30. April, Sascha
30. April , Sascha
Ich überprüfte noch einmal die Knoten und strich zum Abschied sanft über die Reling, fuhr über die zum Teil noch rauen Stellen, an denen ich noch tätig werden musste. Das Boot war nicht perfekt und es gab permanent etwas zu verbessern, aber das trübte meinen Stolz nicht. Ich hatte es in arbeitsintensiven und mühevollen Stunden selbst gebaut und das Gefühl, das ich hatte, als ich es letzes Jahr zum ersten Mal zu Wasser gelassen hatte und die Havel entlang gesegelt war, war unbeschreiblich gewesen.
Und auch jetzt verschaffte mir der Wind in den Segeln jedes Mal ein Gefühl von Freiheit. Mit dem Kopf gen Himmel gereckt und den steten Zug des Bootes spürend konnte ich vergessen, wo ich mich befand. Ich hatte der Jolle keinen simplen Mädchennamen gegeben, sondern nach einem Namen mit Bedeutung gesucht. Ocean dream hatte ich verworfen, die Anspielung war zu deutlich gewesen, aber sie in Anlehnung daran auf Dreamer getauft. Mein Plan war, mit ihr auf der Ostsee zu segeln, aber dazu musste ich erst einmal einen Bootsanhänger basteln, um sie dorthin zu bekommen und zurzeit beschränkte ich mich daher notgedrungen auf die Havel.
In angenehmer Stimmung nach der sportlichen Aktivität schloss ich kurz die Augen. Segeln war mein Ein und Alles. Seit Opa es mir beigebracht hatte – sieben Jahre war es jetzt her – war ich in meiner Freizeit davon nicht wegzubringen gewesen.
Es war ungemein praktisch, dass meine Eltern Rügen liebten und wir dort immer unsere Sommerurlaube verbrachten. Nachdem Opa vor drei Jahren das Zeitliche gesegnet hatte, hatten wir sein Boot geerbt und es auf der Insel gelassen. Meine Mutter segelte selten, mein Vater konnte sich überhaupt nicht dafür begeistern ( er empfand es als nicht klassenbewusst ), aber ich hatte es jeden Ferientag genutzt.
Ich warf noch einen letzten wohlwollenden Blick auf Dreamer, dann wandte ich mich um und ging mit beschwingtem Schritt den Steg entlang zum Ufer und zur Bushaltestelle hinüber. Weil es fast windstill war, hatte ich heute früher Schluss gemacht und entschloss mich nun spontan für einen Besuch des Babelsberg Parks.
Der Park war ein weitläufiges Areal, das früher einmal ein Landschafts- und Lustgarten des Kaisers gewesen war. Alte Bilder zeigten Spazierwege über getrimmte Rasenflächen, die sanft zur Havel hin abfielen. Heute war ein Teil des Parks nicht mehr für die Öffentlichkeit zugänglich, da er sich in Grenznähe befand, man hatte den Rasen von Sträuchern überwuchern lassen und sich kaum um die Instandhaltung der alten Gebäude gekümmert, mit Ausnahme des Schlosses, das jetzt ein Museum beherbergte.
Aber wenn man sich hiervon nicht abschrecken ließ, hatte man von einigen höher gelegenen Stellen bei zur Seite geschobenen Sträuchern und Büschen einen schönen Ausblick auf die umliegende Seenlandschaft und die Glienicker Brücke. Und auf die Mauer und Westberlin, das auf der anderen Seite der Glienicker Lake lag, auf dem beständig der Grenzschutz Patrouille fuhr.
Und mit diesem Anblick vor Augen wanderten meine Gedanken unwillkürlich zu Kathi. Per Luftlinie wohnte sie gar nicht so weit entfernt von hier, sie hatte es mir auf eine Serviette gezeichnet. Der Wannsee war nicht weit von ihrem Zuhause, das gleiche Wasser, das hier die Havel entlang floss, floss auch dort. So nah und doch Welten entfernt...
Meine gute Stimmung verschwand zusehends, es war ein Fehler gewesen, hierher zu kommen. Ich ließ die Zweige los, die sofort wieder zusammen schlugen und bugsierte mich rückwärts zurück in die Nähe des Weges. Dort ließ ich mich ins Gras fallen, starrte in den wolkenlosen Himmel über mir und spielte gedankenverloren mit einem trockenen Zweig in meiner Hand.
Eine Woche war ihr Besuch nun her und es verging kein Tag, an dem ich nicht an sie dachte, bei Fahrten in der S-Bahn, bei der drögen Staatsbürgerkunde, selbst bei den Mahlzeiten mit meinen Eltern. In guten Momenten war ich euphorisch, eine Fernbeziehung mit einer aus dem Westen, warum nicht? In schlechten Momenten dachte ich an die Risiken, die mir daraus erwuchsen.
Wenn ich das fortführte, würde es nicht auf Dauer unbemerkt bleiben, das war klar. Selbst wenn die Briefe an Rainer gingen, war ich nicht so naiv zu glauben, der Stasi würde der Kontakt zwischen uns entgehen. Über alle einreisenden Touristen wurde genauestens Buch geführt und irgendwann würde mein Vater sicherlich Wind davon bekommen, mit wem ich mich auf einmal traf.
Wodurch ich das Versprechen brach, das ich ihm quasi gegeben hatte: Nichts zu tun, was andere auf die Gedanken bringen konnte, ich täte etwas Ungesetzliches. Er hatte mir geholfen, den Studienplatz in Moskau zu arrangieren, in Nullkommanix konnte er dafür sorgen, dass ich ihn auch wieder verlor. Wollte ich das wirklich riskieren?
Mal ganz abgesehen von der Gefahr, dass mir ein regelmäßiger Westkontakt meine beruflichen Möglichkeiten hier in der DDR so was von verhageln könnte. Adé, Studium und ab in den Betrieb. Mutmaßlich. Oder würden meine familiären Beziehungen und mein eifriges Engagement für diesen Staat mich vor diesen Repressalien schützen können?
Wütend starrte ich auf den Boden vor mir, dessen Grasfläche mit Sand versetzt war und daher trocken und gräulich aussah. Ich wäre ein Idiot, alles aufs Spiel zu setzen für ein Mädchen von drüben. Doch allein schon, wenn ich mir ihren Anblick vor Augen rief, spürte ich mein Herz schneller schlagen. Ihre fröhliche, lockere Art, die so eine Leichtigkeit ausstrahlte, hatte es mir angetan, ebenso ihr Humor und besonders auch das Gefühl, dass sie verstand, was in mir vorging.
Es war unmöglich, sie einfach zu vergessen!
Verdammt, warum musste ich mir um so etwas Gedanken machen? Warum konnte ich nicht einfach mein Leben so führen, wie ich es wollte!
Erfüllt von einem Gefühl des Trotzes - ich ließ mir doch nicht vom Staat vorschreiben, wen ich lieben durfte – brach ich den Zweig mitten durch und schleuderte beide Teile mit einer Aggressivität fort, die ich gar nicht an mir kannte. Ich hatte es so satt, ständig alles vorgegeben zu bekommen und die Erwartungen anderer zu erfüllen anstelle meiner eigenen. Mir war klar, dass meine Eltern eine bestimmte Richtung meiner beruflichen Zukunft im Auge hatten und deshalb den Wunsch nach einem Studium in Moskau unterstützten, der weitere Weg war damit eigentlich vorgezeichnet.
Ich jedoch konzentrierte mich auf den kurzfristigen Vorteil, die DDR hinter mir lassen zu können. Ich lebte seit Monaten nur für diesen Gedanken – endlich weg von den Eltern mit ihren ideologisch verbrämten Plattitüden und raus aus diesem von Mauern umschlossenen Heimatland mit seinen grauhaarigen und faltigen Ministern, die nicht sehen wollten, dass die Entwicklung der DDR in eine Sackgasse führte.
Etwas ruhiger geworden bemerkte ich das Zwitschern eines Vogels in meiner Nähe, suchend sah ich mich um, konnte aber zwischen den belaubten Ästen nichts entdecken. Ansonsten war es ruhig und nicht eine Menschenseele war zu erblicken. Die meisten Besucher des Museums hielten sich an den oberen direkt zum Schloss führenden Weg, denn das Gelände hier war nun wirklich keine Augenweide.
Ein Eichhörnchen nutzte die Stille, um von einem Baum hinunter durch das Gras zum nächsten Baum hinüber zu flitzen. Ich beobachtete mürrisch, wie es den Baum hinaufkletterte und in seiner Krone verschwand und merkte, dass ich mich mit Belanglosigkeiten ablenkte, um einer Entscheidung auszuweichen, die ich in absehbarer Zeit zu treffen hatte. Das Vernünftigste wäre es, Samstag in zwei Wochen einfach nicht aufzukreuzen. Das Ganze im Sande verlaufen lassen, bevor sich mehr daraus entwickeln konnte...
Ich stellte mir vor, wie Kathi vergeblich an der Friedrichsstraße stehen würde, sich enttäuscht oder auch verärgert umschauen würde. Wie lange würde sie auf mich warten? Eine halbe Stunde? Eine Stunde? Sie würde mich schnell vergessen... Schließlich hatten wir uns nur ein einziges Mal verabredet. Und ich würde sie mir aus dem Kopf schlagen. Aber allein der Gedanke daran ließ mich unwillig das Gesicht verziehen.
Denn diese Vorstellung fühlte sich nicht gut an. Nicht ein einziges bisschen.
*Stasi = Staatssicherheitsdienst
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