13. November, Markus
Markus
Die beiden Jungen blieben einen Moment schweigend zurück.
Dann fragte Alexander, eine Spur herausfordernd, wie es Markus schien:
„Und du hast nie was davon gemerkt?"
Damit hatte er bei Markus einen wunden Punkt getroffen. In den vergangenen Stunden hatte er sich mehr als einmal gefragt, wie es sein konnte, dass er in der Schule nie erkannt hatte, dass es nicht Sanne war, die vor ihm gestanden hatte, wenngleich die Momente, in denen er mehr als nur ein paar kurze Worte mit ihrer Schwester gewechselt hatte, zugegebenermaßen denkbar selten gewesen waren.
Bis auf den einen Unterricht zusammen mit den Franzosen, den er sofort verdrängte. Wieso hatte er angesichts von Kathis Akzent, der sich doch so deutlich von der Aussprache unterschied, die er auf seiner Sommerparty wahrgenommen zu haben glaubte, nicht geschaltet, dass da irgendetwas merkwürdig war? Entsprechend verärgert konterte er:
„Hast du Sanne mal gesehen? Weißt du nicht, wie gleich die beiden aussehen? Ich wette, es wäre dir auch nicht aufgefallen!"
Vor allem, wenn man noch nicht einmal wusste, dass eine Zwillingsschwester existierte, fuhr es ihm frustriert durch den Kopf.
„Kein Grund, gleich aggressiv zu werden."
Beschwichtigend hob Alexander die Hände und gab dann fröhlich lachend zu:
„Ich hätte bestimmt auch nichts davon bemerkt. Da war es vielleicht ganz gut, dass ich woanders gelebt habe und deshalb außen vor war."
Nun musste auch Markus lachen. Der Typ wurde ihm sofort sympathischer.
„Wer weiß...", scherzte er daher.
„Hm...", machte Alexander und schien dem Gedanken eine kurze Überlegung zu gönnen, doch dann sah er mit einem Grinsen kurz zu Kathi in den Flur hinüber und schob hinterher: „...aber im Bett hätte ich es gemerkt."
Er zwinkerte Markus zu, der schmunzelnd bestätigte: „Ich auch."
Sie lachten sich kameradschaftlich zu.
„Gar nicht so einfach mit Zwillingen, was?" Alexander schlug sich theatralisch an die Stirn. „Na, das kann ja zukünftig noch heiter werden."
Doch der lässige Gesichtsausdruck, mit dem er das sagte, machte deutlich, dass dieser Gedanke fern davon war, ihn mit Sorge zu erfüllen. Da Markus ihm daraufhin jedoch nur einen fragenden Blick zuwarf, teilte Alexander gut gelaunt mit:
„Am Wochenende verlasse ich endgültig die DDR und wohne dann erst mal hier."
„Trotz offener Grenzen?", wollte Markus verwundert wissen.
„Na ja, sonst müsste ich wohl übernächste Woche meinen Wehrdienst antreten und da habe ich nun wirklich gar keine Lust drauf."
„Hättest du nicht verweigern können?"
„Lange Geschichte", Alexander winkte ab. „Jetzt ist es jedenfalls zu spät."
„Was ist zu spät?", fragte Kathi, die nur den Rest mitbekommen hatte.
„Bausoldat zu werden", erwiderte Alexander und erntete zwei fragende Gesichter.
Alexander schüttelte den Kopf. „Mal ehrlich, ihr lebt seit Jahren in unserer Nachbarschaft, aber wisst nichts über das Leben bei uns?"
Sein Lächeln strafte der gespielten Empörung Lügen.
„Erst mal schauen, was du alles weißt oder nicht weißt", drohte Kathi mit dem Finger und strahlte ihren Freund an. Dann wurde sie wieder ernst.
„Also Maike hat auch nichts von Susi gehört. Wir sollten am besten mal beim Kino gucken. Oder im Einkaufszentrum. Da gehen wir immer gern Klamotten gucken."
Alexander verdrehte gespielt die Augen und Markus musste unwillkürlich grinsen.
Sie leerten ihre Gläser und versuchten es zuerst im Einkaufszentrum, das dichter lag. Obwohl sich dank des Montags die Anzahl der Besucher in Grenzen hielt, gelang es ihnen nicht, Sanne irgendwo zu entdecken. Schließlich hatten sie alle Boutiquen und Cafés überprüft, aber Susanne blieb unauffindbar.
„Die Buchhandlung!", fiel Kathi zu guter Letzt noch ein. „Da stöbert sie auch gerne. Und man kann sich da auch hinsetzten und ein Buch lesen."
Doch auch dort war Fehlanzeige. „Sieht so aus, als wäre sie nicht hier. Zumindest jetzt jedenfalls nicht mehr", seufzte Kathi enttäuscht, „Gehen wir also zum Kino."
Niedergeschlagen stellte sich Markus darauf ein, noch länger auf eine Aussprache warten zu müssen und fahrig zerriss er einen alten Fahrschein, den er in seiner Jackentasche gefunden hatte, in kleine Schnipsel.
„Sie hat doch mitgeteilt, dass sie heute Abend wieder da ist", vernahm er Alexanders ruhige an Kathi gerichtete Worte, bevor dieser Kathi die Hände auf die Hüften legte, sie an sich zog und ihr einen zärtlichen Kuss gab.
Markus spürte Eifersucht in sich aufsteigen, nicht auf Alexander an sich, aber auf das Glück, dass die beiden ausstrahlten. Warum hatte er Sanne heute Morgen nur nicht aufgehalten, warum so lange gebraucht, um zu begreifen, wie wichtig sie ihm war? Sie hatte ihn nicht mit einem anderen betrogen, nur das zählte.
Missmutig wandte er den Kopf ab und ließ seinen Blick auf den Stapel neuer Bestseller fallen, die malerisch auf einem runden Tisch drapiert waren. Bücher... Bücher! Natürlich, das war es! Sanne war eine Leseratte. Und wo, außer in einer Buchhandlung, bekam man noch Bücher?
„Ist hier nicht irgendwo die Bücherei?", wandte er sich aufgeregt an Kathi.
Sie und Alexander fuhren auseinander, verlegen strich sich Kathi eine Strähne aus dem Gesicht. Dann nickte sie.
„Ja, im 2. Stock, über H&M. Ich glaube aber nicht, dass sie da ist, da waren wir schon eine Ewigkeit nicht mehr", warf sie zweifelnd ein. „Wir müssten dann auch bald mal zum Kino, wenn wir rechtzeitig da sein wollen, bevor die Filme aus sind."
„Dann fahrt ihr doch schon mal vor", schlug Markus vor, „Ich komme nach."
Der Vorschlag fand sofort Zustimmung und zusammen verließen sie die Buchhandlung, Kathi und Alexander gingen in Richtung Ausgang, Markus fuhr mit der Rolltreppe zwei Etagen höher. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass die Rolltreppe in hohen Tönen, aber in einem uneinheitlichen Rhythmus quietschte, es klang wie ein schief gesungenes Lied. Trotz seiner niedergedrückten Stimmung amüsierte er sich kurz über diesen Gedanken. Wäre Sanne bei ihm, würden sie gemeinsam darüber lachen.
Eine Frau hinter ihm hatte es offenbar eilig, sie hastete an ihm vorbei und bemerkte dabei nicht, dass ihr das Bonbonpapier aus der Jackentasche gerutscht war. Markus machte Anstalten, das Papier aufzuheben, hielt aber mittendrin inne und ließ den Blick stattdessen in die gegenteilige Richtung schweifen. Was sollte er Sanne bloß sagen, wenn er sie fand? Grübelnd schritt er auf die Bücherei zu, ohne eine Idee zu haben.
Innen drin war es warm und ein wenig stickig. Jetzt, am Nachmittag, war die Bücherhalle voller Kinder, der Lärmpegel war beträchtlich. Hatten sie gerade Schulschluss gehabt, oder was, dachte Markus genervt und ging mit schnellen Schritten an der Kinderabteilung vorbei zu den Erwachsenenbüchern, dabei links und rechts einen Blick in die Rubriken mit der Belletristik werfend: Leute, die Bücher aus den Regalen angelten, an Tischen arbeiteten oder ihre Blicke über die Buchrücken schweifen ließen. Im Gegensatz zu der Gruppe an Kindern weiter vorne war hier jeder für sich.
Dann stand er vor dem Lesebereich, einer mit Korbsesseln versehenen, gemütlichen Ecke neben der Zeitungsauslage. Ein älterer Herr hielt mit weit ausgestreckten Armen eine Zeitung vor sich und murmelte etwas, das Markus nicht verstand und wohl auch nur ein Zwiegespräch mit sich selbst war.
Dann entdeckte er Sanne und sofort begann sein Herz schneller zu schlagen. Sie saß auf einem der Korbstühle, hatte ihn halb weggedreht in Richtung Fenster, so dass Markus nur ihr Profil sehen konnte, und hielt natürlich ein Buch in den Händen. Markus zögerte und beobachtete, wie sie, ansonsten reglos, eine Seite ihres Buches umblätterte. Das offene Haar hing ihr nachlässig ins Gesicht, sie sah damit cool und gleichzeitig ein wenig verloren aus.
Am liebsten hätte er sie unwillkürlich in den Arm genommen. Stattdessen setzte er sich leise auf den Stuhl, der ihrem am nächsten war. Sie wandte kurz den Kopf, hatte wohl aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrgenommen, dann stutzte sie. Ihre Augen weiteten sich ein wenig, ihrem Gesichtsausdruck war die Verwunderung darüber anzusehen, ihn hier anzutreffen.
„Ist das Zufall?", wollte sie leise wissen.
Markus schüttelte den Kopf und fragte ebenso leise zurück:
„Können wir reden?"
Sanne nickte schweigend und wies mit dem Kinn auf das Schild, das die Sitzecke als Ruhezone auswies. „Aber nicht hier."
In einer fließenden Bewegung stand sie auf, zog ihre Tasche an sich, nahm das Buch, in dem sie gelesen hatte, und stellte es zurück ins Regal. Markus folgte ihr, sah auf ihre gereckten Schultern und dachte darüber nach, was er sagen, was er fragen sollte.
Am Ausgang schlug er das Café Andersen vor und schweigend gingen sie nebeneinander her, ohne sich zu berühren. Markus warf ihr einen verstohlenen Blick zu, Sannes Augen waren auf den Boden vor ihnen gerichtet, eine Hand war in ihrer Tasche vergraben, die andere schwang leicht im Rhythmus der Schritte hin und her. Normalerweise hätte er sogleich ihre Hand ergriffen, nun zögerte er, wusste selbst nicht warum. In seinem Kopf war ein einziges Durcheinander, er war erleichtert, Sanne gefunden zu haben, aber auch ein wenig unentschlossen, ob er alles, was vorgefallen war, einfach so vergessen sollte.
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