Kapitel 10


»Vielleicht ist er gefallen«, sinnierte Haru laut. Seit er Nivia vor geraumer Zeit draußen vor den Mauern der Ruine mitten im Schnee gefunden und sie ihm erzählt hatte, was mit Gry geschehen war, schwieg sie die meiste Zeit. Es war beinahe ein wenig lächerlich, dass ihm die Problematik dieser Ruhe so bittersüß aufstieß. Nervte ihr Gequatsche ihn die meiste Zeit, so konnte er sich im Moment kaum noch an ihre Stimme erinnern – und das wurmte ihn zusehends. Nicht um ihretwillen, sondern viel mehr um seinetwillen, denn das würde sein Vorhaben wesentlich schwieriger gestalten.

Der Schock über den Verlust zweier lieb gewonnener Freunde saß tief und legte sich wie ein dunkler Schatten auch über Nivias Gemüt. Sie war schon mit Tidus' Tod überfordert gewesen, Grys zog ihr beinahe den Boden unter den Füßen weg.

Obwohl genau jetzt in der Tragik dieser Geschichte der beste Zeitpunkt gewesen wäre, seine Pläne in die Tat umzusetzen – da Nivia verletzlich und unvorsichtig erschien –, entschied sich Haru dagegen. Stattdessen tat er genau das Gegenteil von dem, was er sich vorgenommen hatte, gleichwohl ihm bewusst war, dass er diesen Plan schon einmal verfolgt und er missglückt war. Doch noch ist diese Geschichte nicht zu Ende, das Ziel nicht durchquert und die Würfel nicht gefallen. Noch hatte er ein Ass im Ärmel.

»Es besteht natürlich auch die Möglichkeit, dass er ...«, fuhr Haru schließlich fort, als ihm die Stille zwischen ihnen unerträglich erschien.

»Sag es nicht!«, fiel Nivia ihm ins Wort und der Klang ihrer Stimme entlockte ihm ein zupfendes Lächeln. »Sprich es ja nicht aus. Er hätte niemals diesen Weg gewählt. Zumal er doch unbedingt wollte, dass ich meine Schulden bei ihm tilge und er sich auf ein Wiedersehen gefreut hat.«

»Er hat sich auf ein Wiedersehen gefreut?« Haru hoffte, Nivia würde seine Verwunderung nicht wahrnehmen und scheinbar hatte er Glück, denn sie war zu sehr in Gedanken versunken, als ihm aufmerksam zu lauschen und so nickte sie lediglich eifrig.

»Ja, er hat zugestimmt, dass ich ihn in seiner Hütte besuchen darf. Möglicherweise habe ich ihn überzeugt, als ich erwähnte, mich auf seinen Maronenbrei zu freuen. Doch das spielt keine Rolle. Wir waren uns einig.«

»Schon gut«, lenkte Haru ein, zufrieden mit sich selbst die Stille gebrochen zu haben. »Du hast bestimmt recht, es war sicherlich nur ein Unfall. Vielleicht ist er ausgerutscht oder gestolpert.«

»Hm.« Nivia dachte nach. Wie konnte das nur passieren und was genau war geschehen? Dann fiel ihr etwas ein. »Als wir in dem Korridor standen, da schien es, als hätte Gry etwas oder jemanden gesehen.«

»Wie kommst du darauf?«, wollte Haru wissen.

»Er hat lange zurückgesehen«, erinnerte sich Nivia, »und mich dann vorgeschickt, so als würde er ein Vier-Augen-Gespräch mit jemandem führen wollen.«

»Hm.« Nachdenklich blieb Haru stehen. Seit sich der Sturm gelegt hatte und die beiden sich wieder auf den Weg ihrer Weiterreise begeben hatten, lag die Welt in Frieden. »Das ist wirklich merkwürdig. Hast du denn jemanden gesehen?«

Nivia schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe nicht weiter darauf geachtet. Ich ...« Sie hielt inne und biss sich auf die Lippe, konnte sie Haru doch wohl kaum gestehen, dass sie sich auf die Suche nach ihm begeben wollte und dass er der Grund war, weshalb sie Gry zurückgelassen hatte.

»Du ...?«, ermutigte Haru sie.

Nivias Wangen begannen unangenehm zu glühen. Sie winkte ab. »Schon gut, vergiss es einfach.«

Haru musterte sie mit einer seltsamen Mischung aus Unverständnis und Vorsicht. Dann zuckte er mit den Achseln und seufzte. »Das kommt zwar etwas unerwartet, aber es ist schön, dass du deine Worte wiedergefunden hast.«

Von seiner Ehrlichkeit völlig überrumpelt, stolperte Nivia beinahe über ein Murmeltier, das ihren Weg kreuzte. Verschlafen blinzelte es sie an und gähnte, ehe es langsam den Pfad passierte und unter einem Busch mit kleinen grünen Knospen Schutz suchte.

Abgelenkt sah Nivia dem Tier hinterher, doch ehe sie eins und eins zusammenzählen konnte, riss Haru die Kontrolle wieder an sich und zog sie weiter mit sich fort. »Wenn ich gewusst hätte, dass dich das so durcheinander bringt, dann hätte ich vielleicht besser geschwiegen.«

»Nein, es ist nur ...« Nivia raffte mit der Hand ihren Rock, um nicht darauf zu treten, denn Haru hatte an Tempo zugelegt und zog sie noch immer hinter sich her. »Kannst du bitte langsamer gehen oder mich loslassen? Ich kann dir so schnell nicht folgen.«

Als hätte Haru einen Kälteschock erlitten, ließ er ihre Hand sinken.

»Danke«, sagte Nivia und nahm dann das Gespräch von vor einigen Minuten wieder auf. »Weißt du, ich bin bisher davon ausgegangen, dass du so schweigsam bist, weil du eine Abneigung gegen mich hegst. Ich hätte nicht gedacht, dass du dich gerne mit mir unterhältst, deshalb kam es etwas unerwartet, das ist alles.«

»Das ist es nicht«, gestand er ihr. »Es verkompliziert die Dinge nur ungemein.«

»Nein, das finde ich ganz und gar nicht. Eigentlich macht mich das gerade sehr glücklich und ich danke dir für dieses Geschenk.« Sie revanchierte sich mit ihrem strahlendsten Lächeln. »Wenn man es genau nimmt, ist es bereits das zweite, das du mir gemacht hast.«

»Das zweite Geschenk?«

»Das Schneeglöckchen«, erinnerte sie ihn. »Darf ich es sehen? Du hast es mir versprochen!«

Haru betrachtete sie von oben herab, unerfreut darüber, dass ihr flehender Blick ihn grübeln und zweifeln ließ. Mit knirschenden Zähnen griff er in seine Tasche und holte ein mit bunten Blumen besticktes Taschentuch daraus hervor. Vorsichtig entfaltete er es in seinen Händen und offenbarte Nivia ihr Geschenk.

Sanft gebettet lag das Schneeglöckchen in Harus Händen. Es hatte sich in seiner Pflege tatsächlich so weit erholt, dass das Grün zurückgekehrt war und auch das Köpfchen hing nicht mehr leblos hinunter, sondern strotzte vor Kraft und Leben.

»Du hast wahrlich einen grünen Daumen!«, rief Nivia begeistert. »Es sieht noch viel prachtvoller aus als je zuvor!«

»Nun ... Ich habe mich bemüht.«

»Kann ich es halten?«, fragte Nivia hoffnungsvoll.

»Ich weiß nicht ...«, antwortete Haru, während er die Ecken seines Taschentuchs wieder über das Schneeglöckchen legte. »Dein Daumen ist nicht gerade grün.«

Beleidigt blies Nivia die Wangen auf. »Das war nicht meine Schuld! Du hast es aus der Erde ... Ach vergiss es. « Sie seufzte. »Lass uns nicht wieder streiten, wo wir uns doch gerade so gut verstehen.«

»Einverstanden«, sagte Haru. »Und mein Angebot besteht weiterhin. Ich werde es wie einen Schatz hüten und du kannst es jederzeit betrachten und dich daran erfreuen.«

»Du willst mich sicherlich damit nur an dich binden«, neckte Nivia mit einem Augenzwinkern. Allerdings verfehlte es seine Wirkung, denn Haru blieb stocksteif an Ort und Stelle stehen.

»Wie bitte?«

»Ja, ich denke, ich habe dich durchschaut.«

»Inwiefern?« Seine Augen wurden schmal.

»Oh, ich nehme an, dass du es genießt, wenn ich dich danach frage und du mir zeigen kannst, wie prachtvoll es sich in deiner Obhut entwickelt.«

Haru atmete tief durch und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Hältst du mich wirklich für so durchtrieben?«

Nivia erwiderte das Grinsen und zuckte mit den Achseln. »Du streitest es zumindest nicht ab, was meinen Verdacht nur bestätigt.«

»Na dann«, er tätschelte das Päckchen in seiner Hand und verstaute es wieder in seiner Tasche, »weißt du ja, wo du es finden kannst und was du zu tun hast, um es zu sehen.«

»Haru?«, sagte Nivia plötzlich wieder ernst. »Danke, dass du mich ein wenig abgelenkt hast.«

»Gern geschehen.«

Die Sonne kämpfte sich zaghaft durch Wolken und Äste und ließ den Schnee vor ihren Augen glitzern. Irgendwo in ihrer Nähe durchbrach das Rauschen eines Baches die allgegenwärtige Stille und rang mit einer Singdrossel um Aufmerksamkeit.

»Es gibt ein Sprichwort«, sagte Haru plötzlich. »Es besagt, dass alle Monate im Jahr den milden Januar verwünschen. Weiterhin heißt es auch: Ein Januar ganz ohne Schnee tut den Bäumen weh. Weißt du, dem muss ich widersprechen. Ich denke, wir hatten jetzt genug Schnee und Eis.«

Je länger sie Harus Worten lauschte, desto weniger konnte sie leugnen, dass seine Stimme ihr irgendwie bekannt vorkam, und vielleicht war das sogar der Grund für seine Maske und warum er sich ihr nicht offenbaren wollte.

»Du magst ihn nicht?«, fragte sie, den Blick starr auf den matschigen Pfad gerichtet.

»Doch ich mag ihn. Sehr sogar«, gestand er ihr, »aber ich denke, seine Zeit ist nun vorbei. Es wird Zeit, sich zurückzuziehen, um etwas Neuem platz zu machen.«

Nivia seufzte. »Sind wir nicht alle auf der Suche nach einem besseren Ort? Einem Ort, wo wir so sein können, wie wir sind?«

Haru rang mit einer Antwort, denn seine Maske schob sich wieder von links nach recht, als würde er mit dem Kiefer mahlen.

»Niv?«, sagte er schließlich, als er eine Entscheidung getroffen hatte. »Erinnerst du dich an unseren Tanz und an das Gespräch, das wir geführt haben? Weißt du noch, was ich dir erzählt habe? Dass die gierigen Finger der Menschen nach immer mehr gelechzt und dass sie nichts zurückgegeben haben? Ich habe dir nie das Ende erzählt.«

»Das Ende?«, fragte Nivia. Ihr Mund war plötzlich staubtrocken. »Wirst du es mir jetzt erzählen?«

Haru hielt sie auf und drehte sie zu sich herum. Er legte eine Hand an ihr Kinn und zwang Nivia ihn anzusehen. »Mutter Natur weinte und schickte jemanden, der den Menschen Demut brachte, doch hatte diese Tat eine weitere Konsequenz, denn er löschte nach und nach auch das Leben aus. Leben und Tod liegen oft nah beieinander, weshalb sich jemand dem ewigen Januar entgegenstellen und ihn vertreiben muss. Immer und immer wieder.«

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