2. September, Kathi
2. September, Kathi
Die Haare wehten mir aus dem Gesicht, das ich der Sonne entgegenstreckte, und ich hatte das Gefühl zu fliegen, während das Rad die leicht abwärts geneigte Straße zur S-Bahn hinab sauste. Mit ausgestreckten Armen hielt ich das Gleichgewicht, bis ein entgegenkommendes Auto mich zwang, die Hände wieder an die Lenkstange zu legen. Ich spürte mein dämliches Grinsen im Gesicht, aber es war mir egal, ich war einfach nur wahnsinnig glücklich. Heute war der 2. September, ich war auf dem Weg in die DDR und konnte es kaum erwarten, Sascha endlich wiederzusehen.
Sobald ich mein Rad an einem Laternenpfahl angeschlossen hatte, hüpfte ich leichtfüßig die Stufen zur S-Bahn hinunter, bedachte den Bettler am Fuße der Treppe mit einem strahlenden Lächeln und einigen Münzen und wartete dann ungeduldig auf die Bahn. Während meines Urlaubes in den letzten drei Wochen war so viel im Ostblock passiert, dass ich seit meiner Rückkehr die Nachrichten besonders aufmerksam verfolgte. Tausende DDR-Bürger waren nach Ungarn gefahren und harrten dort aus, darauf wartend, dass irgendetwas passierte, was ihnen die Reise nach Österreich ermöglichte, wie es vor kurzem Hunderten von ihnen während des Paneuropäischen Picknicks gelungen war. Andere von ihnen hatten sich in der deutschen Botschaft in Budapest aufgehalten, ihnen war die Ausreise in den Westen erlaubt worden. Ich brannte darauf, darüber mit Sascha zu sprechen!
Die Bahn kam und ich ließ mich auf einen Sitz am Fenster fallen. Wie immer dauerte mir die Fahrt viel zu lange und ich war so aufgeregt, dass ich die Zeitschrift, die ich bei mir hatte, nicht einmal anrührte. Die Grenzkontrolle am Bahnhof Friedrichstraße ließ ich heute mit einer gewissen Lässigkeit über mich ergehen, immerhin wurde es langsam Routine.
Das wievielte Mal stand ich jetzt dieses Jahr hier in der Schlange, das achte oder neunte Mal? Ich lächelte den Grenzbeamten freundlich an, als ich an der Reihe war, aber er erwiderte mein Lächeln nicht, sondern verglich mich wie immer konzentriert mit dem Bild in meinem Ausweis, fragte nach dem Grund des Besuchs und führte dann in seinem Kabuff noch wer weiß was für Abgleiche mit irgendwelchen Daten durch. Es war ein junges Gesicht, bestimmt nicht viel älter als Zwanzig. Ob das einer von denen war, die sich für drei Jahre verpflichtet hatten? Mit einem Nicken signalisierte er mir endlich, dass ich passieren könne.
Als ich aus dem Gebäude trat, hatte sich der Himmel bezogen. Wie jedes Mal stach mir der enorme Kontrast zwischen West und Ost in die Augen, drüben alles so bunt und schrill und Werbung an jeder Ecke, hier alles grau und von einer Tristesse, die nur ab und an von einem politischen Plakat unterbrochen wurde.
Ein paar Minuten später fuhr ich in den Bahnhof Marx-Engels-Platz ein. Suchend blickte ich mich um, aber heute war ich offenbar vor Sascha angekommen. Schließlich hatten sich alle Aussteigenden verlaufen und es wurde offensichtlich, dass er nicht da war. Na ja, normalerweise hatte er immer gewartet, es war daher nur recht und billig, dass ich auch einmal an der Reihe war, da würde ich eben meine Wiedersehensfreude noch ein wenig zügeln müssen.
Wo sollte ich mich hinstellen, dass er mich sofort sah? Ich hatte keine Ahnung, ob er immer mit der Bahn oder zu Fuß kam. Da es Ausgänge zu beiden Seiten des Bahnsteiges gab, platzierte ich mich schließlich in der Mitte. Als die nächste Bahn in die Station einfuhr, begann mein Herz schneller zu schlagen, aber auch dieses Mal war kein bekanntes Gesicht unter den Fahrgästen.
Unruhig blickte ich alle paar Minuten den Bahnsteig entlang und unterzog die Neuankömmlinge einer Prüfung. Aber so sehr ich auch umher schaute, Sascha war nicht zu entdecken und inzwischen war es 10.30 Uhr. Meine Freude war einer tiefen Enttäuschung gewichen, die schließlich in Sorge überging. Warum kam er denn bloß nicht?
Ich hatte mich auf einer Bank niedergelassen, reckte aber bei jeder einfahrenden Bahn den Kopf und knabberte nervös an meinen Fingernägeln. Ich bemerkte die kleinen Unebenheiten im Bahnsteig, Zeuge der regen Benutzung dieser Linie, und auch die auffallende Sauberkeit. Nicht ein Kaugummi klebte auf dem Boden, was in Westberlin so normal war, dass sich niemand daran störte.
Von den Wandfliesen, mit denen der Bahnhof ausgestaltet war, hätte ich mittlerweile träumen können, so lange hatte ich diese jetzt schon angestarrt. Die Zeit schritt unerbittlich voran, die Uhren am Bahnsteig zeigten nun 11.oo Uhr, Sascha hatte jetzt eine Stunde Verspätung.
Die verschiedensten Gedanken wirbelten durch meinen Kopf. Hatte er sich vielleicht in der Zeit vertan? Mir kam der verrückte Gedanke, dass womöglich in der DDR die Uhren umgestellt worden waren. Oder war ihm etwas zugestoßen? Wenn ihn sein Vater nun eingesperrt hatte? Ich schalt mich verlegen für diese Räuberpistole. Oder – mein Herz machte einen hoffnungsvollen Hüpfer – war er vielleicht unter denen, die die DDR inzwischen verlassen hatten, auf dem Weg nach Ungarn oder dort darauf wartend, dass sich die Grenze nach Österreich erneut öffnete? Doch dann hätte er sich sicherlich versucht, mich telefonisch zu erreichen.
Tapfer harrte ich weiter aus, sackte jedoch immer mehr in mich zusammen und um 11.3o Uhr musste ich mir eingestehen, dass er nicht mehr kommen würde. Was war bloß passiert??? Ich biss mir auf die Lippen, wischte mir verstohlen mit dem Arm die Tränen aus dem Gesicht und zwang mich, in Ruhe nachzudenken.
Vier Möglichkeiten kamen mir in den Sinn:
Ich konnte zurück nach Hause fahren.
Oder zu seinem Freund Rainer, die Adresse hatte ich ja durch die Briefe im Kopf.
Oder nach Pankow fahren, zur Rainers Datsche. Was ja Quatsch war, warum sollte Sascha dort auf mich warten? Außerdem wusste ich den Weg dorthin nicht mehr.
Oder zu der Insel fahren, auf der wir vor vier Wochen gewesen waren. Aber da kam man ohne Boot nicht hin, blieben also nur die ersten beiden Möglichkeiten. Aufgeben und nach Hause fahren kam für mich jedoch nicht in Frage.
Entschlossen stand ich auf und trat auf eine ältere Frau zu, die in ein Buch vertieft auf dem Bahnsteig stand.
„Entschuldigen Sie", fragte ich höflich und die Frau warf mir einen fragenden, aber nicht unfreundlichen Blick zu.
„Können Sie mir sagen, wie ich zur Friedensallee komme?"
Die Frau schüttelte bedauernd den Kopf, aber schlug mir vor, in einem der Läden an der Straße einmal nachzufragen, die hätten vielleicht einen Stadtplan.
Ich bedankte mich freundlich und verließ nervös die S-Bahnstation, um den erstbesten Laden, ein Eisenwarengeschäft, zu betreten. Ich hatte Glück, ein freundlicher junger Mann zog einen Stadtplan heraus, suchte die Straße heraus und beschrieb mir dann detailliert, wie ich dorthin fahren musste. Dankbar kaufte ich daraufhin eine Packung Nägel, die ich gar nicht brauchte.
Die Fahrt zur Friedensallee war einfacher als gedacht, ich musste lediglich mit der gleichen S-Bahn etwa fünfzehn Stationen fahren und dann Neuenhagen aussteigen. Auf der Fahrt dorthin gingen mir unzählige Dinge durch den Kopf, eines davon der unschöne Gedanke, dass Sascha mich bewusst versetzt haben könnte. Womöglich hatte er eine andere kennengelernt, mit der das Zusammensein viel weniger kompliziert war als mit mir.
Ich steigerte mich ein wenig in diese Vorstellung hinein und war dann kurz davor, auszusteigen und zurück nach Westberlin zu fahren, hielt mich aber zurück. Wenn ich das nun machte, würde ich vermutlich auf ewig bereuen, den Weg nicht bis zu Ende gegangen zu sein. Ich setzte schließlich meine ganze Hoffnung darauf, Rainer zu finden, der mir sicherlich sagen konnte, was los war bzw. wo ich Sascha finden konnte. Warum zum Kuckuck hatte ich bloß nie nach Saschas eigener Adresse gefragt?
Am Bahnhof Neuenhagen fand ich auf Anhieb die Friedensallee, was bestimmt ein gutes Zeichen war, und stand kurz darauf vor einem Miethaus mit der Nummer 31e. Mein Herz pochte vernehmlich, doch ich gab mir einen Ruck und klingelte bei Kortmanns. Nichts rührte sich und ich klingelte daher noch einmal, doch wieder wartete ich vergeblich. Verunsichert verharrte ich dann einen Moment, bevor ich es ein drittes Mal versuchte, aber wieder gab es keine Reaktion.
Ratlos wandte ich mich zum Gehen, als sich über mir ein Fenster öffnete. Eine grauhaarige Frau lehnte sich über die Brüstung.
„Willst du zu Kortmanns? Die sind nicht mehr da."
„Wo...wo sind sie denn?" fragte ich zaghaft nach.
„Was weiß ich" Die Frau hob die Hände in einer Bewegung, die alles zwischen Ratlosigkeit und Missbilligung bedeuten konnte. „Die sind schon seit bestimmt zwei Wochen weg. Urlaub... Oder so... Was willste denn von denen?", fügte sie neugierig hinzu.
„Ach nichts. Aber vielen Dank."
Rasch drehte ich mich um, damit die Frau meine aufsteigenden Tränen nicht sah. Das war meine letzte Möglichkeit gewesen, jetzt blieb mir nichts anderes übrig als unverrichteter Dinge zurück nach Hause zu fahren. Und darauf zu hoffen, dass sich Sascha bei mir melden würde. Verzweifelt stolperte ich zurück zum Bahnhof und nicht einmal der Gedanke, dass sich Rainers Familie und damit womöglich auch Sascha in Ungarn aufhalten könnten, gab mir Trost.
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