Kapitel 8


Der tosende Schneesturm fegte das Eis wie Glas durch den Wald. Ein Klirren drang an ihre Ohren und die Geschosse näherten sich ihnen. Noch immer starrten sie wie gebannt auf das Phänomen, das sich vor ihren Augen abspielte.

Der frostige Wind peitschte Nivia in das Gesicht und brannte auf ihrer nackten Haut. Wie Nebel verschwamm ihre Sicht zu einer trüben Brühe aus Weiß und Grau. Sie blinzelte dagegen an, doch die Kristalle piksten auf ihrer Netzhaut.

Auch Gry und Haru hatten die Hände vor das Gesicht geschlagen und schirmten ihre Augen vor den kalten Nadelstichen der Natur ab.

»Wir müssen von hier verschwinden«, rief Haru und erntete ein dankbares Nicken von Gry.

»Lasst mich vorausgehen, ich kenne einen Unterschlupf in der Nähe, wo wir auf das Ende des Unwetters warten können.« Gry deutete mit einer Handbewegung an, ihm zu folgen. Er reckte die Nase empor und holte ein paarmal tief Luft, dann hüpfte er geschmeidig über einen umgefallenen mit Schnee bedeckten Baumstamm und verließ den Pfad in Richtung Osten.

Nivia folgte ihm dicht auf den Fersen und auch Haru schloss sich ihnen an. Es dauerte nicht lange, bis sich ein altes Gemäuer vor ihnen im Schnee offenbarte. Zwei alte beschossene Türme zeugten von schwierigen Zeiten der Not und ragten wie ein Mahnmal in den Himmel empor.

Als sie durch den Torbogen schritten, folgten ihnen noch ein paar Wehen, doch schon kurz darauf konnten ihnen nur noch ein paar vereinzelte Schneeflocken folgen.

Während Gry sich die Fellmütze vom Kopf zog und sie von Schnee und Eis befreite, warf Nivia einen verstohlenen Blick auf ihn. Sie dachte an die alte Baracke, die er sein Heim nannte und konnte nicht umhin festzustellen, dass er eine merkwürdige Vorliebe für Gebäude in miserablen Zustand hatte. Dennoch war sie ihm auch dankbar, denn durch ihn waren sie nun nicht länger in Sturm und Eis gefangen.

»Ist es nicht gemütlich hier?«,fragte Gry.

Nivia nickte. »Fast wie bei dir zu Hause.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen, die hinter der weißen Maske verschwanden, fuhr Haru mit dem Finger über ein verschnörkeltes Geländer, wobei er eine Wolke aus Staub und Flusen aufwirbelte. »Erinnert tatsächlich ein wenig an deine Hütte.«

»Ist das euer ernst?«, fragte Gry und als Nivia die Hoffnung in seiner Stimme bemerkte nickte sie erneut. Wenn sie ihm so leicht eine Freude machen konnte, dann würde sie über den Dreck hinwegsehen.

»Woher kennst du diesen Ort?«, fragte sie. Die Neugierde, wie er auf die Ruine gestoßen war, war zu groß.

»Oh, beim Sammeln von Kastanien und Eicheln bin ich eines Tages auf diese alten Gemäuer gestoßen und habe mich sogleich in sie verliebt. Es freut mich ungemein, dass es euch genauso ergeht wie mir.« Begeistert klatschte er in seine Hände.

Ein Kichern kam über Nivias Lippen. Ironie war scheinbar wirklich nicht seine Stärke, doch das sollte nicht ihr Problem sein.

»Also bleiben wir hier, bis sich die Wetterverhältnisse gebessert haben?« Sie wartete auf keine Antwort und begann damit durch die Gänge zu streifen, dich gefolgt von Haru und Gry.

»Zumindest für die Nacht«, antwortete der Gesichtslose, der so eben eine Tür aufgestoßen hatte und einen Blick in die Röumlichkeiten warf. »Wir sollten nicht vergessen, dass wir ein Ziel haben und uns morgen früh wieder auf den Weg machen, damit wir es noch rechtzeitig schaffen.«

Nivia blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich zu den beiden in ihrem Rücken um. Ein verlorener Gedanke kehrte in ihr Gedächtnis zurück. »Was hast du überhaupt vor, Haru? Wo willst du hin? Du hast dich uns angeschlossen, aber was ist dein Ziel?« Plötzlich gesellte sich ein weiterer Gedanke dazu, der ihr den Atem raubte. »Tidus!«

Haru und Gry warfen sich einen verwunderten Blick zu. »Tidus?«, fragte Gry. »Was ist mit ihm?«

Nivia konnte es nicht fassen, dass sie nicht bereits eher daran gedacht hatte. »Wir müssen einen Umweg in Kauf nehmen. Wir müssen seiner Mutter erzählen, was mit ihm geschehen ist, dass er ...«

»Dass er?«, wiederholte Haru. »Was genau willst du ihr denn sagen? Du kannst es ja nicht einmal selbst aussprechen.«

Mit zusammengepressten Lippen warf sie hilfesuchend Gry einen Blick zu, doch der zuckte lediglich mit den Achseln.

»Wo er recht hat ...«

»Du jetzt auch? Hast du dich von Haru anstecken lassen?« Nivia seufzte. »Seid nicht so barbarisch. Eine Mutter wartet auf ihr Kind und wir wissen, was mit ihm geschehen ist. Wir müssen es ihr erzählen, wenn wir ihn ihr schon nicht zurückbringen können.«

Haru verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an die alten Gemäuer. »Und du denkst nicht, dass sie dir die Frage stellen könnte, weshalb du nichts dagegen unternommen hast? Warum du nur danebengestanden hast und eine stille Beobachterin gewesen bist? Meinst du nicht, sie könnte vielleicht so weit gehen und dich für sein Dahinscheiden verantwortlich machen?«

Wut flammte in Nivia auf. »Hör auf, mich immer und immer wieder dafür verantwortlich zu machen. Du warst es doch, der ihn in meiner Obhut zurückgelassen hat und der dann einfach so im Nichts verschwunden ist.«

»Leute, Leute«, Gry trat mit erhobenen Händen zwischen die beiden Streithähne, »das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Schuldzuweisungen. Seht nur! Der Wind peitscht den Schnee durch ein kaputtes Fenster. Wir sollten uns ein sicheres Zimmer suchen und unsere Kräfte sparen.«

»Aber Haru hat meine Frage noch nicht beantwortet«, erwiderte Nivia und schickte Eiszapfen mit ihren Augen. »Warum bist du hier?«

»Werde ich auch nicht.« Er erwiderte ihren Blick mit Blitzen, doch der Donner blieb aus. Dann winkte Haru ab und trat an ihr vorbei. »Das ist mir zu albern. Ich bin dir keinerlei Rechenschaft schuldig.«

»Das ist wahr«, rief sie ihm hinterher. »Dennoch wüsste ich gerne, mit wem ich meine Zeit verbringe. Ich weiß von dir nichts, nur das unser Weg scheinbar derselbe zu sein scheint.«

Haru drehte sich nicht erneut zu ihr um, stand einfach nur still im halbzerstörten Korridor der Ruine und starrte in die Dunkelheit, die vor ihm lag. Seine Schultern hoben und senkten sich bei jedem Atemzug, den sein Körper unter scheinbar großer Anstrengung leistete.

»Das ist bedauerlich«, sagte er schließlich leise. »Denn ich weiß alles von dir.«

Kleine Steine und Splitt knirschten unter seinen Füßen, als er sich in Bewegung setzte und in der Dunkelheit verschwand.

Nivia entließ geräuschvoll die Luft aus ihren Lungen, von sich selbst überrascht, dass sie sie überhaupt angehalten hatten.

»Er weiß alles von mir?«, fragte Nivia murmelnd in die Leere vor sich, doch eine Antwort erhielt sie aus ihrem Rücken.

»Weißt du, manchmal binden Gegenstände unsere Gedanken und lassen sie nicht mehr los. Das kann gut sein, weil wir so unbedarft und ohne Reue weiterziehen können, aber leider vergessen wir damit auch wichtige Erinnerungen.«

»Gry«, sprach Nivia, »du sprichst in Rätseln.«

Ein kehliges Lachen hallte über Nivia hinweg und wurde von den alten Gemäuern verschlungen. »Und manchmal müssen wir schweigen, um uns selbst einen Vorteil zu verschaffen.«

»Du hättest mir also auch etwas zu sagen? Hast du ebenfalls ein Geheimnis? Besitzt du Wissen über mich, das du absichtlich verschweigst?«

Gry hob abwehrend die Hände. Seine Fellhandschuhe baumelten an einer roten Kordel aus dem Ärmel heraus. »Ich? Du weißt doch, warum ich noch hier bin oder hast du deine Schulden bei mir vergessen? Deine Rechnung wartet auf Bezahlung und nur, weil Tidus sich erfolgreich davor gedrückt hat, heißt das nicht, dass ich auch dich so davonkommen lasse. Ich vergesse nie.«

»Schon gut.« Resigniert winkte Nivia ab. »Ich bezahle meine Schuld bei dir, wie ich es versprochen habe. Du musst nicht so darauf herumreiten. Irgendwann wird dir das noch zum Verhängnis werden.«

»Meinst du? Es geht mir nicht nur um Gerechtigkeit, Nivia. Ihr seid in mein Haus eingedrungen und habt meine Holzvorräte benutzt. Was wäre, wenn ich nicht mehr hätte heizen können? Dann würde ich erfrieren. Möchtest du, dass ich auf diese Art und Weise meinen letzten Atemzug tätige? Würdest du mit einer weiteren Schuld leben können?«

»Nein, natürlich nicht.« Nivia ließ den Blick sinken. »Bitte glaub mir, wenn ich dir versichere meine Schuld zu begleichen.«

Schweigend musterte Gry sie. Sein Blick lag schwer auf ihrem Haupt. Erst als sein Kichern an ihr Ohr drang, hob sie den Blick.

»Jetzt mach nicht so ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter«, trällerte Gry ihr entgegen. Lässig verschränkte er die Arme in seinem Rücken und tänzelte ein paar Schritte um sie herum. Mit einem Augenzwinkern fügte er schließlich hinzu: »Ich verlange ja keine Zinsen.«

»Gut zu wissen«, murmelte Nivia. Unglücklicherweise konnte sie Gry nicht gut genug einschätzen, um sicherzugehen, ob er scherzte oder die Wahrheit sprach.

»Ich weiß, dass das für dich keine Option ist, aber ich möchte dir das Angebot gerne noch ein letztes Mal unterbreiten«, fuhr er ernst fort. »Mit deinem Kopfschmuck wären alle deine Schulden bei mir getilgt. Auch die, die seit Tidus' Tod auf dich übergegangen sind.«

Dass sie nun auch für Tidus' Schulden verantwortlich war, hörte Nivia zum ersten Mal. Dennoch hatte sie keine passenden Argumente, um sich dagegen zur Wehr zu setzen, also blieb ihr nichts anderes übrig, als darüber nachzudenken. Von Fairness hatte Gry scheinbar noch nichts gehört.

Auch wenn es ihr Gewissen erleichtern würde, hinderte sie etwas daran, sein Angebot anzunehmen.

Der Sturm wütete und peitschte den Schnee durch die alten Gemäuer, durchdrang die Stille, die für einen Moment zwischen ihnen herrschte und fraß sich in Gehör und Körper.

Gry seufzte schließlich und lenkte so Nivias Aufmerksamkeit wieder auf ihn. »Es war nur ein Angebot. Mach dich deshalb nicht so verrückt. Hast du die Kastanie noch, die ich dir geschenkt habe?«

Vom plötzlichen Gedankensprung irritiert blinzelte Nivia, dann nickte sie und zog die Kastanie aus ihrer Tasche.

»Das ist gut«, sagte er. »Sie wird dir ganz bestimmt Glück bringen. Mir hat sie stets gute Dienste erwiesen, also wird dir mit Sicherheit etwas einfallen, wie du mich bezahlen kannst.« Bevor Nivia etwas einwenden konnte, fuhr er fragend fort: »Versprichst du mir etwas?«

»Was denn?« Misstrauisch verengten sich ihre Augen.

»Wirst du ab und zu mal an mich denken, wenn du sie betrachtest?«

»Du meinst, wenn ich meine Schulden beglichen habe und wir wieder getrennte Wege gehen?«

Gry nickte.

»Werde ich«, versprach Nivia. »Da ich aber weiß, wo du wohnst, kann ich dich auch besuchen kommen, wenn du das möchtest. Möglicherweise bin ich auf den Geschmack des Maronenbreis gekommen.« Ein Grinsen umspielte ihre Lippen.

Gry schüttelte den Kopf. »Noch nicht mal deine alte Rechnung bezahlt und schon planst du neue Schulden. Aber ja, möglicherweise würde ich mich freuen.«

»Einverstanden«, sagte sie. »Wollen wir uns dann mal auf die Suche nach Haru begeben? Er wartet sicherlich schon beleidigt in irgendeiner Ecke.«

»Ist die Sehnsucht etwa schon so groß? Reicht dir meine bloße Anwesenheit nicht mehr?« Gry schnalzte mir der Zunge und fuhr mit seiner Hand theatralisch an seine Brust. »Das schmerzt sehr, Nivia. Du verletzt mich.«

Und da war er wieder, die Persönlichkeit von Gry, die Nivia einfach nicht ernst nehmen konnte. Übertrieben rollte sie mit ihren Augen. »Komm schon, lass uns gehen und ihn suchen.«

Mit einem viel zu großen Grinsen für sein Gesicht folgte Gry Nivia durch den Korridor in die Dunkelheit hinein, ehe er einen Augenblick später stehen blieb.

»Was ist?«, fragte sie.

»Nichts ... Ich dachte nur ...« Gry starrte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Geh schon mal vor, ich komme gleich nach.«

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