Kapitel 1
Nivia strich über die Zweige der Tannen, die sich durch das Gewicht des Neuschnees gefährlich in Richtung Waldboden wölbten. Unter der zusätzlichen Last ihrer Fingerspitzen kapitulierend, rutschte die Schneedecke mit einem Rauschen hinab und türmte sich zu ihren nackten Füßen. Die letzten feinen Eiskristalle stoben von der winterlichen Sonne geküsst davon.
Sie atmete ein kleines weißes Wölkchen aus und lächelte erfreut darüber, dass die klare Luft, die ihre Lungen flutete, weiteren Schnee verkündete. Die absolute Stille des Waldes, die sie umgab, konnte nur noch von der Schönheit der unberührten Winterlandschaft übertroffen werden.
Fast schon mühelos zog Nivia die Beine durch das Weiß und glitt durch das dichte Unterholz des Waldes. Ein toter Ast verlor bei einer Berührung seine letzten Nadeln und streifte ihr die kleine silberne Krone von ihrem Haupt. Lautlos fiel sie zu Boden und hinterließ einen königlichen Abdruck im Schnee, der ihren Sturz gedämpft hatte.
Nivia ging in die Hocke und schlang die Arme um den aufgebauschten Stoff ihres Kleides, der sich um ihre Knie ergoss. Mit geneigtem Kopf betrachtete sie das Symbol ihrer Macht. Vor langer Zeit war sie in einem jahrtausendealten Spiel, das der Stärkste gewann, zur Siegerin gekürt worden.
Behutsam fuhr Nivia mit der Handkante durch den Schnee und zog die Krone von einem glitzernden Schweif gefolgt daraus hervor. Mit einem Lächeln krönte sie sich selbst.
Ihr Weg war noch weit und beschwerlich, also setzte sie ihn durch die Schneestille der Winterlandschaft fort, bis eine Merkwürdigkeit in ihrem Augenwinkel sie innehielten ließ.
Ungläubig trat sie ein Stück näher und drückte einen der Zweige in ihrem Sichtfeld hinunter. Direkt am Ufer eines zugefrorenen Sees hatte sich eine handgroße schneefreie Fläche gebildet, aus der etwas so Farbenprächtiges wuchs, dass es in ihren Augen stach. Das dröhnende Brummen, das davin ausging brachte sie ins Schwanken, sodass sie sich an einem Baumstamm abstützen musste, um nicht auf die Knie zu sinken.
Als Nivia sich an die Intensität dieses Gebildes gewöhnt hatte, trat sie mit einem ausgestreckten Finger näher.
»Nicht!«, durchbrach eine tiefe Stimme die Stille.
Mitten in der Bewegung hielt Nivia inne, ließ die Hand sinken und wirbelte herum, bevor sie das farbenprächtige Etwas berühren konnte.
An den Stamm einer Kiefer gelehnt stand ein Mann, die Arme vor der Brust verschränkt und die Beine gekreuzt. Nivia ging aufgrund seiner Stimme und der Statur zumindest davon aus, dass es sich bei dem Gesichtslosen um einen Mann handelte, denn eine weiße Maske bedeckte sein Gesicht und nur ein paar kurze dunkle Haarsträhnen fielen ihm kraus in die Stirn.
»Mach es nicht kaputt«, unterbrach er ihr Starren und stieß sich mit dem Fuß am Baumstamm ab.
Ihre Faszination für ihn ignorierend zog sie die Augenbrauen zusammen und verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust. »Ich hatte doch gar nicht vor, es kaputtzumachen ...«
Für ein paar Sekunden fochten sie ein Blickduell aus, ohne dass einer von ihnen auch nur ein weiteres Wort sprach. Nur das Anspannen seiner Oberarme verdeutlichte ihr, dass er sie scheinbar mit Vorsicht betrachtete. Gerade als Nivia etwas hinzufügen wollte, um ihr Gesagtes zu untermauern, seufzte er und ließ die Hände sinken.
»Wie auch immer ...«, sagte er achselzuckend, griff hinter den Baum und zog eine weitere Gestalt hervor. Ein kleiner blonder Junge in kurzen Hosen starrte sie mit großen Augen an. Als der Mann ihm eine Hand auf den Kopf legte, zuckte er unter der Last kurz zusammen, was Nivia an den Schnee auf den Zweigen denken ließ.
»Das ist Tidus«, fuhr der Gesichtslose fort. »Und du bist?«
»Nivia«, stellte sie sich vor und setzte ein Lächeln auf.
Sein Blick wanderte zu ihrer Krone hinauf und er schnaubte verächtlich. Enttäuscht musste Nivia feststellen, dass er anscheinend nicht vor hatte, ihr auch seinen Namen zu verraten.
Stattdessen griff er nach dem Kragen des Kindes und schubste ihn sanft in ihre Richtung. Als Tidus zu begreifen schien, sprang er mit einem Satz zurück und klammerte sich dem braunen Wildledermantel des Mannes fest.
»Bitte nicht schon wieder, Haru ...«, wimmerte Tidus, die Augen vor Angst geweitet.
Irritiert betrachtete Nivia die Szene, die sich vor ihr abspielte. Haru streifte die Finger des Jungen von seinen Armen und legte ihm die Hände auf die Schultern, während Tränen über das sommersprossige Gesicht des Kindes kullerten.
»Wir haben das doch besprochen«, flüsterte Haru. Nivia jedoch verstand aufgrund der ewigen Stille, die sie umgab, jedes Wort genau, auch wenn in weiter Ferne ein Vogel begonnen hatte zu zwitschern.
»Jeder hat eine Aufgabe zu erfüllen und du machst nun mal den Anfang. So war es und so wird es immer sein.« Mit leichtem Druck drehte Haru den Jungen herum, sodass er Nivia wieder in das Gesicht blicken musste. Er selbst fuhr mit dem Kinn über Tidus' Schulter und legte seine Lippen an dessen Ohr. »Ich verspreche dir, dass es das letzte Mal ist.«
»Das sagst du jedes Mal ...«, erwiderte der Junge mit bebender Unterlippe, doch all sein Flehen wurde nicht erhört.
»Aber dieses Mal wird es endgültig sein«, fuhr der Gesichtslose unerbittlich fort.
Nivia begegnete Harus funkelnden grünen Augen, die hinter der weißen Maske genauso farbenprächtig hervorstachen wie ...
Sie riss den Blick von ihm los und starrte wieder auf das Gebilde vor ihren Füßen. Das gleiche Grün trug ein kleines weißes Köpfchen.
»Niv!«, rief er plötzlich und zog ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich.
Etwas Grünes flog durch die Luft auf sie zu. Im letzten Augenblick riss sie die Hände hoch und fing es auf.
»Was ist ...«, setzte sie an, doch Haru war verschwunden. Nur Tidus stand noch immer an Ort und Stelle, die Arme fest um seinen schmächtigen Körper geschlungen.
Vollkommen leise und sanft rieselte Schnee zu Boden und begab sich auf der gefrorenen Wasseroberfläche des Sees zur Ruh. Auch der Vogel war verstummt und die absolute Stille hatte wieder von der Welt Besitz ergriffen.
»Wo ist er hin?« Nivia drehte sich im Kreis, aber Haru blieb verschwunden.
Tidus trat von einem Bein auf das andere und schluckte trocken, ehe er zu einer Antwort ansetzte. »Er ist gegangen.«
Ungläubig glitt ihr Blick durch den Wald. »Und er hat dich einfach hier zurückgelassen? Einen tollen Freund hast du da. Oder seid ihr verwandt? Ist er vielleicht dein Bruder ...?« Blinzelnd hielt sie inne und fuhr zu ihm herum. »Oder ist er gar dein Vater?«
»Der?«, würgte Tidus hervor und deutete mit dem Daumen über seine Schulter hinweg. »Nein, er ist nur ... ein Nachbar.«
Erleichtert nickte Nivia. Aber als sie begriff, dass Haru sie scheinbar dazu auserkoren hatte, ein Auge auf den Jungen zu werfen und sich um ihn zu kümmern, gefror ihr Lächeln zu Eis.
»Du kannst nicht bei mir bleiben«, stieß sie hervor. Noch nie hatte sie sich um jemanden kümmern müssen. Diese Art von Verantwortung lag ihr einfach nicht.
»Ich will auch gar nicht bleiben«, erwiderte Tidus. »Hier ist es mir nämlich viel zu kalt.« Er strich sich den Schnee von Haaren und Schultern und zog sich dann in eine wärmende Umarmung zurück. Mit einem Nicken auf ihre Hand fügte er hinzu: »Das ist ein Apfel. Du kannst ihn essen.«
Sie betrachtete den Apfel und fuhr mit ihrer Hand über die glatte Schale. Er war ebenso makellos wie der Schnee, den sie so sehr liebte.
Nivia zögerte nur einen Moment, dann hob sie ihn an ihre Lippen und biss in das feste Fruchtfleisch. Die Geschmacksknospen ihrer Zunge zogen sich bei der säuerlichen Note zusammen; Speichel bildete sich in ihrem Mund. Mit ihrem Handrücken wischte sie sich den Saft aus den Mundwinkeln.
Völlig verzückt deutete Nivia auf die schneefreie Zone zu ihren Füßen. »Weißt du auch, was das ist?«
Tidus nickte. »Ein Schneeglöckchen ...«
»Es ist wunderschön«, sagte Nivia.
»Es ist stark. Es ist eines der ersten Pflanzen, die dem Winter trotzt.«
Verdutzt sah Nivia ihn an. Genau in diesem Moment kam Tidus ihr so gar nicht kindlich, sondern fast schon sehr erwachsen und weise vor.
Als könne er ihre Gedanken lesen, füllten sich seine Augen plötzlich erneut mit Tränen, kullerten über seine prallen Wangen, bis sie sich an seinem Kinn sammelten und zu Boden fielen.
»Hilflos stand Nivia da und suchte nach den richtigen Worten. »Warum weinst du?«
Der Junge schluchzte und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Rotz von der geröteten Nase, die ebenso grotesk aus seinem blassen, fast schon bläulichen Gesicht hervorstach wie das Grün des Schneeglöckchens. »Weil Haru mich zum Sterben zurückgelassen hat ...«
Nivia runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Ich werde sterben«, antwortete Tidus und ließ den Kopf hängen.
Die Worte standen zwischen ihnen, vom Eis gefangen und konnten nicht zurückgenommen werden. Nur das Schneegestöber erbarmte sich und trug sie schließlich mit sich davon.
»Hör zu«, sagte Nivia gedehnt, »ich bin eigentlich auf dem Weg zu meiner Mutter, aber wenn du den Weg nach Hause kennst, kann ich einen Umweg in Kauf nehmen und dich ein Stück begleiten. Wer weiß, vielleicht holen wir diesen Haru wieder ein. Dass er dich zurückgelassen hat, war sicherlich nur ein Versehen. Wahrscheinlich hat er sich selbst auch schon auf die Suche nach dir begeben.« Nivia konnte nur hoffen, dass ihr Plan aufging und sie dem Gesichtslosen noch einmal begegneten. Denn eines war klar: Sie hatte ein Schneehühnchen mit ihm zu rupfen.
»Meinst du das ernst?«, fragte Tidus und Hoffnung schwang in seiner Stimme mit.
Nivia rückte die kleine silberne Krone auf ihrem Haupt zurecht und grinste zufrieden mit sich selbst, Tidus' Tränen für den Moment getrocknet zu haben.
»Du kennst den Weg?«, fragte sie.
Tidus nickte rasch und deutete auf einen unberührten Pfad, eingebettet in Bäume und Sträucher voller Schneebeeren, der Nivia mit Ungewissheit lockte.
Sie legte dem Jungen den Arm um die Schultern und zog ihn in eine wärmende Umarmung zu sich heran. Gemeinsam schritten sie den Pfad entlang.
»Kann ich dir eine Frage stellen?«, fragte Nivia. »Seid ihr so plötzlich aufgebrochen oder warum trägst bei diesem Wetter ein kurzes Beinkleid?«
Tidus schüttelte den Kopf, seine Beine schneeblass verschmolzen mit der Umgebung, durch die sie wateten. »Nein, aber ich besitze keine langen Hosen. Ich brauche sie nicht.«
Nivia lag es auf der Zunge nach dem Warum zu fragen, aber Tidus widmete seine Aufmerksamkeit mit zusammengezogenen Augenbrauen akribisch wieder dem Pfad, der vor ihnen lag. Sein Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht weiter über sich oder seine Hosen sprechen wollte.
Schweigend gingen sie weiter, bis Nivia bemerkte, dass Tidus immer mal wieder versuchte, unauffällig zu ihr hinaufzustarren. Sein Mund öffnete sich ein paarmal und schloss sich dann wieder, ohne dass ein Wort seine Lippen verließ. Schließlich blieb er einfach stehen.
Nivia drehte sich zu ihm herum und sah ich fragend an. »Was ist los? Haben wir uns verlaufen?«
Tidus' blonder Schopf bewegte sich von links nach rechts. »Deine Krone ...«, sein Blick hob sich noch ein Stück über ihr Haupt, »kann ich die vielleicht mal aufsetzen?«
Nivia erstarrte, nur ihre Fingerspitzen legten sich an das Symbol ihrer Macht. »Nein.«
»War ja klar ...«, murrte er.
»Tut mir leid, aber das ist einfach nicht möglich.« Nivia rang sich ein Lächeln ab, in der Hoffnung ihn so zu besänftigen. Obwohl sie selbst nicht einmal genau wusste, woher ihr Widerwille gegenüber seines Wunsches stammte, so war ihr eines mehr als deutlich bewusst: Sie wollte diese Krone nicht teilen.
Tidus rollte mit den Augen und stapfte an ihr vorbei, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.
Das schlechte Gewissen überkam Nivia. Der Junge war ausgesetzt und allein gelassen worden. Das Einzige, womit sie ihm hätte eine Freude machen können, musste sie verneinen.
Mit gesenktem Kopf trottete sie hinter Tidus her, der eine durchgängige Spur hinterließ und den Schnee bis zu seinen Hüften türmte.
»Lass mich vorgehen«, rief Nivia, während sie hinter ihm herlief und ihn an der Schulter berührte. »Ich mache den Weg für dich frei.«
Tidus schnaubte und riss sich los. »Ist doch eh alles sinnlos ...«
Als hätte er Nivia ins Gesicht geschlagen, blieb sie wie festgefroren stehen. »Nichts ist sinnlos ...«, murmelte sie schließlich und wiederholte dann noch einmal lauter: »Nichts ist sinnlos, hörst du? Alles hat seine Bedeutung und seine Berechtigung, also sag so etwas nicht.«
Der Junge blieb stehen und wandte sich zu ihr herum. »Ist ja klar, dass ausgerechnet du das sagen musst.«
Der kleine Funke Wut in ihr erlosch und machte völligem Unverständnis Platz. »Ich verstehe nicht ... Was habe ich denn damit zu tun?« Ungläubig blinzelte Nivia, während sie auf eine Antwort wartete, die Tidus ihr offensichtlich nicht geben wollte. Schnaubend hatte er sich bereits wieder umgedreht und marschierte weiter durch die Schneelandschaft, die ihn zu verschlingen drohte.
Nivia starrte ihm nach und warf dann einen Blick zurück. Der Schnee hatte ihre Spuren beinahe wieder verwischt. Jetzt einfach umzukehren, zurück zur gewohnten Stille – der Einsamkeit ihrer Seele und ihres Herzens –, schien für sie plötzlich zur Option zu werden.
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