23. April, Sascha

Sascha

Sie war tatsächlich gekommen! Ich hatte es gehofft, aber kaum damit gerechnet. Denn mal ernsthaft, dieser ganze Aufwand mit dem Grenzübergang ... welcher Jugendliche von drüben kam da schon freiwillig zum Besuch in die DDR? Ich weiß auch nicht, was mich geritten hatte, hastig diese Nachricht an sie zu verfassen, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen. Außer dem starken inneren Gefühl, dass ich sie nicht einfach ziehen lassen konnte. Zu sagen, ich hätte in den vergangenen Wochen nicht an sie gedacht, wäre eine Untertreibung dritten Grades gewesen.

Dass ich jetzt wirklich hierher gefahren war, im vollen Bewusstsein, etwas Riskantes zu tun, statt mir diese Idee sang- und klanglos aus dem Kopf zu schlagen – die guten Geister hatten mich definitiv verlassen. Was nichts Gutes verhieß, denn ein Schutzengel, der mich davor bewahrte, von Bekannten entdeckt zu werden, wäre mir jetzt schon recht gewesen. Wie bescheuert war ich eigentlich, dass ich mich in der Öffentlichkeit mit einer von denen traf!? Wieso funktionierte mein Sicherheitskompass auf einmal nicht mehr?

Ich sah, wie sie sich suchend umblickte und dann stehenblieb und zur Straße schaute. Statt der offenen Haare trug sie heute einen Zopf, der ihr Gesicht betonte, sie trug Jeans und eine Jeansjacke und sah genauso süß aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Sie hatte mich noch nicht entdeckt, ich konnte mich also einfach umdrehen und gehen. Ich sollte einfach gehen... sie vergessen... es konnte mir so was von schaden...

Brenner, du Idiot! Meine Füße hatten sich selbständig gemacht, ich löste mich aus dem Schatten der Gebäude und ging lächelnd auf sie zu. Auch sie begann zu lächeln, als sie mich gewahrte, war das Freude oder Erleichterung? Egal. Ich gab ein banales „Hallo" von mir, was Kathi mit einem „Hi" beantwortete. Verlegen sahen wir uns an.

„Ich dachte, wir fahren mal zum Müggelsee", schlug ich nervös vor. „Von dem ich dir erzählt hatte."

Viel gab es hier nicht, womit ich sie beeindrucken konnte, aber das, was ich erzählt hatte, hatte ihr ja offenbar gefallen. Zwar konnten wir nicht segeln, denn das Boot lag in Potsdam, aber ich hoffte mal, es würde ihr generell auf dem Wasser gefallen, zumindest konnten wir dort ein Boot leihen.

„Klingt gut", stimmte Kathi zu und lächelte.

Die Sonne strahlte ihr ins Gesicht und verlieh ihrem Haar einen goldenen Schimmer. Es war ein bezaubernder Anblick. Impulsiv stellte ich die erste Frage, die mir in den Kopf kam: „Du hast keinen festen Freund, oder?" Und hätte mir anschließend fast die Zunge abgebissen.

Kathi warf mir einen überraschten Blick zu, schüttelte den Kopf und begann dann zu lachen.

„Sind solch direkte Fragen typisch für die DDR?", wollte sie wissen.

Ich zuckte dazu nur mit den Schultern. Für mich war es jedenfalls nicht typisch, es sei denn, es ist mir wichtig, dachte ich, sprach es aber nicht aus, denn ich fühlte mich in Kathis Gegenwart auf einmal ungewohnt gehemmt. Ob es daran lag, dass sie aus dem Westen war? Oder sie mir besser gefiel als sonst die Mädchen, mit denen ich mich verabredet hatte?

„Und du?", fragte nun Kathi mit schief gehaltenem Kopf.

„Auch nicht."

Ihr Lächeln und damit ihre Grübchen vertieften sich und mit den vielversprechenden Möglichkeiten, die unsere beiden Eingeständnisse eröffneten, spürte ich unwillkürlich mein Herz schneller schlagen. Rigoros ignorierte ich die Vernunft, die mich anderes zu tun hieß und ließ zu, dass sich ein strahlendes Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete, das vermutlich meine Gefühle nur zu deutlich widerspiegelte. Für einen Moment sahen wir uns schweigend in die Augen und ich vergaß den Trubel der Passanten um uns herum und das Risiko, von unerwünschten Augenpaaren gesehen zu werden.

Bis ich mir schließlich einen Ruck gab. „Komm, wir nehmen die S-Bahn, bevor wir hier Wurzeln schlagen."

Willig folgte sie mir zum Bahnhof, während sie sich neugierig umschaute. Bestimmt verglich sie es mit dem Westen. Meine Vorstellung davon, wie es drüben aussah, hatte ich dem Westfernsehen entnommen. Bei mir zu Hause wurde offiziell kein Westfernsehen geguckt, aber natürlich schaltete ich ein, wenn meine Eltern nicht zu Hause waren. Ich fand jedenfalls, dass hier nichts war, wofür wir uns schämen mussten.

„Und – sieht es bei euch anders aus?", konnte ich mir die Frage dann doch nicht verkneifen, als wir die Treppe zum Bahnhof hinabstiegen.

Kathi zögerte ein wenig. „Es ist sehr sauber hier...", stellte sie fest, „Aber ein wenig farblos..."

„Was meinst du?", fragte ich verwundert und hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.

Kathi machte eine ausholende Handbewegung. „Na ja, keine Reklame und so ..." Sie verstummte. Mir war nicht wirklich klar, was sie meinte, aber ich ließ das Thema ruhen, denn Politik war das Letzte, an das ich in ihrer Gegenwart denken wollte. Als Kathi fragend vor einem Fahrkartenautomaten stehenbleiben wollte, winkte ich ab:

„Ich habe schon eine Karte für dich."

Mit einem Dröhnen fuhr die S-Bahn in den Bahnhof, wir stiegen ein und ließen uns auf einen Platz gegenüber voneinander fallen.

„Erzähl mir mal von dir!" forderte ich Kathi auf und streckte meine Beine aus, so dass sich unsere Füße berührten. Neidisch blickte ich auf ihre Markenturnschuhe herab. Insgeheim hätte ich solche auch gerne gehabt. Nicht, dass ich das irgendjemandem erzählt hätte, denn als Sohn eines bekannten Parteimitglieds verzichtete ich selbstverständlich auf Produkte vom Klassenfeind. Die Vorbildfunktion war mir früh anerzogen worden. Auch wenn ich längst vieles in meinem Land nicht mehr gut hieß, ließ ich mir das nach außen hin nicht anmerken. Allein schon das Wort Klassenfeind. Dieser sogenannte Feind saß mir nun gegenüber und berichtete fröhlich:

„Also, ich bin fast achtzehn, gehe in die elfte Klasse, bin eine waschechte Berlinerin und wohne in Zehlendorf, quasi direkt am Wannsee, zusammen mit meinen Eltern, meiner Zwillingsschwester und keinem Hund."

Mit den Händen unterstrich sie lebhaft das Gesagte.

„Wow, das nenne ich auf den Punkt gebracht." Ich schmunzelte. „Aber warum kein Hund?"

Kathi zuckte mit den Achseln. „Ich hätte gerne einen, aber meine Mutter ist allergisch gegen alle Tierhaare."

„Ach so", ich nickte wissend. „Und deine Schwester? Seid ihr eineiige oder zweieiige Zwillinge?"

„Wir sehen genau gleich aus", gab Kathi zurück und grinste verschmitzt: „Das haben wir schon oft mal ausgenutzt. Bei Klassenarbeiten...oder um jemanden zu veralbern..."

Wie ich sie so ansah, konnte ich mir das gut vorstellen, sie war mit Sicherheit kein Kind von Traurigkeit. Der Schalk blitzte aus ihren Augen. Und dann gab sie eine lustige Episode zum Besten, so dass ich ausgelassen losprustete.  Meine Nervosität hatte sich verflüchtigt, ich fühlte mich in ihrer Gegenwart so wohl wie schon lange nicht mehr und genoss jeden einzelnen Moment.

„Und du?", wollte sie dann wissen, nachdem wir uns wieder beruhigt hatten.

„Na ja, mein Hobby kennst du ja schon und dass ich gerade Abi mache, weißt du auch. Ich bin Einzelkind, geboren bin ich in der Nähe von Wismar, und als ich vier war, sind wir nach Berlin gezogen", zählte ich auf.

Kathi runzelte die Stirn. „Wo liegt Wismar?"
Amüsiert schüttelte ich den Kopf. „Lernt ihr das nicht in Geografie?"
„Weißt du, wo Hamburg liegt?", konterte sie.
„Klar!"
„Und Frankfurt?"
„Auch"
„Und...Trier?"

Jetzt musste ich passen. „Ok, überzeugt." Ich hob meine Hände in einer Geste des Ergebens und erläuterte: „Wismar liegt an der Ostsee, es ist unsere zweitgrößte Hafenstadt."

„Aha, daher die Liebe zum Wasser", begriff Kathi.

„Genau. Mein Opa hat in Wismar gelebt, bis er starb. Er hat mir das Segeln beigebracht. Und er war oft mit uns im Urlaub auf Rügen."

Kathi blinzelte. „Die Insel kennst du schon, oder?"

„Jaaa...", gab sie gedehnt zurück, woraus ich nicht entnehmen konnte, ob ihre Worte der Wahrheit entsprachen.

„Ich kenn mich mit Badeorten nicht so aus", gab sie dann zu und schob die Füße nach vorne, wobei sie angelegentlich meine Beine streifte. „Wir sind im Urlaub immer in die Berge gefahren. Bayerischer Wald, Eifel, Alpen und so. Und einmal nach Frankreich. Aber diesen Sommer geht es nach Mallorca. Also endlich mal Strand."

Sie strahlte in Vorfreude, dann verdüsterte sich ihre Miene. „Sorry, das sollte ich wohl nicht sagen", entschuldigte sie sich dann verlegen und sah betreten zu mir hin.

„Wieso, wegen der Mauer?" 

Kathi nickte. „Weil ihr da ja nicht hin könnt."

„Dafür können wir ans Schwarze Meer", entgegnete ich sofort, fand es aber sympathisch, dass sie versuchte, rücksichtsvoll zu sein.

„Rahnsdorf", plärrte es durch den Lautsprecher.

„Wir sind da", verkündete ich und nahm ohne nachzudenken Kathis Hand und zog sie hoch. Als mir bewusst wurde, was ich tat, hatte sie ihre Finger schon zwischen meine geschoben.

„Damit ich nicht verloren gehe", erklärte sie mit einem Augenzwinkern, so dass mein Herz gleich wieder begann, seine Taktung zu erhöhen.

Vor mir lagen ein paar wunderbare Stunden auf dem See, bei schönstem Wetter, mit einem süßen Mädchen an meiner Seite. Konnte es etwas Besseres geben?

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