21. August, Sascha

21. August, Sascha

„Sascha!"

Muttis besorgte Stimme drang wie durch Watte an mein Ohr und benommen fragte ich mich, warum sie so beunruhigt klang. War irgendetwas passiert? Irgendwie konnte ich keinen klaren Gedanken fassen.

„Sascha, wach auf!"

Sie klang auf einmal drängend und widerwillig schlug ich die Augen auf, damit sie Ruhe gab. Doch vor der Helligkeit des Raumes zuckte ich zurück.

„Sascha!"

Mutti ließ nicht locker und vorsichtig öffnete ich erst eines, dann das andere Auge und blinzelte. Die Decke war strahlend weiß. Ich drehte den Kopf, auch die Wände waren weiß. Und da saß meine Mutter auf einem Stuhl neben mir und schaute mich besorgt an. Mit dem antiseptischen Geruch, der mir in die Nase stieg, kam die Erkenntnis: Ich war im Krankenhaus. Meine Mutter griff nach meiner Hand und lächelte mich erleichtert an.

„Du hattest einen Unfall", erläuterte sie. „Das Krankenhaus hat uns angerufen. Zum Glück ist nur deine Kniescheibe gebrochen. Und eine leichte Gehirnerschütterung. Du hast riesiges Glück gehabt."

Ich sah sie verwirrt an und mein Kopf schmerzte. Dann fiel mein Blick auf das bis zum Oberschenkel eingegipste rechte Bein und ich stöhnte leise auf.

„Du musst ein Weilchen liegen", erläuterte Mutti. „Deshalb bleibst du zwei Wochen erst mal im Krankenhaus. Wenn alles gut heilt, kannst du danach nach Hause und dort die Heilung fortsetzen. Auf jeden Fall musst du die nächsten Wochen erst mal Gips tragen."

„Wie lange?", fragte ich entsetzt.

„Die Ärzte gehen von sieben Wochen aus..." begann meine Mutter.

Sieben Wochen! Ich schloss frustriert die Augen.

„Wie es weitergeht, gucken wir dann", fuhr Mutti fort. „Jetzt werde erst mal gesund."

Ihre Stimme verlor sich für einen Moment, während ich das Gefühl hatte, irgendetwas hätte sich um mein Gehirn gelegt und hinderte mich daran, klar zu denken. Wie aus weiter Ferne hörte ich Muttis Frage, was eigentlich passiert war.

Ja, was war eigentlich gewesen? Das letzte, woran ich mich erinnerte, war die Euphorie, in der ich von meinem Besuch bei Rainer zurück gekehrt war. Dort hatte das Telefon geklingelt und ein Bekannter hatte angerufen – direkt aus Österreich, wo er sich seit einem Tag befand, nachdem er mit Hunderten anderer DDR-Bürger unbehelligt von den Grenzern über die ungarisch-österreichische Grenze spaziert war.

Rainers Eltern waren ganz ruhig und gelassen geblieben, sie wollten wie geplant zwei Tage später nach Ungarn in den Urlaub fahren, an den Balaton, wie sie es jedes Jahr taten, und hatten nach eigenem Bekunden nicht vor, die DDR zu verlassen.

Aber Rainer und mich hatte die Nachricht elektrisiert. Da war sie, die Möglichkeit, auf die wir gewartet hatten! Ich hatte am selben Tag bereits mein Visum für Ungarn erhalten und nun stand einer Reise dorthin nichts im Wege. Ich würde bei Kortmanns mit auf dem Campingplatz unterkommen können und alles Weitere würden wir dann sehen... Uns war klar, dass wir schnell sein mussten, bevor sich die Grenzen wieder schlossen, am liebsten wären wir sofort losgefahren und nur mühsam hatten wir unsere Aufregung vor Rainers Eltern verbergen können.

Ich hatte Rainer mit einem Gefühl von Optimismus verlassen, das ich schon lange nicht mehr verspürt hatte. Fröhlich pfeifend war ich nach Hause marschiert mit der festen Absicht, mein Geld zu holen, um mir am Bahnhof noch am gleichen Tag eine Fahrkarte nach Budapest zu besorgen. Aber das konnte ich meiner Mutter jetzt natürlich unmöglich verraten.

Und dann... War ich beim Überqueren der Straße zu unaufmerksam gewesen, mit meinen Gedanken längst in der Zukunft und nicht mehr im Hier und Jetzt? Ich wusste es nicht. Das Letzte, woran ich mich jetzt erinnerte, waren ein dumpfer Schlag und ein fieser Schmerz, der mir durch's Knie geschossen war und dann nur noch Schwärze um mich herum...

"Die Polizei sagt, der Fahrer hat wohl zu spät gebremst...", äußerte Mutti in fragendem Ton. „Sascha?"

Ich gab mit einem Nicken zu verstehen, dass ich zuhörte.

„Hast du den Wagen denn nicht gesehen?", wollte sie erstaunt wissen.

„Weiß nicht", brummte ich und hielt einfach die Augen geschlossen, denn so fiel es mir leichter, die Realität auszublenden. Krankenhaus, wochenlanger Gips, es war der Horror schlechthin.

„Die Polizei wird dir noch ein paar Fragen stellen, aber das hat Zeit bis morgen", informierte mich nun meine Mutter und setzte noch hinzu:„Du kannst wirklich froh sein, dass du so glimpflich davongekommen bist."

Ein unterdrücktes Schluchzen schwang in ihrem Satz mit und mit ein wenig schlechtem Gewissen öffnete ich schließlich wieder die Augen und sah meine Mutter an.

„Ich habe keine Ahnung, was passiert ist", gestand ich schließlich müde.

„Ich denke, morgen wirst du dich wieder mehr erinnern." Mutti lächelte mich optimistisch an. „So ein Narkosemittel wirkt ganz schön lange auf das Gehirn."

Eine Operation – kein Wunder, dass ich mich so benommen fühlte. Dann fiel mir siedend heiß etwas ein.

„Welches Datum ist heute?", fragte ich hektisch und fuhr mit dem Kopf hoch.

„Der 21. August", gab meine Mutter ruhig, aber verwundert zurück.

Scheiße! Ich musste Rainer informieren.

„Mutti, kannst du mir einen Gefallen tun?"

Ich stemmte mich mühsam aus den Kissen hoch und ignorierte das sofort einsetzende Schwindelgefühl.

„Bitte sag Rainer Bescheid, dass ich im Krankenhaus liege. Wir waren für morgen verabredet..."

Mutti seufzte. „Hatten wir dir nicht gesagt, dass du dich nicht mit dem Kortmann-Jungen treffen sollst...?"

„Ja, ja", gab ich ungeduldig zurück und ignorierte mühsam das Pochen im Kopf, das von Sekunde zu Sekunde stärker wurde. „Mutti, bitte!"

Ich spürte, wie mir vor Anstrengung warm im Gesicht wurde. Meine Mutter warf mir einen verwunderten Blick zu.

„Ja, ja, gut, mache ich", versprach sie schließlich und erschöpft ließ ich mich wieder in die Kissen fallen und gab dann meiner Mutter die Adresse. Hoffentlich hielt sie ihr Versprechen. Meine Kopfschmerzen wurden allmählich unerträglich und mir drehte sich alles, obwohl ich lag. Das nannte sich leichte Gehirnerschütterung?

„Du ruhst dich jetzt erst einmal aus, Sascha", sagte Mutti liebevoll und fuhr mir mit der Hand kurz über meine Haare, was ich ausnahmsweise einmal widerstandlos über mich ergehen ließ. „Heute Abend kommen wir wieder."

Mit diesen Worten nahm sie ihre Handtasche und verließ mit einem letzten Winken das Zimmer. Ich dachte an die Kortmanns, die morgen nach Ungarn aufbrechen würden, an die verlorene Chance, dort die Grenze zu überwinden. An sieben Wochen Gips, danach würde es bereits Oktober sein und das Segeln über die Ostsee mehr als riskant. An Kathi, die Anfang September vergeblich auf mich warten würde. Mit einem Schlag hatten sich all meine Pläne in Luft aufgelöst. Ich vergrub meinen Kopf im Kissen und vergoss lautlos bittere Tränen.

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Es klopfte, aber ich war viel zu schlecht gelaunt, um ein Herein von mir zu ergeben. Außerdem erwartete ich noch niemanden. Mein Zimmergenosse hingegen, der mir gegenüber am Fenster lag, sah neugierig auf. Es war inzwischen Nachmittag und die Wirkung der Narkose hatte nachgelassen. Ich war nun wieder klar im Kopf, litt dafür aber zunehmend unter Schmerzen im Knie und auch die Kopfschmerzen waren, wenngleich weniger geworden, noch nicht verschwunden. Frustriert versuchte ich mich mit der Zeitschrift, die mir mein Zimmergenosse geliehen hatte, abzulenken. Mit einem Schnappen fiel die Tür ins Schloss.

„Heh, Brenner, was machst du denn für Sachen!", hörte ich Rainers muntere Stimme und mit einem Ruck wandte ich mich um, was ich sogleich bereute, als ein fieser Schmerz durch meinen Kopf fuhr. Rainer kam mit großen Schritten und einem fröhlichen Gesichtsausdruck auf mich zu und setzte sich auf die Kante meines Bettes.

„Scheiß-Timing", wisperte er dann ernst.

„Das kannst du laut sagen", stimmte ich niedergeschlagen zu, meinen eigenen Worten zum Trotz ebenfalls flüsternd, und legte die Zeitschrift beiseite. „Aber schön, dass du nochmal vorbei kommst."

„Ehrensache", brummte Rainer und ließ seinen Blick rasch durch den Raum wandern.

Der andere hatte sich wieder abgewandt und sah gelangweilt aus dem Fenster. Das dritte Bett direkt an der Tür war noch frei.

„Was sagen die Ärzte?", wollte er dann wissen.

„Zertrümmerte Kniescheibe. Zwei Wochen Krankenhaus, dann noch zwei Wochen Liegen zu Hause und anschließend Gehgips. Wenn alles läuft, wie geplant, kommt der Gips in sechs bis sieben Wochen ab."

Ich zog eine Grimasse und Rainer nickte mitfühlend.

„Wann geht es morgen los?" erkundigte ich mich dann mit leiser Stimme.

„Um sechs Uhr starten wir den Trabi. Mal gucken, wie lange es dauert, bis er anspringt."

Er grinste schief in dem Bemühen, die Stimmung mit einem Scherz aufzuhellen, doch ich tat ihm nicht den Gefallen eines Lächelns.

„Heh!" Rainer versetzte mir einen Rippenstoß und legte all seinen Optimismus in den nächsten Satz. „Im Oktober kommst du nach."

„Bestimmt. Genau während der 40-Jahr-Feier", gab ich sarkastisch zurück. „Der Zug fährt ohne mich ab. Im wahrsten Sinne des Wortes."

Rainer seufzte und wusste nichts mehr zu entgegnen. Wir wussten beide, dass ich recht hatte. Für ein Weilchen schwiegen wir. Dann nestelte Rainer an seinem Rucksack herum und zog einen Brief heraus.

„Hier, der lag gestern noch im Briefkasten."

Ohne ein Wort nahm ich ihn entgegen und verstaute ihn in der Nachttischschublade.

„Zukünftig geht das dann vielleicht nicht mehr", kündigte Rainer an und senkte den Kopf. „Wir wissen noch nicht..."

Ich nickte wortlos.

„Du kannst die Schlüssel nehmen. Von der Datsche. Für alle Fälle..." Seine Stimme verlief sich.

Mechanisch nahm ich auch diese entgegen, während sich mir in unangenehmer Weise die Kehle zudrückte. Bevor ich den Gedanken verarbeiten konnte, dass ich Rainer möglicherweise das letzte Mal vor mir stehen sah, fiel mir rasch ein, dass er auch meine einzige Gelegenheit darstellte, Kathi zu benachrichtigen.

„Hast du einen Stift?"

„Ich glaub schon..."

Er wühlte in seinem Rucksack. Ich sah mich auf der Suche nach Papier um, entdeckte aber nur das Taschenbuch, das meine Mutter für mich da gelassen hatte. Entschlossen schlug ich es auf und riss die unbedruckte erste Seite heraus.

„Kannst du eine Nachricht an Kathi schicken?"

Ich wartete die Antwort nicht ab, sondern fing sofort an, ein paar Wörter auf das Papier zu kritzeln:

Liebe Kathi, bin mit einer gebrochenen Kniescheibe bis auf Weiteres im Krankenhaus. Mit dem Treffen am 2.9 wird es daher leider nichts. :-(   Ich melde mich wieder, sobald ich kann. Ich denke an dich. Dein Sascha.

Dann fügte ich noch ihre Adresse hinzu und reichte Rainer den gefalteten Zettel, der ihn sorgfältig verstaute.

„Sobald ich kann", versprach er zu meiner Erleichterung. Dann gab es nichts mehr zu sagen.

„Also dann..." begannen wir fast gleichzeitig, grinsten uns noch einmal an, wie wir es all die Jahre getan hatten, und gaben uns einen kräftigen Händedruck. Auf eine Umarmung verzichteten wir unausgesprochen, sie wäre zu auffällig gewesen.

„Mach's gut!", brachte ich heraus und drückte noch ein wenig fester.

„Wir sehen uns!", gab Rainer leise zurück und hielt entschlossen noch einen Moment meinen Blick. Dann griff er nach seinem Rucksack und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer, während ich ihm noch einige Sekunden lang wie betäubt hinterher sah.

Es kam mir vor, als bräche Stück für Stück etwas von meinem bisherigen Leben ab, ohne dass sich etwas Neues hinzufügte. Wie eine Eisscholle, die in immer wärmeres Gewässer trieb. Erst mein Vater, in den ich seit dem unseligen Abend, an dem er mich verprügelt hatte, jedes Vertrauen verloren hatte – natürlich war mir klar gewesen, dass unsere Ansichten völlig gegensätzlich waren, aber dass er auf den Widerstand seines Sohnes mit körperlicher Aggression reagieren würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Und nun auch mein bester Freund aus Kindertagen, der sich in eine neue Welt aufmachte, in die ich ihm nicht folgen konnte.

Nun blieb mir nur noch Kathi... aber ob ich sie vor Oktober wiedersehen würde, stand in den Sternen. Dumpf starrte ich auf die krankenhausreine Bettdecke vor mir und wünschte verzweifelt, die Uhr zurückstellen zu können.

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