30. Juni, Susanne
30. Juni, Susanne
„Ich glaub, ich kann das nicht", jammerte Susanne und zupfte nervös an ihrem blauen Fransentop herum.
„Blödsinn!", entgegnete Kathi ungerührt und begutachtete ihre Schwester noch einmal kritisch."Ging doch gestern auch".
Ja, gerade so eben, dachte Susanne, weil sie es geschafft hatte, Biggi von der Frage nach Sascha abzulenken. Obwohl sie zugeben musste, dass Kathis Freundinnen sonst nichts aufgefallen war, denn sie hatte ihre Rolle gut gespielt, hatte sich so locker und lustig gegeben, wie sie nur konnte. Gut, dass sie von Kathi immer auf dem Laufenden gehalten wurde, was sich in ihrer Schule so tat. Sie hatten über Hausaufgaben gemeckert, über Jungen geklönt, die Susanne nur vom Hörensagen kannte, und über Lehrer gelästert, als würde sie selbst jeden Tag unter ihnen leiden.
„Und heute sind ja nur wenige Leute da, die mich gut kennen", fuhr Kathi fort und zählte auf: „Markus und Nils aus Philo und Kerstin und Sonja aus Musik."
„Ja, alles Leute, die ich überhaupt nicht kenne", kommentierte Susanne bedrückt und zog die Nase kraus. Mit wem sollte sie bloß reden? Hätten nicht wenigstens Kathis Freundinnen eingeladen werden können?
„Feigling", zog Kathi sie auf und lächelte sie auf eine Weise an, die herablassend hätte wirken können, hätte Susanne ihre Schwester nicht so gut gekannt. „Alles hat eben zwei Seiten. Weniger zum Plaudern, weniger Gefahr, erkannt zu werden. Du willst doch Markus näher kennen lernen, oder?"
„Ja klar", druckste Susanne herum und war sich im Moment dessen angesichts der bevorstehenden Party gerade gar nicht mehr sicher. Nervös knabberte sie an dem Nagel ihres Zeigefingers.
„Lass das!", Kathi zog ihre Hand fort und gab ihr einen aufmunternden Knuff. „Stell dir einfach vor, du gehst in eine Disko, da kennst du auch niemanden. Und wenn er echt auf mich steht und du dann da bist, dann ergibt sich der Rest doch von alleine." Und mit sanftem Druck schob sie ihre Schwester aus dem Badezimmer in den Flur, wo sie beinahe mit ihrer Mutter zusammenstießen.
„Na, was habt ihr denn vor?", fragte sie leutselig, sah beide an, stutzte einen Moment und fragte dann: „Nicht zusammen?"
„Bin doch bei Maike eingeladen", murmelte Susanne und drückte sich an ihrer Mutter vorbei. Gut, dass diese nicht wusste, was sie vorhatte.
„Ach ja!" Ihre Mutter schlug sich schmunzelnd an die Stirn, „Hatte ich vergessen gehabt. Um 23.3o Uhr bis du aber wieder zurück."
„Mama!" Susanne blieb stehen und drehte sich entgeistert um, „Ich bin fast volljährig!"
„Und?" Ihre Mutter bedachte sie mit einem unschuldigen Blick, als wisse sie nicht, was sie damit anrichtete. Kathi hinter ihr stöhnte leise und rollte mit den Augen.
„Okay, 24.oo Uhr", bot sie schließlich ohne weitere Argumente seitens Susanne in generöser Art an, die Susanne jedoch alles andere als zu schätzen wusste.
„Keiner geht vor Mitternacht", betonte sie und kniff die Augen zusammen, als sie sich vorstellte, wie sie als Erste die Party verließ.
„Halb 1.oo Uhr, und wir holen dich ab, das ist mein letztes Wort", gab ihre Mutter erneut nach, ließ aber in ihrer Stimme keinen Zweifel aufkommen, dass das wirklich ihr letztes Angebot war.
Susanne holte einmal tief Luft – natürlich konnte sie sich nicht abholen lassen, schließlich war sie ja ganz woanders – und brachte ein gedehntes „Okay..." hervor.
„Aber ich kann mich ja von anderen Eltern mitnehmen lassen, dann müsst ihr nicht extra los. Ich rufe euch an, wenn ich losfahre."
Sie würde eben Geld für's Taxi mitnehmen müssen.
„Na gut", seufzte ihre Mutter, warf Susannes Outfit einen wohlwollenden Blick zu, der mit „Hübsch siehst du aus" endete und schickte noch ein „Viel Spaß!" hinterher, bevor sie die Treppen hinunter ins Wohnzimmer ging. Erleichtert grinsten sich die Schwestern an. Das war geregelt.
„Wird schon schief gehen!", machte Kathi ihr mit der bekannten Redensart Mut. „Viel Glück! Und erzähl mir alles! Ich warte auf dich heute Nacht!!!"
Susanne grinste in einer Mischung aus Hilflosigkeit und Abenteuerlust und ging dann mit beherzigten Schritten der Bushaltestelle entgegen.
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Schließlich stand Susanne vor dem Haus in der Weidenalle Nr. 8 und warf einen Blick auf das kunstvolle Keramikschild an der Tür, das erläuterte, dass hier Inge, Markus und Ines lebten, liebten, stritten. Sie blickte nach beiden Seiten die Straße entlang, doch außer ihr war hier niemand zu sehen, es war also noch Zeit, es sich anders zu überlegen. Wenn Jemandem auffiel, dass sie keine Ahnung vom Lessing-Gymnasium hatte und gar nicht die war, die sie vorgab zu sein, dann fiele das auf Kathi zurück...
Ungeachtet des inneren Aufruhrs nahm sie dann jedoch einen tiefen Atemzug, richtete sich entschlossen auf und klingelte. Die paar Sekunden, die sie warten musste, kamen ihr wie eine Ewigkeit vor und sie bekämpfte ihren Drang, sich einfach umzudrehen und zurück zum Bus zu gehen.
Endlich wurde die Tür aufgerissen und Markus tauchte im Türrahmen auf. Von nahem sah er sogar noch besser aus als sie ihn in Erinnerung hatte. Die hellblonden Haare waren mit Gel zu einer coolen Frisur in Form gebracht und seine Haltung hatte etwas ungemein Lässiges, wie er mit einem Getränk in der einen Hand da stand, während die andere auf dem Türgriff ruhte. Zu einer schwarzen Jeans trug er ein ebenso dunkles T-Shirt mit dem in bunten Buchstaben gehaltenen Spruch:Take love as dope and you will live.
Als er Susanne erkannte, setzte er ein fröhliches Lächeln auf, das auch die Augen erfasste. Er nahm die Hand von der Türklinke und machte eine Bewegung, als wolle er sie ihr reichen, stoppte aber mittendrin und machte stattdessen eine einladende Bewegung in den Flur.
„Kathi! Schön, dass du gekommen bist!"
Seine Stimme klang tief, viel tiefer, als sie gedachte hatte. Irgendwie hatte sie blonde Haare mit hellerer Stimme in Verbindung gebracht. Was nicht hieß, dass es ihr nicht gefiel, im Gegenteil.
Sie selbst brachte außer einem betont forsch vorgetragenem „Hi" nichts anderes heraus. Mit einem Lächeln überspielte sie ihre Verlegenheit und trat entschlossen ein.
„Hi Markus!"
Markus, der gerade im Begriff gewesen war, die Tür zu schließen, stoppte. Susanne drehte den Kopf. Ein Junge in einer mit Flicken übersäten Jeansjacke und eine Rothaarige schlüpften in den Flur und begrüßten Markus mit einer fröhlichen Lässigkeit, der man die Vertrautheit untereinander anmerkte, und überfielen ihn sogleich mit einer Frage.
„Ist deine Mutter heute fort? Und Ines?"
Das knappe Nicken wäre ihr beinahe entgangen. Also war kein Erwachsener anwesend, dann war sicherlich mit viel Alkohol zu rechnen. Und mit entsprechenden Peinlichkeiten. Zwar hatte Susanne ab und an vom Wein ihrer Eltern probiert und gelegentlich einmal Bier getrunken – was ihr aber nicht wirklich schmeckte – oder ein Glas Sekt, nichtdestotrotz stand sie nicht so auf betrunkenes Anbaggern. Kathi zwar auch nicht, allerdings hatte sie Susanne in Sachen Alkoholkonsum ein wenig voraus, was ihr eine Gardinenpredigt beschert hätte, hätten es ihre Eltern erfahren. Susanne fasste sich in einer impulsiven Geste an die Stirn, sie durfte auf keinen Fall vergessen, dass sie heute ihre Schwester spielte.
Inzwischen hatte sich die Rothaarige an Markus' Arm gehängt und beschwörte ihn inständig:„Wir müssen unbedingt in Ines' Zimmer nachgucken. Andi dreht sonst ab."
Susanne hatte keine Ahnung, worüber sie sprachen. Markus bat sie mit einem Blick, in dem sich der Frust, das angehende Gespräch abbrechen zu müssen, spiegelte, um Verständnis und sagte entschuldigend: „Geh doch schon mal den Flur entlang ins Wohnzimmer und hol dir etwas zu trinken. Ich komme gleich nach."
Lautlos seufzend ging Susanne in Richtung der Musik und betrat das Wohnzimmer. Einige Mädchen bewegten sich im Takt der Musik, die meisten anderen Gäste standen jedoch noch am Rande der provisorischen Tanzfläche und unterhielten sich, versuchten zumindest, der Lautstärke zu trotzen. Buntes Diskolicht ließ seinen Schein über die verschiedenen Gesichter gleiten. Waren die zwei Mädchen dahinten nicht aus Kathis Klasse? Zögernd ging Susanne auf sie zu und begrüßte sie mit einem unverbindlichen „Hi."
„Hi Kathi", gab die Größere von beiden lässig zurück, und als wären sie nicht unterbrochen worden, führten die Mädchen ihr Gespräch über irgendwelche Schminktipps nahtlos weiter.
Es dauerte nicht lange, bis Susanne sich zu langweilen begann. Mit ihren wenigen Schminkerfahrungen konnte sie wohl kaum glänzen. Warum waren bloß Biggi und Nicole nicht mit eingeladen worden? Das bunte Licht flackerte und ließ die Tänzer sekundenlang aufleuchten, denn inzwischen hatten sich schon mehr Leute auf die Tanzfläche getraut. Wer bediente eigentlich die Musik? Neugierig sah Susanne sich um und gewahrte einen kleinen bebrillten Typen an der Stereoanlage. Und da stand auch das Büffet. Ohne sich zu verabschieden wandte sie sich ab und ging zu dem Tisch hinüber, auf dem Salate, Baguettes und andere Köstlichkeiten standen.
Während sie sich auffüllte, bemerkte sie aus den Augenwinkeln, wie sich zwei jüngere Mädchen im Türrahmen herum drückten, beide zu jung, um zu den Gästen zu gehören. Mit neugierigen Augen sahen sie in den Raum hinein, die eine bewegte sich verstohlen im Takt der Musik. Konnten das Markus' Geschwister sein? Hatte er überhaupt welche? Resigniert gestand sich Susanne ein, dass sie gar nichts über ihn wusste. Und nach dem derzeitigen Stand der Dinge würde das auch so bleiben.
Es war eine dämliche Idee gewesen, hierher zu kommen, weil er sowieso kein weiteres Wort mit ihr wechseln würde, mittenmang all dieser anderen jungen Leute, die er sicherlich gut kannte. Wo war er überhaupt? Suchend blickte sich Susanne um. In diesem Moment setzte ein neues Lied ein. Es war eines ihrer derzeitigen Lieblingslieder, bei dem sie unmöglich am Rand stehen bleiben konnte. Sie stellte daher unauffällig ihren Teller auf einem Stuhl ab und begab sich auf die Tanzfläche.
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