernwälder, Baden im Atlantik und die Sanddünen von Pilat.
„Eine schöne Gegend, um aufzuwachsen", schloss er schließlich.
„Das glaube ich gern", gab Susanne träumerisch zurück und wollte dann wissen:
„Warum seid ihr fortgezogen?"
Ein Schatten glitt über Markus' Gesicht – was sie sich jedoch nur eingebildet haben mochte, denn kurz darauf zuckte er betont lässig mit den Achseln und erklärte:
„Meine Mutter hatte Heimweh nach Deutschland."
Nur Sekunden später gefolgt von dem frustrierten Ausruf: „Ach, zum Teufel...."
Er ließ sich auf einen größeren Felsbrocken fallen und verbarg einen kurzen Moment den Kopf in den Händen.
Susanne war erschrocken stehen geblieben und wartete unsicher, ob Markus noch etwas sagen würde. Schließlich legte sie ihm zögernd eine Hand auf die Schulter. Markus hob den Kopf, deutete mit einer seitlichen Bewegung neben sich auf den Felsen und ließ dann erst mal schweigend Sand durch die Hände rieseln. Susanne setzte sich, drehte sich zu ihm hin, so dass sich ihre Knie fast berührten und strich sanft mit den Fingerspitzen von der Schulter aus seinen Arm hinunter.
Draußen auf dem See fuhr ein Boot vorbei und aus der Ferne klang das Stimmengewirr des Strandbades herüber. Die Sonne war hervorgekommen und zauberte mit Hilfe einiger ziehenden Wolken Schatten auf dem Wasser. Susanne merkte, dass Markus mit sich kämpfte, und wartete geduldig. Sein Gesicht hatte einen ernsten Zug angenommen, die Augenbrauen waren ein Stück zusammengezogen und er schien tief in Gedanken zu sein. Schließlich hielt er inne und legte die Hände locker ineinander.
„Ich hab das nicht vielen erzählt..." begann er zögernd, während ein plötzlicher kühler Windhauch Susanne frösteln ließ. Aber sie ließ sich nichts anmerken und verkniff es sich, die Jacke überzuziehen. Markus' Blick blieb auf dem Boden vor ihm gerichtet, als er fortfuhr:
„Vor neun Jahren sind wir von Berlin nach Bordeaux gezogen. Angeblich musste mein Vater beruflich einige Jahre dorthin. Ich fand das eigentlich ganz spannend, ins Ausland zu ziehen. Und das war es ja auch."
Er stoppte einen Moment lang und fuhr dann tonlos fort:
„Letztes Jahr stellte sich der wahre Grund heraus. Er hatte die Versetzung selbst beantragt. Wegen seiner französischen Geliebten in Bordeaux."
Den letzten Satz stieß er mit Bitterkeit hervor. Und schloss dann hastig, wie um es schnell zu Ende zu bringen:
„Seitdem führte er ein Doppelleben, eine Familie in Loucheur, die andere in Bacalan. Meine Mutter war am Boden zerstört. Wir sind daher dann Hals über Kopf im Winter zurück nach Berlin gezogen".
Susanne schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund.
„Das ist furchtbar!", flüsterte sie. „Du musst wahnsinnig sauer auf ihn sein."
„Sauer ist gar kein Ausdruck. Ich hasse ihn!"
Markus Stimme hatte einen harten Klang angenommen, er hatte den Kopf gereckt und seine Augen blitzten. „Der kann froh sein, dass er weit weg ist! Ich weiß sonst nicht, was ich täte!"
Sein aggressiver Ausbruch überraschte sie beide.
„Sorry", entschuldigte sich Markus umgehend und warf Susanne einen verlegenen Blick zu.
„Ist doch okay", versicherte Susanne und drückte seine Hand. "Mir würde es genauso gehen."
Unaufgefordert fuhr Markus dann etwas ruhiger fort:
„Ich habe Frankreich gehasst und gleichzeitig wollte ich nicht weg. Komisch, was? Na ja, inzwischen mache ich einen Unterschied zwischen meiner französischen Heimat und meinem Erzeuger."
Er räusperte sich und fügte hinzu:
„Die Zeit in Frankreich war schön, solange wir nichts wussten..." Er biss sich auf die Lippen „Alles eine einzige Lüge..."
Dann sah er auf den See hinaus und wirkte auf einmal sehr in sich gekehrt. Susanne fühlte mit ihm. Neun Jahre lang ein Doppelleben – es war eigentlich unfassbar.
„Seitdem kriege ich eine Hasskappe, wenn Leute mich anlügen..."
Wie aus weiter Ferne drang Markus' Stimme an ihr Ohr, obwohl er doch dicht neben ihr stand, der Wind trug den Schall wohl fort von ihr. Es dauerte einen Moment, bis ihr die Tragweite dessen, was Markus gesagt hatte, bewusst wurde. Ihre Kehle war auf einmal wie zugeschnürt und nur mit Mühe schaffte sie es zu schlucken. Sie konnte ihm jetzt unmöglich die Wahrheit über den Rollentausch erzählen. Er würde sie zum Teufel jagen, weil sie ihm etwas vorgemacht hatte. Tränen traten in ihre Augen. Und nun?
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