5. August, Kathi
5. August, Katharina
Dieses Mal hatten wir uns am Bahnhof Marx-Engels-Platz verabredet, nur eine Bahnstation von dem Grenzübergang Friedrichstraße entfernt. Kopfschüttelnd betrachtete ich das Ostgeld, das ich wie immer hatte eintauschen müssen, dieses für mich so wertlose Zahlungsmittel, das man innerhalb eines Tages einfach nicht ausgeben konnte und das ich dann abends unter lautstarkem Protest Sascha in die Hosentasche steckte. Allerdings war sein Widerstand letzten Monat schon verhaltener gewesen, vielleicht konnte er es ja sparen. „Ich komme mir vor wie ein Prostituierter", hatte er letztes Mal nur trocken gesagt, dabei aber nachsichtig den Kopf geschüttelt und es zugelassen, dass ich ihm die Scheine in die Hosentasche schob.
Für heute hatte mir Nicki netterweise DM 15,- in die Hand gedrückt, die ich Sascha zu geben beabsichtigte, da ich mittlerweile erfahren hatte, dass Westgeld in der DDR ganz nützlich sein konnte. Natürlich hatte ich das bei der Einreise nicht angeben dürfen, denn der Betrag hätte ja bei der Ausreise gefehlt... und was hatte ich für Herzklopfen bei der Passkontrolle gehabt! Sie war mir länger als gewöhnlich vorgekommen, mir schien, als hätte der Grenzbeamte mich forschend eine Ewigkeit lang gemustert. Ich hatte mich so gelassen wie möglich gegeben, aber innerlich Blut und Wasser geschwitzt. Keine Ahnung, was passiert wäre, wenn man das Geld bei mir entdeckt hätte. Ich hätte mich einfach naiv gegeben... Aber es war ja zum Glück gut gegangen.
Was die Grenzbeamten wohl dachten, wenn ich jeden Monat dort auftauchte? Sicher führten sie Buch darüber. Verstohlen sah ich mich um, aber niemand folgte mir, wahrscheinlich wurde ich bereits paranoid. Sascha hatte mit den Methoden der Stasi sicherlich übertrieben. Natürlich war mir klar, dass unsere Briefe durch fremde Hände gingen, aber warum sollte die DDR etwas gegen unsere Beziehung haben? Ich meine, das war doch rein privat und hatte ja überhaupt nichts mit Politik zu tun.
Nachdenklich ließ ich meinen Blick über die Menschen gleiten, die wie ich der S-Bahn zustrebten. Ob sich unter ihnen jetzt irgendwelche Stasispitzel befanden? Und zu welchem Zweck? Es war mir wirklich ein Rätsel, warum so eine Organisation an dem Privatleben von Menschen interessiert war. Wir hatten ja den BND, aber der erschien mir eher so etwas wie der MI6 aus den James Bond-Filmen zu sein und der schlug sich ja nur mit Menschen herum, die die Welt bedrohten. Nervös kaute ich auf meinen Haarspitzen herum – es konnte ja wohl kaum sein, dass die DDR ihre eigenen Bürger als Bedrohung betrachteten.
Im Strom der Menschen stieg ich in die S-Bahn, blieb aber in der Nähe der Tür stehen, da ich ohnehin gleich wieder auszusteigen beabsichtigte und ließ meinen Blick über die Fahrgäste schweifen. Familien mit Kindern, einzelne Leute, die in ihr Buch vertieft waren, Paare, die sich unterhielten – es war nicht so anders als bei uns. Nur die Unterschiede in der Kleidung fielen mir auf und die Tatsache, dass hier keine südländischen Gesichtszüge zu entdecken waren, wie das ja bei uns gang und gäbe war.
War die DDR nun eine Diktatur? Aber hatten die Leute nicht hier vor einiger Zeit gewählt gehabt? Ich erinnerte mich vage an eine Unterhaltung meiner Eltern und peinlich wurde mir bewusst, dass ich kaum etwas über die DDR wusste, obwohl Berlin mittendrin lag. Ich kannte nur die zeitraubenden und manchmal unheimlichen Kontrollen, wenn wir mit dem Auto in die Bundesrepublik fuhren, und wusste von den Verboten von Büchern und Musik in der DDR – sicherheitshalber hatte ich auch heute wieder das Buch, das ich gerade las, zu Hause gelassen, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, woran die DDR bei einem Jugendbuch Anstoß nehmen könnte.
Ob ich Sascha mal danach befragen sollte und damit mein jämmerliches Wissen zugeben sollte? Er war mit dem Leben hier unzufrieden, das war mir klar, aber die genauen Gründe entzogen sich mir, denn es gab einfach viel schönere Themen und Beschäftigungen – ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht – als in unserer so kurz bemessenen gemeinsamen Zeit auf allem Negativen zu verweilen.
Die Bahn machte einen scharfen Ruck und warf mich gegen eine Stange, die ich haltesuchend ergriff. Sascha hatte von schönen Kindheitserinnerungen erzählt, vielleicht war es also einfach der jetzige Konflikt mit den anders denkenden Eltern oder das Gefühl, in der Öffentlichkeit nicht das sagen zu können, was er wollte, weil der gewünschte Studienplatz davon abhing, überlegte ich. Was ja auch wirklich beschissen war. Es erinnerte mich ein bisschen an unseren Deutschlehrer, der bei anderen Meinungen als die seinen gern eine schlechte Note verpasste.
Wobei ich insgeheim gar nicht so unglücklich darüber wäre, wenn es mit dem Studium in Moskau nicht klappen würde, dann würde Sascha ja stattdessen wohl in der DDR studieren. Einerseits. Andererseits wäre damit offenbar sein Traum zerstört, das wollte ich natürlich auch nicht.
Das Abbremsen der Bahn riss mich aus meinen Überlegungen und machte der rasant zunehmenden Vorfreude Platz. Die Helligkeit der Station ließ bei abnehmender Geschwindigkeit immer mehr Details deutlich werden und aufgeregt starrte ich durch die Scheibe auf den Bahnsteig und konnte Sascha schließlich neben einer Säule stehend entdecken.
Mit einer Euphorie gesegnet, die die fehlenden vier Wochen wettzumachen trachtete, verließ ich die Bahn ungeduldig als Erste und bahnte mir einen Weg die paar Meter zurück dorthin, wo er stand. Jetzt hatte er mich entdeckt und mit einem Lachen rannte ich auf ihn zu und warf mich ihm stürmisch in die Arme. Endlich, endlich, endlich! Überrascht bemerkte ich, dass er dabei kurz zusammenzuckte.
„Nur ein blauer Fleck", beschwichtige Sascha und lenkte meinen fragenden Blick mit einem beruhigenden Lächeln und einem langen Kuss ab.
„Fahren wir wieder nach Pankow heute?", fragte ich aufgekratzt und strahlte ihn an.
Sascha nahm meine Hand und schüttelte lächelnd den Kopf. „Heute fahren wir zum Zeuthener See. Ab aufs Wasser."
Enttäuschung überfiel mich, aber ich ließ mir nichts anmerken, die Hauptsache war, dass wir zusammen waren, der Rest war nebensächlich. Mehr oder weniger.
Die Bahnfahrt war lang, ich erzählte von den vergangenen Wochen, während Sascha meine Hand hielt und mich zwar ansah, aber dennoch merkwürdig abwesend wirkte. Er reagierte an den richtigen Stellen, schmunzelte oder verzog mitfühlend das Gesicht, aber er fragte nicht nach, wie ich es sonst von ihm kannte. Manches Mal glitt sein Blick gedankenverloren auf den Boden und nach einem Weilchen bemerkte ich, wie mich seine Augen abschätzend zu mustern schienen, doch schnell sah er dann wieder fort. Irgendetwas lag in der Luft, das ich aber nicht greifen konnte, und leicht verunsichert verstummte ich schließlich.
Der Bahnhof Zeuthen, an dem wir ausstiegen, kam wie eine Erleichterung. Händchen haltend schlenderten wir eine Straße entlang, während Sascha auf meine Frage hin auf seinen Urlaub zu sprechen kam. Die Erwähnung des Strandes auf Usedom ließ mich wieder sehnsüchtig an die Ostsee denken, auf der ich so gern einmal mit Sascha segeln würde. Ich hatte mich schlau gemacht: dafür brauchte ich ein Visum für den entsprechenden Ort, was im Voraus beantragt werden musste, insofern gab es da leider keinen Raum für Spontanität.
Das war schon echt nervig, diese ganzen Einschränkungen, wobei mir andererseits klar war, dass das eigentlich Meckern auf hohem Niveau war, immerhin hatte ich sonst alle möglichen Freiheiten, die Sascha nicht hatte!
Sascha erzählte von dem Campingwochenende mit Rainer, ließ aber die sonst bei ihm übliche Begeisterung vermissen. Seine ganze Art war irgendwie verhalten heute, was ich gar nicht von ihm kannte, bisher hatte er immer eine ungemeine Lebendigkeit ausgestrahlt. Ich war ratlos, wie ich damit umgehen sollte, und wurde schließlich unsicher, hatte es etwas mit mir zu tun?
„Hab ich was Falsches gemacht?", fragte ich schließlich impulsiv, denn ich war niemand, der sich lange mit Grübeleien aufhielt.
„Nee, wieso?", kam es sofort von Sascha und er blickte mich verwundert an.
Das war es also zum Glück nicht, dachte ich und lächelte erleichtert. Aber dennoch...
„Du wirkst heute irgendwie ... anders als sonst. Ist irgendetwas?"
„Nein, alles okay", blockte Sascha kurz ab und verzog die Lippen mechanisch zu einem Lächeln, ohne den gewohnten warmen Blick seiner Augen.
Gar nichts ist okay, dachte ich, das sehe ich dir doch an. Aber ich schwieg und drang nicht weiter in ihn, hoffte, dass er entweder später von sich aus reden würde oder sich die Stimmung von alleine wieder drehen würde.
Nachdem wir ein Paddelboot ausgeliehen hatten und Sascha eine Weile mit einer verbissenen Entschlossenheit in schneller Folge die Paddelblätter ins Wasser getaucht hatte, so dass ich kaum hinterher gekommen war, wurde er tatsächlich entspannter, als hätte er die körperliche Anstrengung gebraucht, um sich abzureagieren.
„Tut mir leid", sagte er, wandte sich zu mir um und lächelte wieder so, wie ich es ihm von ihm gewohnt war. Das nassgeschwitzte T-Shirt klebte ihm am Körper und wahrscheinlich sah ich nicht besser aus, aber egal. Er warf das Paddel ins Boot, beugte sich zu mir hinüber und küsste mich zärtlich.
„Das musste einfach sein."
„Was, der Kuss oder das rasante Paddeln?", scherzte ich.
„Beides", gab Sascha schmunzelnd zurück.
Und dann stieß das Boot sachte auf Grund, Sascha sprang hinaus in das flache Wasser und reichte mir die Hand, um mir rauszuhelfen. Anschließend verknotete er das Boot gekonnt an einer knorrigen Wurzel, die über dem Ufer hing. Schließlich zog er die nassen Schuhe aus und ging pfeifend barfuß weiter. „Komm!", forderte er mich fröhlich mit einem Kopfnicken auf und ich folgte, zufrieden darüber, dass die düstere Stimmung verflogen war.
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