4. Oktober, Sascha
4. Oktober, Sascha
„Und, wie geht es dir so im goldenen Westen?" Es sollte witzig klingen, aber kam irgendwie anders rüber.
„Ganz gut", war die vorsichtige Antwort. „Ich habe jetzt eine neue Ausbildung angefangen. Als Tischler. Du, das macht richtig Spaß." Die Begeisterung war seiner Stimme anzuhören. Es passte auch zu ihm, er hatte immer schon gern mit den Händen etwas gefertigt. Ich versuchte mir ein Bild von Rainer zu machen, aber es gelang mir nicht. Ich hatte auch keine Vorstellung davon, wie es in Hamburg aussah.
Als könnte Rainer meine Gedanken hören, äußerte er dann:
„Ich wollte dir eine Karte schicken, aber wusste nicht, was deine Eltern davon halten würden und habe es daher sicherheitshalber gelassen."
Mit der einen Hand angelte ich nach ein paar Salzstangen, die auf dem Wohnzimmertisch standen, während ich gleichzeitig tiefer in den Sessel sank und die Beine über die Lehne fallen ließ. Es knackte laut, als ich von den Salzstangen abbiss und dann erwiderte ich betont lässig:
„Mach doch, ich habe schon Schlimmeres erlebt als Post aus der Bundesrepublik zu bekommen."
Ein paar Sekunden herrschte Schweigen, er konnte sich denken, worauf ich anspielte. Vielleicht wusste er nichts darauf zu sagen, vielleicht war es auch nur eine Verzögerung in der Leitung, denn wie üblich waren wieder ständig Nebengeräusche zu hören. Weil sich meine Stimmung gerade ziemlich im Keller befand, fuhr ich schließlich mehr höflich als interessiert fort:
"Ich würde schon gerne wissen, wie es in Hamburg aussieht."
„Grün", kam es daraufhin enthusiastisch von Rainer, „Viele Parks. Und der Hafen ist riesig. Viel größer als in Rostock."
Ich beneidete ihn um seine Möglichkeiten, aber verbarg es hinter einem kühlen „Das freut mich...."
Was war los zwischen uns, wir waren doch beste Freunde? Offenbar bemerkte Rainer meine Stimmung durch den Hörer hindurch, denn er fragte sogleich:
„Ist irgendetwas?"
Ja, du bist im Westen und ich bin immer noch hier, dachte ich bitter, aber behielt meine Gedanken für mich. Rainer konnte schließlich nichts dafür, dass ich mich hatte anfahren lassen. Als Erklärung gab ich missmutig „Im November muss ich nach Sachsen" von mir.
„Scheiße", gab Rainer mitfühlend zurück. „Das heißt also, dein Knie ist wieder heil?"
„Geht so. Aber mit jedem Tag wird das Gehen besser."
Im Telefon knackte es, was mich unwillkürlich an das Abhören der Leitung denken ließ. Mist, ich hätte ihn gern vieles gefragt. Und gleichzeitig am liebsten den Hörer aufgelegt. Ich wollte gar nicht wissen, wie toll es im Westen war.
Gefangen in dieser Ambivalenz blieb das Telefonat oberflächlich und banal. Rainer fragte nach meinen Eltern und nach Kathi und ich nach seiner Familie. Rainers Bruder besuchte nun ein Gymnasium und Rainer erläuterte mir die verschiedenen Schulformen in Hamburg, die mich kein Stück interessierten.
Frustriert biss ich mir auf die Lippen. Würde dies das Ende unserer jahrelangen Freundschaft sein? Wenn wir nur noch seichte Unterhaltungen führen konnten und uns nie wieder sehen würden?
Ich schloss die Augen und versetzte mir mental einen Klaps auf den Kopf. Ich hatte mich entschlossen, optimistisch zu bleiben und nicht den Mut zu verlieren. Es würde einen Weg geben müssen. Es musste einfach! Ich fieberte der Demonstration entgegen, aber konnte natürlich Rainer nichts davon erzählen.
„Was macht Berlin?", erkundigte sich Rainer, nachdem er seinen Monolog beendet hatte.
„Macht sich schick für die 40-Jahr-Feier", gab ich flapsig zurück und hörte Rainer leise lachen. Und für einen kurzen Augenblick war das Gefühl früherer Leichtigkeit zurück. War es wirklich erst zwei Monate her, dass wir zusammen auf Usedom gewesen waren?
„Wie sind die Mädchen?", wollte ich dann wissen und spielte mit dem Telefonkabel.
„Schick", kam es postwendend zurück. „Die tragen Klamotten spazieren – unglaublich. Aber die Preise sind es auch... Nahrungsmittel, Kleidung, Miete – alles extrem teuer."
Er seufzte. „Im Laden stehst du vor der Auslage und weißt nicht, wofür du dich entscheiden sollst, von jedem Produkt gibt es sooo eine Auswahl, das kannst du dir nicht vorstellen."
Konnte ich nicht und wollte ich auch nicht.
„Und überall Werbung", fuhr Rainer fort, „Auf den Straßen, im Radio, im Fernsehen..."
Ich hörte nur noch halb hin, bis sich auf einmal Rainers Tonfall änderte.
„Sag mal..." begann er gedehnt, „...hast du eigentlich von Marek gehört?"
Ich setzte mich irritiert auf. Welcher Marek? Ich kannte keinen Marek.
„Ich hätte gedacht, du hättest mit ihm gesprochen...", fuhr Rainer nun mit eindringlicher Stimme fort. Was, zum Kuckuck, meinte er? Und dann fiel es mir wie Schuppen vor den Augen! Er meinte die Tschechoslowakei! Marek war ein tschechoslowakischer Vorname und Rainer wollte offenbar wissen, ob ich plante, mich auf den Weg in die Prager Botschaft zu machen, die sich gerade wieder mit DDR-Flüchtlingen füllte.
„Ja, habe ich..." begann ich vorsichtig, „... er ist allerdings momentan total beschäftigt."
Krampfhaft überlegte ich, wie ich fortfahren könnte, und entschied mich für:„Bei der Arbeit ist gerade viel Neues zu tun, da schafft er es leider nicht, vorbeizukommen. Vielleicht demnächst."
Fast hätte ich gelacht angesichts des absurden Dialogs, aber konnte mich gerade noch beherrschen.
„Ach so, klar", begriff Rainer, fügte dann aber resolut hinzu: „Aber Urlaub ist schon wichtig..."
„Ich glaube, er arbeitet auch daran, seinen Chef umzustimmen", war mein kryptischer, anschließender Kommentar.
Ob Rainer begriff, was ich meinte? Er schwieg einen Moment.
„Grüß mal, wenn ihr wieder sprecht!", erwiderte er schließlich, dann tauschten wir noch ein paar Belanglosigkeiten aus und versprachen, in Kontakt zu bleiben.
Ich beendete das Telefonat mit gemischten Gefühlen. Es war teilweise unbefriedigend gewesen, aber andererseits schön zu merken, dass wir gedanklich noch auf einer Wellenlänge waren. Mal gucken, was die Zukunft bringen würde...
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