6. Juli, Kathi
6. Juli, Kathi
„Und?" raunte ich meiner Schwester im Vorbeigehen im Flur zu – jeder hatte seine Reihenfolge im Bad – „Wie war es?"
„Gut!"
Susi strahlte und brauchte gar nicht mehr zu sagen. Ich war morgens immer sehr unausgeschlafen, aber dass mein Zwilling einen schönen Abend verbracht hatte und ihr das Glück aus jeder Pore strahlte, bekam ich gerade noch mit. Mit einem befriedigten Lächeln verschwand ich im Badezimmer. Na bitte, geht doch, dachte ich und freute mich, dass Susi ihren Schwarm nun nicht mehr aus der Ferne anzuhimmeln brauchte. Außerdem wäre es schön, wenn auch sie einen Freund hätte, dann könnten wir uns wieder über alles austauschen. Nicht, dass ich ihr etwas verheimlichen würde, aber es gab gewisse Themen, die machten mit jemandem, der solo war, einfach nicht so viel Sinn.
Ich stieg in die Wanne und stellte die Dusche todesmutig auf kaltes Wasser, wie jeden Morgen, denn nur so wurde ich richtig wach. Komisch eigentlich, dass Susi immer viel ausgeschlafener war. Nach den ersten kalten Güssen war ich endlich im Morgen angekommen und fuhr mit wärmerem Wasser fort. Ich war noch dabei, mir die Wimpern zu tuschen, als mein Vater auch schon aus der Küche nach uns rief. Ich linste auf die Uhr. Es war doch noch gar nicht so spät, was hatten die Eltern nur schon wieder?
Als ich in die Küche kam, saß Susi bereits mit verliebt-verträumtem Gesichtsausdruck am Tisch, ihre Müslischale völlig ignorierend. Die Eltern hingeben wirkten nervös. Fahrig klapperten sie mit dem Geschirr und Vater murrte unwillig:
„Das wurde aber auch Zeit!"
Ich verzichtete darauf, ihn auf die Uhrzeit hinzuweisen und warf einen Blick auf den Stundenplan, obwohl ich ihn eigentlich im Kopf hatte. Der Tag begann mit Physik in den ersten Stunden und heute stand dieser blöde Test an. Pflichtschuldig hatte ich gestern noch gelernt, das heißt, mir das Wenige angeschaut, das ich aufgeschrieben hatte. Wie konnte man nur jetzt noch in Physik einen Test schreiben?! Standen die Noten nicht schon längst fest? Ich mochte Physik eigentlich ganz gerne, was vor allem daran lag, das man oft aktiv etwas tun konnte als einfach nur zuhören zu müssen. Aber ein Test war natürlich immer blöd.
Mein Vater zerrte sich nervös die Krawatte zurecht. Was war heute bloß los? Verständnislos blickte ich von ihm zu meiner Mutter, aber beide waren völlig abgelenkt und nahmen meine Blicke gar nicht wahr.
„Susi?"
Aber auch Susi befand sich in ihrer eigenen Welt, schwebte wahrscheinlich im siebten Himmel und bekam von allem anderen überhaupt nichts mit. Seufzend nahm ich nach dem Frühstück meine Schulsachen und war fast froh, dieser komischen Atmosphäre zu entkommen. Gemeinsam mit Susi ging ich zu den Rädern, aber mit ihr war nichts anzufangen, sie schaute immer noch verklärt ins Weite.
„Bis nächste Woche dann!", warf ich ihr scherzhaft zu, als sich unsere Wege gleich nach der Gartenpforte trennten.
Susi winkte und schickte ein nachlässiges „Bis nächste Woche!" hinterher.
Amüsiert schüttelte ich den Kopf. Natürlich würden wir uns bereits heute Nachmittag sehen. Frisch verliebt – war ich auch so gewesen? Ich trat in die Pedalen und war genau sieben Minuten vor acht Uhr im Klassenraum, in dem Biggi und Nicki noch vor ihren Aufzeichnungen hingen und Marco sich von Lars etwas erklären ließ. Die Stimmung in der Klasse war angespannt und nervös, wie jedes Mal, wenn Klassenarbeiten anstanden. Als dann Herr Bechthold – ausnahmsweise pünktlich – das Klassenzimmer betrat, verstummten die Gespräche und alle beugten sich über die ausgeteilten A- und B-Zettel.
„Mist!"
Ich konnte mit den Fragen kaum etwas anfangen und fand es ausgesprochen schade, dass ich Sascha nicht herbeibeamen konnte, der wollte Ingenieur werden und hätte mir garantiert helfen können. Mit Mühe schob ich die Gedanken an meinen Freund fort und versuchte mich zu konzentrieren. Als dann die Glocke das Ende der Doppelstunde einläutete, hatte ich zumindest irgendetwas zu Papier gebracht, das hoffentlich für eine Vier reichte und meine Jahresnote nicht noch nach unten zog.
Ungeduldig strömten wir alle aus dem Klassenraum und Biggi schob sich zu mir hin.
„Und – wie war's?"
„Frag nicht!" Theatralisch winkte ich ab.
„Was habt ihr bei Aufgabe vier?" Nicki war im Treppenhaus zu uns gestoßen.
„Der Versuchsaufbau?"
„Häh?" Biggi verstand nur Bahnhof.
„Du hattest Zettel A, stimmt's?"
„Ach so", Biggi zuckte mit den Schultern und ich nuschelte irgendetwas von einer Formel, die mir im Kopf geblieben war.
„Also ich habe etwas anderes..." Besorgt schüttelte Nicki ihren Kopf.
„Dann ist deines wohl richtig. Ich habe nur geraten", konstatierte ich und hätte am liebsten einfach nur geschwiegen. Wahrscheinlich hatte ich den Test total verhauen.
Mittlerweile waren wir in der Aula ankommen. Die Aula war eigentlich eine Pausenhalle, hieß aber Aula, weil ein paar Treppenstufen zu einer Art Bühne führten und dort immer mal wieder Theaterstücke aufgeführt wurden. Nicki fuhr fort, ihre Antworten zum Test zu äußern, ohne zu bemerken, dass Biggi und ich mit den Augen rollten. Dafür gesellten sich Lars und Marco zu uns und trugen ihren Teil zu den vermuteten richtigen Aufgaben bei, doch ich hörte nur noch mit halbem Ohr hin.
Heute war Mittwoch, drei Tage noch, dann würde ich endlich wieder nach Ostberlin fahren können, um Sascha zu treffen. Mehr als einmal im Monat war einfach nicht drin, denn der Zwangsumtausch riss ein Riesenloch in mein Taschengeld. Diese bescheuerte Mauer! Ich vermisste Sascha immens, unsere Treffen waren einfach zu wenig und die Briefe waren nur ein geringer Trost.
Ich verlor mich in Tagträumen, was wir am Sonntag machen würden. Ob ich vielleicht doch mal zu Sascha nach Hause konnte, wenn es regnen sollte? Nur am Rande bekam ich mit, wie meine Freunde endlich das Thema wechselten und über den gestrigen Vorabendkrimi sprachen.
„Hallo Kathi", vernahm ich da auf einmal eine liebevoll klingende Stimme in meinem Rücken.
Überrascht drehte ich mich um und noch bevor ich reagieren konnte, hatte Markus mich bereits in die Arme gezogen und mir einen Kuss auf den Mund gegeben. Ich war so überrumpelt, dass ich das Ganze widerstandslos über mich ergehen ließ. Sein strahlendes Lächeln hätte ich dann jedoch beinahe mit der irritierten Frage, was das denn solle, beantwortet, doch im letzten Moment dämmerte mir, dass Markus mich wohl mit Susi verwechselte. Natürlich! Was die beiden gestern Abend gemacht hatten, brauchte ich jetzt nicht mehr zu fragen, das war ja offensichtlich.
Das Läuten der Schulglocke enthob mich zum Glück jeglicher Reaktion. Ich lächelte daher nur unverbindlich, als Markus mir ein enthusiastisches „Bis bald!" zuwarf und wandte mich eilig in Richtung Sprachlabor.
Aus den Augenwinkeln nahm ich gerade noch Biggis entgeisterten Blick wahr. Meine Freundinnen schlossen dann schnell zu mir auf.
„Was war das denn?" fragte Biggi verblüfft, noch völlig außer Atem, als sie vor dem Sprachlabor zum Stehen kamen.
„Bist du nicht mehr mit Sascha zusammen?", wollte Nicki erstaunt wissen.
Ich schloss für eine Sekunde die Augen. Verdammt, das hatte ich nicht bedacht, als ich Susi geraten hatte, meine Rolle zu spielen.
„Warum wissen wir nichts davon?" entrüstete sich Biggi und sah mich vorwurfsvoll an.
Ich gab ein gequältes „Es ist kompliziert" von mir und wehrte weitere Fragen mit einem Kopfschütteln ab. Scheiße!, dachte ich und war noch nie im Leben froher über das Erscheinen von Frau Dr. Sommerfeldt gewesen, die mir damit die Möglichkeit gab, die Fragen meiner Freundinnen einfach schweigend zu ignorieren.
Während der ganzen Stunde war ich nicht bei der Sache. Ich grübelte darüber nach, was ich Biggi und Nicki für eine Geschichte auftischen sollte, denn die Wahrheit kam nicht in Frage. Biggi war zwar meine Freundin, aber sie war auch dafür bekannt, Geheimnisse nicht für sich behalten zu können. Im Nu wüsste mindestens die ganze Klasse Bescheid. Und dann wäre es nur noch eine Frage der Zeit ... das sollte Susi lieber direkt Markus mitteilen.
Ich seufzte schwer und beugte mich über das Englischbuch. Nicki warf mir einen Blick von der Seite zu, der mehr Mitgefühl als brennende Neugierde zu enthalten schien. In meine Gedanken versunken bekam ich kaum mit, dass Dr. Sommerfeldt mich ansprach. Nicki stieß mich auffordernd an und flüsterte:
„2a, ersten Satz übersetzen."
Verwirrt glitt mein Blick über die offene Buchseite, während Dr. Sommerfeldt ungeduldig mit dem Stift auf das Pult klopfte. Aber ich hatte offenbar die falsche Buchseite aufgeschlagen und blätterte nun hektisch hin und her.
„Das war's dann wohl, Fräulein Diekmann, denken Sie, wir haben ewig Zeit, nur weil Sie nicht aufpassen?", erklang Dr. Sommerfeldts verärgerte Stimme. „Die heutige Stunde dürfen Sie mit einer Sechs beschließen."
„Was???" entfuhr es mir entsetzt. „Aber..."
Doch mein Einwand ging längst in der Aufforderung der Lehrerin, Maik solle sich der Aufgabe annehmen, unter. Ich vergrub das Gesicht in den Händen und wusste nicht, ob ich traurig oder wütend sein sollte.
„Das machst du nächste Stunde wieder wett", flüsterte Nicki mir zu. „Du weißt doch, wie sie ist".
Ja, das wusste ich, aber das machte es ja nicht besser. Eine Sechs, nur weil ich fünf Minuten nicht bei der Sache war. Blöde Kuh. Als es endlich zur Pause läutete, hatte ich zwar diesen Vorfall abgehakt, aber noch immer keine Idee, was ich meinen Freundinnen erzählen sollte.
Sogleich stand Biggi an meinem Tisch und wollte energisch wissen:
„Was ist da zwischen dir und Markus? Wieso hast du uns nichts erzählt?!"
Wieso war sie eigentlich so aufgebracht? Ich kniff kurz die Augen zusammen und erläuterte dann vorsichtig:
„Ich war doch auf seiner Party. Da ist es halt passiert."
„Eine schöne Freundin bist du", funkelte Biggi mich an, „Und was ist mit Sascha?"
„Weiß ich nicht...", druckste ich herum und hätte heulen mögen.
„Nun lass sie doch mal", versuchte Nicole zu vermitteln. „Sie wird schon ihre Gründe haben".
Aber Biggi ließ sich nicht bremsen. „Ich wette, Sascha sitzt in der DDR und weiß von nichts. Fies finde ich das".
Ein paar Mitschüler begannen neugierig herüber zu schauen. Ich fühlte mich von der Situation völlig überfahren und außerstande, mit der nötigen Gelassenheit zu reagieren. Verärgert fuhr ich daher meine Freundinnen an:
„Ich habe doch gesagt, es ist kompliziert! Lasst mich einfach in Ruhe!"
Im Laufschritt verließ ich den Klassenraum und verschwand in der Mädchentoilette, wo ich mich mit tränenüberströmtem Gesicht die Wand hinunter gleiten ließ. Scheiße, da hatte ich mich ja in etwas hineingeritten. Am liebsten wäre ich sofort in Saschas Arme geflüchtet, um Trost zu suchen, aber das ging ja natürlich nicht.
Ich verfluchte die blöde Lage, in die ich mich gebracht hatte, die Mauer, die beiden verschiedenen Staaten,... einfach alles. Und beschloss spontan, morgen direkt nach der Schule nach Ostberlin rüber zu fahren. Die Eltern würden einfach eine Extraration Taschengeld springen lassen müssen. Sie mussten einfach! Keinen Tag länger hielt ich es ohne Sascha aus.
Ich konnte ihn noch nicht einmal anrufen. Aber einfach bei Rainer aufkreuzen, die Adresse kannte ich ja von den Briefen, das wäre möglich, und der konnte Sascha sicherlich Bescheid geben...
Mit diesem Entschluss verließ ich etwas beruhigter die Kabine und trödelte solange, bis die Schulglocke das Ende der Pause ankündigte und ich gerade noch vor dem Lehrer in die Klasse schlüpfen konnte. Den Rest des Tages wurde ich von Biggi geflissentlich ignoriert. Oh Mann, die nahm den gefühlten Treuebruch wirklich schwer. Meine Stimmung sank wieder auf den Nullpunkt, obwohl zumindest Nicki tat, als wäre nichts geschehen.
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