Kapitel 9
Nivia irrte durch die verlassenen Gänge der Ruine und ließ ihre Hände über die kalten Wände aus Stein streifen. Die weichen Moosablagerungen kitzelten ihre Fingerkuppen und sendeten ein wohliges Gefühl durch ihren Körper, während Flechten unter der Berührung ihrer Haut zu Staub zerfielen. Ein leises Wispern drang aus den alten Gemäuern, als würden die mannshohen Steine ihren Namen säuseln. Es roch nach feuchter Erde und nassem Laub.
Sie kannte sich hier nicht aus, war das erste Mal vor Ort und doch führte etwas sie blindlings in die Arme von Haru, der in einem ehemaligen Kaminzimmer ein Feuer entfacht hatte.
Funken stoben auf, als ein Holzscheit hinabrutschte. Die Flammen leckten hungrig über das Brennmaterial und huschten in dunklen Schatten über die Wände. Es knisterte und knackte, während die Hitze Nivia förmlich erschlug.
»Puh! Willst du uns ausräuchern?«, fragte sie und fächelte den Rauch von sich, der ihr in die Nase stieg.
»Es tut mir sehr leid, dass ich kein trocken gelagertes Holz finden konnte und dass es deinen Ansprüchen scheinbar nicht genügt.« Haru hockte vor dem Feuer und stocherte mit einem Stock darin herum, als würden ihm Rauch und Hitze nichts ausmachen.
»Hör schon auf, so war das nicht gemeint«, stöhnte Nivia und ließ sich in einen roten Samtsessel fallen. »Du musst nicht immer gleich so gemein und dramatisch werden.«
»Und du musst nicht immer so empfindlich sein. Es ist anstrengend, wenn man sich jedes Wort erst genau überlegen muss.«
»So funktioniert Kommunikation nun mal. Weißt du, ich verstehe nicht, warum dir das so schwerfällt. In der Regel bist du doch eher der geheimnisvolle und verschwiegene Typ. Da kann es doch nicht zu viel verlangt sein, dass du dir die Worte, die du sagen willst, wenigstens genau zurechtlegst.«
Haru drehte den Kopf in ihre Richtung und zog als Antwort skeptisch eine Augenbraue hoch.
»Ist doch so.« Nivia überschlug die Beine und tippte sich an die Wange. »Die Maske verbirgt dein Gesicht und viel von dir gibst du auch nicht preis, geschweige denn, dass du mir ein paar Antworten auf meine Fragen gibst.« Die Tatsache, dass er sich ihr nicht offenbaren wollte, weckte unweigerlich immer mehr ihr Interesse.
Haru stöhnte. »Ich kann dir nicht jedes Mal dieselben Fragen beantworten. Das ist ermüdend und frustrierend zugleich. Allerdings muss ich zugeben, dass deine ständige Nachfragerei auch nicht besser ist ...«
»Was heißt denn hier jedes Mal? Noch nie hast du mir auch nur eine Antwort auf eine meiner Fragen gegeben, hast sogar Gry davon abgehalten, mir ein paar Dinge zu erklären.«
»Du kannst dir die Antworten selbst geben, Niv.« Haru stand auf und drehte sich vom Feuer fort. Die Schatten der Flammen huschten über seine Maske und ließen sie im Schatten zurück. »Du kennst die Wahrheit. Sie ist tief in dir verankert, so wie sie in uns allen steckt. Mit jedem Tag gedeiht sie und wartet darauf, das Licht der Welt zu erblicken.«
Nivia rieb sich die schmerzenden Schläfen, die seine Metaphern in ihr auslösten. »Es ist ärgerlich, wenn du schweigst, aber es ist noch viel frustrierender, wenn du sprichst. In solchen Momenten weiß ich nicht, was mir lieber ist.«
»Siehst du«, erwiderte Haru, das Grinsen unüberhörbar, »du bist besser dran, wenn du selbst nachdenkst.«
Mit einem Augenrollen warf Nivia sich in den Sessel zurück. Was hatte sie erwartet? Er würde ihr sein Wissen nicht auf den Silbertablett servieren. So viel stand fest. Und da sie nicht vor hatte, weiter zu betteln, würde sie es selbst herausfinden müssen.
Ohne Worte verbrachten sie die nächsten Minuten vor dem Feuer, bis Haru zögerlich einen Schritt auf sie zumachte.
Nivia sah auf und betrachtete die Hand, die er ihr entgegenhielt.
»Möchtest du tanzen?«
»Tanzen?«, fragte sie, als könne sie nicht glauben, welche Worte seinen Mund verlassen hatten. Aber anstatt spöttisch zu lachen, besann sie sich auf das Offensichtliche. »Wir haben keine Musik ...«
Haru legte den Zeigefinger seiner freien Hand an die Lippen und deutete dann nach oben. Erst vernahm Nivia nichts weiter als den Wind, der den Schnee durch den Wald peitschte, aber dann mischte sich etwas anderes unter das Geräusch des Sturms. Das Summen und Brummen, das sie schon so oft in seiner Anwesenheit vernommen hatte, wurde lauter und verschmolz schließlich zu einer zauberhaften Melodie.
Gebannt lauschte Nivia den Tönen, die ihren Körper in Schwingungen versetzten, bis Haru sich räusperte. Noch immer stand er vor ihr und wartete, die Hand zu einer Aufforderung ausgestreckt.
Wie von selbst glitt ihre Hand in seine, während sein Blick sie gefangen hielt. Sanft zog er sie in seine Arme und führte ihre Finger zu seiner Schulter. Er glitt an ihrem Arm entlang, bis seine Hand an ihrer Taille zum Ruhen kam.
Ungewohnt kräftig schlug Nivias Herz in ihrer Brust; ein sanfter Flügelschlag in ihrem Bauch, während ihr Kopf an seiner Brust ruhte. Sie wagte es nicht, zu ihm aufzusehen, während er langsam nach links und rechts wippte und im Takt der Melodie ihre Körper bewegte, aus Angst vor dem, was sie in seinen Augen sehen könnte – aus Angst vor der Ungewissheit, was es in ihr auslösen würde.
Beide schwiegen sie, ließen sich auf das ein, was vorsichtig zwischen ihnen zu keimen begonnen hatte, ohne dass sie es bewusst wahrgenommen hatten. Nur das Feuer knisterte und knackte im Hintergrund und erinnerte Nivia an das Hier und Jetzt, erdete sie und ließ sie nicht mehr los.
»Erinnerst du dich an das Licht, das regiert hat, bevor der erste Schnee gefallen ist?«, fragte Haru leise und brach die Stille zwischen ihnen.
Nivia schüttelte den Kopf, wagte es nicht ein Wort zu sagen, jetzt, wo Haru beschlossen hatte zu sprechen.
»Erinnerst du dich nicht an die Wärme der Sonne, die sich über das Land gelegt hat und das Grün so saftig hat gedeihen lassen, dass das pure Leben daraus hervorgegangen ist?«
Nivia kniff die Augen zusammen, geblendet von einem gleißenden Licht. Es durchströmte ihren gesamten Körper, infiltrierte ihre Gedanken und wärmte sie von innen.
»Nein«, krächzte sie. »Ich erinnere mich nicht.«
»Auch nicht an die üppigen Wolken, die klaren Regen gebracht haben, der die Gewässer gefüllt und die Pflanzen genährt hat und an die Nahrung für Mensch und Tier in Hülle und Fülle? Jahrzehntelang? Jahrhundertelang? Jahrtausendelang? Immer? Erinnerst du dich nicht daran, wie der Schein getrogen hat?« Harus Stimme erhob sich und sein Griff bohrte sich schmerzhaft in ihr Fleisch. »Dass die gierigen Finger der Menschheit nach mehr gelechzt und sie sich genommen haben, was er hervorgebracht hat und sie nie etwas zurückgaben?«
Wieder musste Nivia kopfschüttelnd verneinen. Sie bedauerte es, dass es ihn so sehr aufwühlte, aber sie hörte das alles zum ersten Mal. Und dennoch hatte Haru ihr ein Bild mit seinen Worten in das Gedächtnis gepflanzt, doch noch war es unter Dunkelheit begraben.
»Wie schade«, sagte Haru tonlos und wirbelte sie in einer Drehung herum, ehe er sie aus seinen Armen entließ und den Zauber verbannte.
Atemlos hob Nivia den Kopf, doch Haru hockte bereits wieder vor dem Kamin und stocherte darin herum, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.
Was war das?, fragte sie sich. Etwas war geschehen. In ihr. In ihm. Zwischen ihnen. Es war, als hätte Haru ihr etwas zeigen wollen, was er selbst nicht aussprechen konnte.
»Haru –«
»Nicht jetzt«, unterbrach er sie. »Geh einfach.«
»Ich soll gehen?« Nivia wusste nicht, wie ihr geschah. »Aber ich kann nicht gehen. Ich habe Gry versprochen, dass wir hier auf ihn warten und er ist noch nicht wieder aufgetaucht.«
»Er wird nicht kommen.«
»Ach so ... Ja, dann kann ich ... Moment!« Mit der Hand auf dem Türgriff drehte sich Nivia noch einmal zu Haru herum. »Was soll das heißen, er wird nicht kommen? Er wird nicht kommen, weil er darauf wartet, dass wir zu ihm kommen oder er wird nicht kommen, weil ...« Nivia hielt inne und starrte auf Harus Rücken. Ihre Gedanken überschlugen sich, als eine dunkle Vorahnung sie beschlich. Dann rannte sie los.
Sie stürmte den Weg zurück, den sie gekommen war und hielt in dem Korridor an, in welchem sie sich von Gry getrennt hatte, doch nichts zeugte noch von seiner Anwesenheit.
Außer Atem versuchte sie ihren Gedanken zu zügeln, die sich wie ein Schleier über sie gelegt hatten und die negativen Gedanken in ihr bannten.
»Gry!«, rief sie, das Echo von den Gemäuern hungrig verschlungen. »Gry!«
Erst als ihr Hals brannte und ihre Stimme heiser war, stellte sie das Rufen ein. Erschöpft vom Durchqueren der Ruine machte sie an einem der Fenster eine Pause.
Die eisige Luft, die ihr entgegenschlug, tat ihrem erhitzten Körper gut. Zufrieden nahm sie zur Kenntnis, wie die weißen Wölkchen immer langsamer ihren Mund verließen und die Gedanken in ihrem Kopf wieder klarer wurden.
Wo konnte sie noch suchen?
Da fiel ihr Blick hinunter in den Schnee. Nivia kniff die Augen zusammen und lehnte sich ein Stück weiter hinaus, als sie meinte, dort unten im Weiß etwas Rotes zu erkennen.
Ihre Fingernägel krallten sich in den kalten Stein, als die Gewissheit sie heimtückisch von hinten erschlug.
Sie stieß sich ab und stürmte die Treppe hinunter, die zurück zum Eingang führte. Draußen wütete noch immer der Schneesturm, riss die Äste mit sich und schrie laut ihren Namen.
Nivia kämpfte sich an der Mauer entlang und erst als sie um die Ecke bog, kamen die Gemäuer ihrer Aufgabe nach und schützen sie vor Wind und Schnee. Allerdings offenbarte ihr die Ruhe auch das, was sie bereits vermutet hatte, als sie aus dem Fenster geblickt hatte.
Gry lag im Schnee, sein roter Fellmantel aufgeblättert im kalten Weiß.
Sie stürzte zu ihm hinüber und betrachtete ihn von oben herab, genauso erstarrt, wie sein Leib vor ihr auf Wolken gebettet.
Mit zittrigen Beinen sank sie vor ihm auf die Knie und griff nach seiner Hand. In ihrem Kopf nur ein Gedanke: Wie?
Sein Körper bereits kalt wie Eis und weiß wie Schnee und dennoch in ihren Händen merkwürdig porös. Nivia blinzelte die Tränen hinfort und starrte auf das, was sich vor ihren Augen abspielte. Grys Körper zerfiel vor ihr zu Laub und Staub, tauchte den farblosen Boden in schillerndes Rot und Braun.
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