6. April, Sascha
6. April, Sascha ( Alexander )
„Brenner! Alexander Brenner! Heh!"
Hastig hob ich den Kopf, irritiert darüber, dass ich so in meine Gedanken vertieft gewesen war, dass ich nicht bemerkt hatte, dass sich meine Freunde bereits näherten, während ich wartend an die Statue der beiden Herren gelehnt stand, die mit ihren Theorien die Basis für den Sozialismus unseres Landes gelegt hatten. Was für eine Ironie, wirklich, es mir ausgerechnet hier gemütlich gemacht zu haben, denn inzwischen konnte ich dem Sozialismus, wie ich ihn hier in der DDR erlebte, nicht mehr viel abgewinnen.
Es war lange her, dass ich mich hingebungsvoll in die Aktivitäten der Pioniere gekniet hatte, überzeugt davon, in dem besten aller Länder zu leben. Das erhabene Gefühl, das ich als Jungpionier beim Tragen der Fahne verspürt hatte, war zwar nicht vergessen, aber ich sah mittlerweile verächtlich auf meine frühere Naivität herab. Auch meiner damaligen Begeisterung für Pionierlager, die uns in den Ferien unzählige Freizeitangebote ermöglicht hatte, war ich entwachsen.
Lange hatte ich mich bei Projekten und Festspielen der FDJ engagiert, war entschlossen gewesen, an der Perfektion des sozialistischen Staats zu arbeiten, genauso wie es sich meine Eltern gedacht hatten, die mir mit ihren Funktionen in der SED linientreues Verhalten vorlebten – bis ich begonnen hatte, Fragen zu stellen und Inhalte anzuzweifeln. Zumindest im privaten Kreis, denn öffentlich wäre selbst die leiseste Kritik am Staat und seinen Organisationen Selbstmord. Ich war Einser-Schüler und hatte keine Lust, das erhoffte Studium zu gefährden, mal ganz abgesehen von möglichen weiteren Repressalien seitens des Staates.
Ich wusste nicht mehr, was die beginnende Abneigung meines Landes und seiner Funktionen entfacht hatte, aber Tatsache war, dass es mich fertig machte, dass alles Entscheidende von der Partei vorgegeben wurde, die einfach keine andere Ansichten gelten ließ, und dass sie das Wohlverhalten ihrer Bürger in einem Maße kontrollierte, dass man sich einfach nur eingeengt fühlen konnte.
Dazu kam die Tatsache, dass ich weder in die Bundesrepublik noch nach Frankreich oder in die USA reisen konnte, denn die streng gesicherte Grenze war lediglich in Richtung Osten offen. Nicht einmal meine Heimat Berlin konnte ich durchstreifen, wie ich wollte, das hässliche Betongrau der Mauer, die Ost- von Westberlin trennte, und die drohenden Wachtürme mussten jeden nur halbwegs nach Freiheit dürstenden Menschen die Atmosphäre eines Gefängnisses vermitteln. Manchmal wünschte ich, ich würde in einer anderen Stadt leben, in der mir der „Schutzwall", der uns angeblich vor dem Faschismus aus dem Westen schützen sollte, nicht ständig vor Augen stand.
Lediglich die Liebe zur russischen Sprache hatte meine inzwischen konstante Unzufriedenheit überdauert, ein Funke, der bereits in der deutsch-russischen Grundschule auf mich übergesprungen war, als uns die Lehrer faszinierende Geschichten vom „großen Bruder Sowjetunion" berichtet hatten, wir Brieffreundschaften mit Kindern aus der UdSSR gepflegt und später begeistert Texte von russischen Dichtern und Schriftstellern gelesen hatten. Selbst mein russischer Vorname war absichtlich gewählt, wie meine Eltern gern betonten, nach dem berühmten Dichter Puschkin, dessen Werke sie beide liebten. Ich empfand ihn nur als sperrig und lang, und ließ mich bereits seit Jahren nur mit der im Russischen gebräuchlichen Kurzform Sascha anreden.
Mittlerweile hatten sich Carsten und Rainer zu mir gesellt, die aus der Nachbarschaft stammenden Freunde meiner Kindheit, von denen eigentlich nur Carsten einigermaßen Gnade vor den Augen meiner Eltern fand, und wir klatschten uns in üblich lässiger Manier ab. Beide kamen direkt aus ihren Betrieben, die Feierabendfreude noch im Gesicht, während ich die heiligen Hallen des Schulgebäudes schon mittags hatte verlassen können, mich aber dafür mit einer stundenlangen Deutschklausur hatte herumschlagen müssen.
Ohne besondere Pläne für den Verlauf der weiteren Stunden bummelten wir ziellos durch die Gegend, auf der Suche nach irgendetwas, das den Tag aus einer Reihe von vorhergehenden ewig gleichen Tagen heraushob. Am Karlsplatz setzten wir uns dann auf das schmale Mäuerchen an dem Springbrunnen, der noch nicht oder schon wieder nicht mehr funktionierte, und musterten die Vorübergehenden.
„Guckt mal da!"
Carstens ausgestreckte Hand fuhr in die Richtung der großen Hauptstraße, die am Rande des Platzes verlief, und von der her sich drei junge Mädchen näherten, die suchend ihre Blicke durch die Gegend schweifen ließen. Alle drei trugen gut sitzende Jeans und als hätte nicht schon das ausgereicht, unsere Aufmerksamkeit zu wecken, war es ihr erregter Wortwechsel, der locker ein paar Meter weiter zu hören war.
„Hier sind wir völlig falsch!", beklagte sich die eine von ihnen, eine kleine Rothaarige, während die Langbeinige mit dem hohen Pferdeschwanz energisch widersprach: „Nein, guck doch mal, da ist die Kirche, die wir auf der Karte gesehen haben. Irgendwo muss hier also die S-Bahnstation sein!"
Mit einem Lachen versuchte die Dritte, den aufkommenden Streit zu unterbinden: „Mädels, meckert nicht, ist doch egal, wir haben noch so viel Zeit. Dann gucken wir uns eben noch mehr hier an. Ihr wisst doch, Umwege erweitern die Ortskenntnis." Dabei schwang sie ihre Umhängetasche und warf in einer anmutigen Bewegung ihre blonden Locken über die Schultern nach hinten. „Süß, die mit dem Zopf", kommentierte Carsten und ich gab ein zustimmendes Brummen von mir, meinte aber damit die Blonde.
„Ich glaube, die haben sich verlaufen. Kommt, wir gehen mal hin". Carsten, der nie etwas anbrennen ließ, wartete nicht auf unsere Antwort, sondern stiefelte sogleich los.
„Er nun wieder", kommentierte Rainer und sah mich mit einem vielsagenden Blick aus hochgezogenen Augenbrauen an. Ich zuckte nur mit den Achseln. Es war eigentlich eine gute Idee, so könnte der Rest des Tages noch ganz interessant werden. Auch wenn ich nicht so offensiv wie Carsten agierte, für gewöhnlich kam ich bei den Mädels gut an, hatte derzeit keine Freundin und war daher für vielversprechende Gelegenheiten zu haben. In ein paar Schritten holten wir ihn ein.
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* FDJ = Freie Deutsche Jugend, kommunistische Jugendorganisation der DDR
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