2. Dezember, Kathi
2. Dezember, Kathi
„Du hast aber eingekauft!"
Ich stand vor den Getränkekisten, die sich im Keller stapelten, und staunte.
„Mein guter alter Papa hat sie für mich besorgt." Biggi lächelte zufrieden.
„Aber wir müssen sie noch hochtragen."
Gemeinsam hievten wir die erste Kiste die Treppenstufen hoch.
„Wie viele Leute kommen denn, ich dachte, nur so zwanzig..."
„Es sind auch nur zwanzig", bestätigte Biggi und wischte sich mit dem Arm einen leichten Schweißfilm von der Stirn. „Aber besser zu viel haben als zu wenig."
Mit gerunzelter Stirn sah sie in den Keller hinunter. „Schade nur, dass ich vorhin vergessen hatte, ihn zu bitten, sie mir hochzutragen. Wenn das so weiter geht, muss ich noch einmal duschen."
„Dann mach eine Pause, Biggi!", warf Nicki ein und schlüpfte an mir vorbei die Treppe hinunter.
Ein paar Minuten später waren alle Kisten oben. Und dann warteten wir auf die ersten Gäste und vertrieben uns die Zeit derweil damit, uns ausgelassen einen Luftballon zuzuwerfen. Heute feierte Biggi ihren achtzehnten Geburtstag und Nicki und ich waren selbstredend früher gekommen, um ihr bei den Vorbereitungen zu helfen.
„Und – wie ist es, den Freund direkt bei sich zu Hause zu haben?", wollte Nicki neugierig wissen.
„Praktisch", lachte ich, „Also, wir hatten es lange so schwer, uns zu sehen, da ist es nur recht und billig, dass wir das jetzt jede freie Minute tun können, findet ihr nicht?"
„Sicher."
Biggi nickte, ihre Augen funkelten vergnügt, und mit einem plötzlichen Gedankensprung überlegte sie:
„Vielleicht hätte ich auch die anderen beiden – wie hießen die noch? – einladen sollen..."
Nicki schlug den Luftballon so weit nach oben, dass ich mich recken musste, um ihn noch mit den Fingerspitzen zu erwischen, damit er nicht auf dem Schrank landete.
„Carsten und Rainer. Aber Rainer wohnt inzwischen in Hamburg."
Gekonnt wollte ich den Ballon zu Biggi schlagen, musste aber bedauernd feststellen, dass er einfach viel leichter als ein Handball war und ich ihn daher mehr gebremst als bewegt hatte. Biggi und Nicki reckten sich gleichzeitig danach, dann machte es einen lauten Knall und der Ballon fiel zerplatzt zu Boden.
„Oh, das waren wohl meine Fingernägel."
Nicki hob ihre Hand und betrachtete die verschiedenfarbig lackierten Nägel. In diesem Moment klingelte es an der Tür.
„Mädels, es geht los!"
Grinsend verschwand Biggi im Flur und kam kurz darauf mit Andi und Lars aus unserer Lerngruppe zurück. Sie wies auf das Büffet.
„Nehmt euch!", was sich die beiden nicht zwei Mal sagen ließen.
Kurz darauf füllten immer mehr Gäste das Wohnzimmer. Ich linste auf die Uhr und fragte mich, wo Sascha nur blieb. Ich hatte ihm doch den Weg genau beschrieben.
„Du wirst nicht sterben, wenn du noch ein bisschen warten musst", neckte Nicki mich und lotste uns zum Büffet, auf dem neben Knabbereien auch noch die netterweise von Biggis Mutter gestifteten Salate lagen.
Mit dem gefüllten Teller stellte ich mich an den Türrahmen und beobachtete die Gäste, die meisten kannte ich aus der Schule.
„Hi", hörte ich dann aus dem Hintergrund Biggis fröhliche Begrüßung, „Wir haben uns ja lange nicht gesehen."
„Und doch wiedererkannt. Alles Gute nachträglich zum Geburtstag."
Sascha hatte es offenbar endlich geschafft und froh trat ich in den Flur, um ihn in Empfang zu nehmen. Er trug das neue T-Shirt, das wir gemeinsam gekauft hatten, aber natürlich wieder eine dieser jeansähnlichen Hosen, die er immer trug, weil er nicht bereit war, das ganze Begrüßungsgeld, das DDR-Bürger bekamen, für Kleidung auszugeben. Also wenn ich DM 100 geschenkt bekäme...
Die Hose ließ jeden Schick vermissen und sah einfach nur uncool aus, und so sehr es mich auch wurmte, mir das einzugestehen, weil es mir normalerweise egal war - heute hier auf der Feier war es mir unangenehm, denn die Leute aus unserer Schule waren ein sehr markenbewusster Haufen.
Sein strahlendes Lächeln versetzte mich jedoch schnell wieder in eine gute Stimmung und fröhlich stellte ich Sascha meiner Schulclique vor. Leider konnte es Lars nicht lassen, eine launige Bemerkung zum Besten zu geben.
„Also fährst du doch zweigleisig. Wusste ich es doch."
Ich bügelte ihn kurz ohne Erklärung mit einem „Markus ist mit meiner Schwester zusammen" ab und ignorierte sein freches Mundwerk ansonsten.
„Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen", flüsterte mir Sascha ins Ohr und streifte dabei mit den Lippen sacht meine Haut, guckte jedoch betont unschuldig, als ich ihm einen launigen Blick zuwarf.
„Kommst du auch aus Zehlendorf?", wollte Bianca neugierig wissen.
„Nee, aus'm wilden Osten", erwiderte Sascha und hatte damit die Lacher auf seiner Seite.
„Cool, ey", zeigte sich Simon beeindruckt.
„Bist du aus Ostberlin?", kam es von Nina und gleichzeitig fragte Marc:„Wann bist du denn rüber?"
„Direkt am 9.November, um Mitternacht."
Sascha hatte den Arm um mich gelegt und lächelte entspannt, nicht im Geringsten eingeschüchtert durch die neugierigen Fragen
„Ja, cool!" Das war noch einmal Simon.
„Erzähl mal, wie war das?!" Andrea sah ihn aufgeregt an.
Ich staunte darüber, dass Sascha dem von mir gefühlten Nachteil, aus der DDR zu sein, nonchalant begegnete und damit stattdessen sogar eher Eindruck machte. Ich hatte meine Klassenkameraden für oberflächlicher gehalten als das offenbar der Fall war.
„Irre. Purer Wahnsinn", schwärmte Sascha und erzählte dann anschaulich von den Erlebnissen dieser Nacht, während alle gebannt zuhörten. Ich lächelte still in mich hinein und freute mich darüber, dass er gut bei meiner Clique ankam.
„Und wie ist es jetzt bei euch da drüben?", erkundigte sich Bianca, „Hat sich doch bestimmt viel verändert in den drei Wochen."
Darauf zuckte Sascha unbeschwert mit den Schultern.
„Keine Ahnung, habe das Land verlassen und wohne jetzt erst mal bei meinem Schatz." Dabei warf er mir einen liebevollen Blick zu. „Bis ich weiß, wie es weitergeht."
„Von mir aus kannst du für immer bleiben", ergänzte ich unumwunden.
„Ist hier schon besser, was?", kommentierte Marco ein wenig von oben herab, was Sascha mit einem Hochziehen der Augenbrauen quittierte.
Obwohl er ja nicht grundlos die DDR verlassen hatte, lag ihm anscheinend nichts daran, hier jetzt seine Gründe auszubreiten und seine Heimat mit Kritik zu überziehen. Simon gab der Unterhaltung eine Wende, als er neugierig fragte:
„Gibt's bei euch auch einen großen Fußballklub?"
„Na klar! Die Union."
„Aber kommt sicher an Herta nicht heran", flachste Simon.
„Das bleibt abzuwarten", widersprach Sascha lachend. „Bestimmt gibt es bald ein Freundschaftsspiel..."
Ich verdrehte die Augen – Jungen und Fußball, nichts interessierte mich weniger.
Wir Mädchen wandten uns daher anderen Themen zu. Und bald darauf stellte Biggi die Musik lauter, was eine Aufforderung zum Tanzen bedeutete, die ich mir nicht zweimal sagen ließ. Ausgelassen bewegte ich mich zum Takt der aktuellen Hits und konnte nicht anders, als das Leben in vollen Zügen zu genießen. Alles war einfach perfekt: Liebesleben, Freundschaften, Party!
Nicki zwinkerte mir zu und schrie: „Super, ne!"
Ich nickte und deutete mit der Hand in Richtung Büffet.
„Guck mal, da hat jemand ein Auge auf dich geworfen", brüllte ich ihr ins Ohr.
„Wo?"
Nicki folgte meinem Blick hin zu einem schwarzgelockten Typen, den ich noch nicht kannte und der Nicki nicht aus den Augen ließ. Im Licht der Diskobeleuchtung schimmerte sein helles Hemd abwechselnd pink oder grün.
„Sieht nicht schlecht aus", Nicki kicherte. „Aber was mache ich denn jetzt?"
„Erst mal weitertanzen", empfahl ich.
Und tatsächlich dauerte es nicht lange und der Typ schlängelte sich im Rhythmus der Musik zu Nicki durch. Ich verließ die sich möglicherweise anbahnende Romanze, holte mir etwas zu trinken und gesellte mich dann zu Sascha, der immer noch mit einigen Jungs zusammenstand, die sich ihrem Verhalten nach offenbar längst verbrüdert hatten.
Er lächelte mich kurz an und legte den Arm um mich, war aber ansonsten auf die Unterhaltung konzentriert. An Saschas Brust gelehnt, den Blick auf Nicki und ihren Verehrer gerichtet, die inzwischen zusammen tanzten, bekam ich nur Bruchstücke des Gespräches mit, in dem es offenbar um Autos ging.
„...kriege ich jetzt von meinen Eltern ein Auto geschenkt. Aber ich weiß nicht, welche Marke ich mir aussuchen soll."
„Du kriegst ein Auto geschenkt?!", vernahm ich Saschas fassungslose Stimme und drehte neugierig meinen Kopf.
Ein Mädchen, das ich auch nicht kannte – wahrscheinlich von Biggis Tennisklub – machte eine lässige Handbewegung.
„Halb so wild. Mein Vater ist Autohändler. Und zum bestandenen Führerschein hat er es mir versprochen."
Ich spürte mehr als dass ich sah, wie Sascha innerlich den Kopf schüttelte. Er hatte mal erzählt, wie viele Jahre sein Vater auf sein Auto gewartet hatte. Das Leben hier musste ihm ja unheimlich dekadent vorkommen.
„Also ich kriege kein Auto geschenkt", versicherte ich ihm flüsternd, „Das ist auch bei uns nicht unbedingt üblich."
„Schon gut", beschied er und grinste mich an.
Ich nahm den letzten Schluck Cola, schaute sehnsuchtsvoll auf die Tanzfläche und dann Sascha an:„Tanzen wir?"
„Lass mal", er winkte ab, „Ist nicht unbedingt meins."
Enttäuscht mischte ich mich wieder allein unter die Tanzenden, es war doch immer das Gleiche mit den Typen. Irgendwann gab Nicki mir und Biggi ein Zeichen.
„Kommt mal mit", forderte sie uns auf und ging hinüber in die Küche, wo sie aufgeregt berichtete:
„Er wollte meine Nummer haben!" Sie brach in ein leicht hysterisches Lachen aus.
„Ich glaube, hier hat jemand zu viel getrunken", kommentierte Biggi gutmütig.
Ich begnügte mich mit einem:„Ist doch schön. Ist er denn nett?"
„Ja schon." Nicki lächelte versonnen. „Leider musste er jetzt los."
Ich hob beide Hände und drückte betont die Daumen.
„Auf seinen Anruf", echote Biggi und ausgelassen untergehakt kehrten wir ins Wohnzimmer zurück.
Was ich aber dann sah, ließ mich konsterniert stehen bleiben. Sascha tanzte – und zwar mit diesem Mädchen, das ein Auto geschenkt bekam. Hatte er nicht vorhin gesagt, Tanzen wäre nichts für ihn? Ich spürte Wut in mir aufsteigen. Das konnte doch wohl nicht wahr sein!!! Mir gegenüber lehnte er ab, aber mit einer Wildfremden tanzte er! Meine Freundinnen warfen mir fragende Blicke zu. Ich wies mit dem Kinn zur Tanzfläche hinüber.
„Ja und?"
Biggi begriff nichts, Nicki erkannte jedoch, was mich aufbrachte.
„Lass ihn doch. Das hat doch mit dir nichts zu tun", beschwichtigte sie.
„Mit mir wollte er aber nicht tanzen!", entgegnete ich und schüttelte den Arm ab, den sie mir beruhigend um die Schulter zu legen versucht hatte. Ich war zutiefst verletzt und furchtbar sauer. Am liebsten hätte ich mich dazwischen gedrängt, doch meine Würde hielt mich zum Glück davon ab. Stattdessen verschwand ich wieder in der Küche, wo ich wütend aus dem Fenster starrte und versuchte, meine Eifersucht in den Griff zu kriegen.
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