4. Juli, Sascha

4 Juli, Sascha

Ich saß zurückgelehnt auf meinem Stuhl, die Füße auf dem Schreibtisch abgelegt, die Hände im Nacken verschränkt, und hing meinen Gedanken nach. Draußen wurde es endlich dunkel, der Himmel hatte eine tiefblaue Färbung angenommen. Aus dem Wohnzimmer drang das Gemurmel meiner Eltern. Nun war es schon Juli und nur noch fünf Monate...

Der Brief der NVA hatte heute im Briefkasten gelegen, im gestelzten Behördendeutsch war mir die Einberufung in eine Kaserne irgendwo in Sachsen mitgeteilt worden, das war quasi am anderen Ende der Republik. Weiter weg ging es wohl nicht, dachte ich zynisch und schubste frustriert mit dem Fuß ein paar Bücher vom Tisch, so dass sie mit einem Poltern zu Boden fielen.

„Sascha?", vernahm ich die fragende Stimme meiner Mutter.

„Alles in Ordnung", gab ich lauthals zurück.

Von wegen, gar nichts war in Ordnung. Ich lebte in einem Land, in dem die Wahlen gefälscht wurden, in dem man bespitzelt wurde und es riskant war, seine wahre Meinung zu sagen. In dem man zehn Jahre auf ein Auto warten musste und in dem kaum jemand einen Telefonanschluss hatte. In dem man in den Intershops die Verlockungen des Westens präsentiert bekam, sie aber ohne Devisen nicht erhalten konnte. Ein Land, in dem mancher froh sein konnte, studieren zu dürfen, sich aber nicht immer aussuchen konnte, welches Fach geschweige denn, an welcher Uni. Und dann diese Scheißmauer, die Berlin entzwei schnitt, und die scharf gesicherte Grenze, die das Land zu einem Gefängnis machte. Es war einfach zum Kotzen!

Es war dieses Gefühl von Hilflosigkeit, gepaart mit Frustration und Ärger, das mir immer öfter die Luft zum Atmen nahm und ich fragte mich, wie ich das die nächsten Jahre aushalten sollte. Während meine verständnislosen Eltern noch davon quatschten, dass der Sozialismus dem Westen überlegen war, wenn nicht schon wirtschaftlich, dann zumindest geistig und moralisch.

Die Zweifel, die sich langsam in mein Denken geschlichen hatten, hatte ich geduldig vor Schule und FDJ verborgen gehalten; für sie war ich das Musterbild eines sich engagiert für den Sozialismus einsetzenden Jugendlichen – eine Tarnung, die ich mir auferlegt hatte sowohl wegen der Furcht vor drohenden Disziplinarverfahren als auch vor der Begrenzung der persönlichen Weiterentwicklungsmöglichkeiten, falls ich mich offen äußerte.

Manchmal hatte ich das Gefühl, zwei Personen zu sein, die gleichzeitig existierten. Zum Einen der vorbildliche Alexander Brenner, einziger Sohn des SED-Bezirksvorsitzenden und seiner unermüdlich für den Sozialismus tätigen Frau. Und zum Anderen Sascha B., der im Stillen mit Freunden kritische Fragen erörterte, die ganze Republik zum Teufel wünschte und eine geheime Beziehung mit einem Mädchen aus Westberlin unterhielt.

Ersteres war wie eine Rolle im Theater, doch ich hatte das Gefühl, immer öfter kurz davor zu stehen, meinen Text zu vergessen. Wie, um Himmels Willen, sollte ich bloß diesen ätzenden Wehrdienst überstehen, ohne die Möglichkeit zu haben, mich mit Rainer offen austauschen zu können? Denn der war für eine Kaserne in der Nähe von Rügen vorgesehen. Und dann war da natürlich noch Kathi...

Ich starrte an die Decke, als wolle ich ein Loch hinein brennen. Wie, bitte, würden wir uns dann weiter Briefe schreiben können? Es war eh schon erstaunlich, dass bisher noch nie ein Brief abgefangen worden war, denn die Stasi wusste mit Sicherheit längst Bescheid. Vielleicht hatte ich ja deshalb nicht den gewünschten Platz an der Küste erhalten. Das Segeln hätte es mir erträglicher gemacht...

Und an den freien Wochenenden würden mich die Eltern zu Hause erwarten, da würde ich mich kaum zu einem Treffen mit Kathi fortschleichen können.

Ich ballte frustriert die Hände zu Fäusten und boxte in die Luft, was mich jedoch kaum beruhigte. Mit einem Ruck sprang ich auf, ging zum Fenster hinüber und öffnete es, so dass kühle Abendluft in das Zimmer strömte. Ohne dass ich es schon konkret in Worte hätte fassen können, reifte in mir langsam die Erkenntnis, dass ich in diesem Land, und auch in der Sowjetunion, keine Zukunft haben würde...

Ich blickte in Richtung Westen, wo unzählige Lichter vom Bestehen der Großstadt kündeten. Irgendwo weit, weit weg in dieser Richtung, jenseits der Mauer, wohnte Kathi... Sie war so unglaublich süß, lustig und sportlich. Ob sie noch wach war?

Zusammenhanglos kam mir der Gedanke, dass wir uns einmal gemeinsam fotografieren lassen sollten, es gab gar kein Foto von uns beiden. Bis zu unserem nächsten Treffen war es aber noch eine halbe Woche, denn dieses Mal trafen wir uns am zweiten Samstag. Zum Glück hatte sich nicht bewahrheitet,was Rainer von den begrenzten Besuchsmöglichkeiten berichtet hatte. Als Westberliner gab es Gott sei Dank mehr Möglichkeiten. 

Ich seufzte niedergeschlagen und schlug den Fensterflügel etwas lauter als nötig zu. Mein Blick fiel wieder auf den unheilverkündenden Briefumschlag der NVA. Nein, so konnte es nicht weiter gehen. Eine Lösung musste her und zwar bald...


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