6. 𝐴𝑙𝑡𝑒 𝐵𝑒𝑘𝑎𝑛𝑛𝑡𝑒, 𝑛𝑒𝑢𝑒 𝐹𝑟𝑒𝑢𝑛𝑑𝑒

So etwas würde Naomi nicht so schnell wiederholen. Es war schon schlimm genug auf verbotenem Boden erwischt zu werden, aber dann auch noch so blöd auszurutschen sah ihr ähnlich.

„Ich hätte Alec gar nicht zugetraut so stark zu sein", meinte Diana später, als sie das Schwimmbad wieder verlassen hatten.
Ja das hätte sie überhaupt nicht von dem schmalen Typ erwartet, der sich sonst immer unter seinen weiten Klamotten versteckte.

Zu schade, dass es nicht James gewesen war, der sie aufgefangen hatte. Allerdings würde Naomi James diese schnellen Reflexe nicht zutrauen.
Sie fasste sich an die immer noch glühenden Wangen. So langsam sollte es doch nachlassen. Draußen war es mindestens zwanzig bis dreißig Grad kälter.

Was dafür schlimmer wurde waren ihre Kopfschmerzen. Erst knallte ihr der Ball gegen den Kopf und dann eine schwere Eisentür.
Das hielt auch bis zur letzten Kursstunde an.
Naomi wollte so schnell wie möglich nach Hause und ihre Stirn kühlen. Wahrscheinlich würde sie morgen aussehen wie ein Einhorn.
Um das so gering wie möglich zu halten, sollte sie besser was tun.

Sie radelte auf dem Gehweg entlang und trat ordentlich in die Pedale, bis ein lautes Klingeln hinter ihr ertönte. Sie fuhr weit rechts, um den anderen Radfahrer hinter ihr vorbei zu lassen, doch zu ihrer Überraschung fuhr er neben ihr her.

„Hey Nao!", rief Fred mit einem breiten Lächeln, bei dem er seine strahlend weißen, ziemlich großen Zähne zeigte. Er hatte sich inzwischen geduscht und umgezogen. Jetzt war nichts mehr von dem sportlichen Studenten zu sehen.
„Fred! Hi!", grüßte Naomi erfreut ihn zu sehen.

„Das mit vorhin tut mir wirklich leid. Ich hoffe es geht wieder."
„Schon gut, ich bin nicht aus Zucker. Du hast mir ja schließlich keinen Stein vor den Kopf gehauen."
Fred musterte sie kritisch und fuhr dabei kleinere Schlangenlinien.
„Das wird aber schon ganz schön blau. Bist du sicher, dass es nicht so schlimm ist?"

Was, es wurde blau? Naomi fluchte innerlich auf Alec. Er hätte sich wenigstens entschuldigen können. Auch wenn Naomi unachtsam und absolut am falschen Ort gewesen war. Es hatte ihn überhaupt nicht gekümmert, dass er ihr mit voller Wucht die Tür vor den Kopf gestoßen hatte.
„Mach dir keine Sorgen. Wenn es eine Beule wird, bist du aus dem Schneider."
„Ach ja?"
Naomi nickte beruhigend, doch Fred konnte sie natürlich nicht verstehen.

Es herrschte einen Moment Stille und beide fuhren nebeneinander nach Hause.
„Irgendwie kommt es mir vor, als wäre ich in der Vergangenheit. Sind wir nicht früher auch so nach Hause gefahren?"
Fred hatte recht. Damals waren sie jeden Tag zur Schule und wieder nach Hause gefahren.

„Damals sind wir Freunde gewesen", sagte Naomi und schwelgte in Erinnerungen.
„Wann sind wir denn eigentlich zu Fremden geworden?"
Diese Frage hatte Naomi auch schon beschäftigt.
Sie sah zu Fred hinüber und amüsierte sich innerlich über die kleinen dünnen Härchen, die ihm vom Fahrtwind vom Kopf abstanden.

Er war schon zu einem echt süßen Typen herangewachsen. Wieso war ihr das vorher nicht aufgefallen? Und dieses Lächeln, es war aus Zucker oder?

Ganz schnell rief sich Naomi zur Vernunft. Fred konnte noch so süß sein, ihr Herz gehörte für jetzt und auf ewig ihrem James. Selbst wenn da niemals etwas draus würde, sie war einfach verrückt nach ihm.
Das wusste der gesamte Campus.

„Was hältst du denn davon, wenn wir die alten Zeiten wieder aufleben lassen würden? Wir hatten doch immer Spaß, oder nicht?"

Naomi würde nur zu gerne wieder mit Fred befreundet sein. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, dass so ein süßer Junge keine Freundin hatte, die sich eventuell darüber beschweren könnte.

„Was würde deine Freundin davon halten?", fragte sie vorsichtig, während sie einer Laterne auswich. Bloß nicht noch eine Beule. Zwei Zusammenstöße reichten ihr für einen Tag.

Einen Moment lang schien ihn diese Frage ernsthaft zu irritieren. Dann senkte er etwas den Kopf und gestand: „Ich habe keine Freundin."

Naomi wäre fast vom Rad gefallen. Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Sie starrte ihn ungläubig an.
„Guck nicht so. Du hast doch auch keinen Freund."
Schuldig.
„Naja, das liegt bei mir wohl eher daran, dass ich seit Jahren einseitig verliebt bin."
„Lass mich raten...James?"
„Woher...?"

Naomi spielte die Unschuldige.
„Na komm, welches Mädchen am Campus steht nicht auf ihn?"
„Diana", antwortete Naomi wie aus der Pistole geschossen.
„Ich rede nicht von Mädchen in einer Beziehung. Ich meine bloß diejenigen, die Single sind."

Etwas kam Naomi komisch vor. Warum führte sie diese Unterhaltung überhaupt mit Fred? Hatte er sie heute gesehen und sich überlegt sie zu seiner neuen Freundin zu machen? Hatte er ernsthaftes Interesse an ihr? Oder wollte er wirklich nur ihre alte Freundschaft aufleben lassen?

Wenn er ehrliches Interesse hatte, dann tat er Naomi leid. Sie fand ihn sehr süß, aber sie bezweifelte, dass ihr Herz sich so schnell ändern konnte.

Fürs Erste würde sie sich entspannt zurück lehnen, aber sie würde auch auf der Hut sein. Jungs und Mädchen konnten nicht für lange Zeit befreundet sein. Entweder sie hatten von Anfang an tiefere Absichten, oder es würde sich später entwickeln.

„Du hast ja recht. James ist wohl der beliebteste Student an der HKS."
„Doch weißt du was...ich habe ihn noch nie mit einem Mädchen zusammen gesehen. Er hängt nur mit seinen Freunden ab. Ich glaube ja der Typ ist schwul."

„Das habe ich auch schon gehört, aber ich glaube das nicht."
Fred lachte.
„Du willst es wohl nicht glauben."
Das auch. Naomi glaubte eher, dass er außerhalb der Uni eine Freundin hatte und deshalb keiner Anderen falsche Hoffnungen machen wollte. Es durfte einfach nicht anders sein. Allerdings hatte sie dann auch keinen Grund mehr den Avancen anderer Männer auszuweichen. Bisher gab es zum Glück keine.

Sie erreichten die letzte Kreuzung vor ihrem Viertel und mussten auf die grüne Ampel warten. Ganz in der Nähe hörte man Sirenen aufheulen und nur ein paar Sekunden später fuhren drei rasant fahrende Streifenwagen unter Blaulicht an ihnen vorbei.

„Wow, da muss was Großes passiert sein."
„Meinst du das hat was mit diesem Dieb zu tun? Er scheint in letzter Zeit ziemlich aktiv zu sein."
Naomi schüttelte den Kopf.
„Night Runner arbeitet ausschließlich nachts. Soweit er nicht seine Arbeitsweise geändert hat."
Wieder lachte Fred albern.

„Dann müsste die Presse ihn in Zukunft nur ‚Runner' nennen."
Auch Naomi konnte sich das Grinsen kaum verkneifen. Allerdings war das sehr unwahrscheinlich. So unwahrscheinlich wie James schwul war.
„Ich habe gehört, dass du ihm begegnet bist?"
Hatte sich die Sache so schnell herumgesprochen? Night Runner war absolutes Stadtgespräch.

„Ja. Ich wurde vor kurzem auf der Straße angegriffen. Er kam zufällig vorbei und hat mir geholfen. Keine Ahnung wo ich jetzt wäre, wenn er nicht gekommen wäre."
Die Stimmung wurde etwas nachdenklich, als die Ampel auf Grün umsprang. Beide rollten los und fuhren noch zwei Straßen nebeneinander her.

„Ganz ehrlich, Nao, ich bin froh dass er da gewesen ist. Ich bin kein großer Fan von ihm. Ich meine, man kann sein Geld auch auf ehrliche Weise verdienen. Doch wenn er jemandem zur Hilfe kommt, kann er so schlecht nicht sein. Ich bin ihm dankbar."

Fred sagte das so, als wäre Naomi ihm wirklich wichtig. Was sollte das? Für eine Ewigkeit hatte er sich nicht für sie interessiert und auf einmal schien es ihm etwas zu bedeuten, ob sie lebte oder nicht. Sie wurde noch nicht ganz schlau aus ihm. Doch das zuckersüße Lächeln brachte sie gleich wieder auf andere Gedanken.

„Noch einmal: Es tut mir leid wegen des Balls heute Mittag. Schön dich gesehen zu haben."
Naomi nickte freundlich und verabschiedete sich seltsamer Weise mit einem „Bis Morgen", bevor sie in ihre Straße einbog und auf Charlies Haus zufuhr.

Dort saß der alte Mann in seinem Lehnsessel und schlief, die Zeitung noch auf dem Schoß und seine Brille rutschte ihm schon halb von der großen Kartoffelnase. Seine grauen Haare waren leicht zerzaust und auf dem Tisch vor ihm stand eine halbleere Tasse Tee.

In den letzten Tagen schien er um drei Jahre gealtert. Die Sorgen mit dem Restaurant nahmen ihn ganz schön mit. Nur hatte er das zuvor vor ihr verborgen.
Naomi würde ihm so gerne helfen, aber sie konnte ihr Studium nicht einfach aufgeben. Damit hatte sie schon eine Menge zu tun und sie war auch froh sich tagsüber mit so belanglosen Dingen wie Liebe und Freundschaft beschäftigen zu können. Dann konnte sie Charlies Probleme für ein paar Stunden ausblenden.

Die alte Standuhr neben dem Sofa tickte langsam vor sich hin. Ansonsten war es ruhig im kleinen bescheidenen Häuschen. Hier war irgendwann die Zeit stehen geblieben. Früher hatte sich noch Naomis Mutter um den Haushalt und den Garten gekümmert, aber nach ihrem Tod war einiges liegen geblieben und der Garten wucherte hübsch vor sich hin. Naomi hatte kaum Zeit dafür und Charlie hatte nicht gerade den grünen Daumen, obwohl er wahnsinnig lecker kochen konnte und sich früher das Gemüse selbst heran gezüchtet hatte.

Naomi räumte etwas auf und nahm Charlie vorsichtig die Brille ab. Davon wurde er wach.
„Oje, ich habe dich gar nicht gehört, Liebes", meinte er schläfrig, richtete sich im Sessel auf und rieb sich die Augen.

„Schon gut, du hast in letzter Zeit nicht viel Schlaf bekommen. Für mich stehst du immer so früh auf und gehst Dank des Restaurants immer spät ins Bett. Wegen der HKS Group kannst du bestimmt auch nicht ruhig schlafen."

Naomi hatte ihren Vater genau durchschaut, auch wenn dieser es niemals zugeben würde.
„Ich wollte noch etwas Nachrichten schauen, bevor ich dir Essen mache. Ist das für dich in Ordnung?"
Er hob den Kopf und sein Blick fiel auf ihre immer noch pochende Stirn.
„Was ist dir denn passiert?", fragte Charlie besorgt.
„Keine Angst ich wurde nicht wieder auf der Straße angegriffen. Ich bin einfach gegen eine Eisentür gelaufen."

Naomi verbarg die Beule unter ihrer Hand.
„Du solltest es kühlen."
Naomi gehorchte ihrem Vater und holte sich aus der Küche einen Eisbeutel.
Anschließend setzte sie sich auf die Couch und folgte desinteressiert den Nachrichten.

Als die anschliessende Promisendung anfing blieb sie noch schläfrig sitzen, während Charlie aufstand, um das Abendessen vorzubereiten. Draußen dämmerte es schon.

„...der reiche Erbe Evan Kent kam heute aus Sidney zurück. Wir haben ihn natürlich mit unseren Reporten am Flughafen begrüßt und durften sogar ein paar hübsche Fotos von seiner Verlobten Kelly schießen. Die Beiden gelten seit dem vorletzten Sommer als das Traumpaar schlechthin und wir warten immer noch sehnsüchtig auf den Hochzeitstermin."

Naomi hob den Kopf. Eigentlich interessierte Evan Kent sie nicht, aber er war nun mal der reichste junge Mann überhaupt. Noch dazu galt er als unheimlich attraktiv und charmant. Naja, wenn man unter Geschmacksverirrung litt.
Seine dunklen Haare waren streng zurück gekämmt und sein anthrazitfarbener Anzug saß maßgeschneidert an seinem schlanken Körper.

Er war nur gut zurecht gemacht für die Kameras. Also wenn Naomi nach einem stundenlangen Flug aus dem Flieger stieg, sah sie nicht so gestylt aus.
Allerdings galt das nicht für seine hübsche Verlobte. Kelly war absolut natürlich. Nicht zu viel geschminkt und ihr gelbes Kleid flatterte leicht im Wind. Genauso ihre schwarzen langen Haare. Sie glänzten so sehr, dass sie damit Shampoowerbung machen konnte.

Ihr Gesicht war ebenmäßig, nicht so plump und einfach wie Naomis. Wenn sie ihre Periode hatte musste sie bestimmt nicht mit derben Unterleibschmerzen und Pickel kämpfen.
Naomi beneidete sie ein wenig.
Sie fand sich selbst zwar nicht hässlich, aber zu gewöhnlich. Da war einerseits ihre blasse Haut, die kleinen Augen ihrer Mutter mit den hellbraunen Pupillen und zum anderen die komisch gewellten schulterlangen Haare, die eher einem Wischmop glichen.

Ihren Körper fand Naomi eigentlich ganz okay. Nur neben Kelly durfte sie sich nicht stellen. Naomi war recht klein und dünn. Also nicht gerade das Aussehen einer Prinzessin.
Doch Kelly hakte sich liebevoll bei Evan ein und strahlte übers ganze Gesicht. Die Zwei passten wirklich gut zusammen.

Der Bericht drehte sich noch eine ganze Weile um das junge Paar. Die Kameras zeigten sie aus jedem Winkel. Hauptsache sie zeigten etwas, aber wirklich tolle Nachrichten waren das nicht. Trotzdem schaute Naomi hin. Vielleicht gehörte sie eines Tages zu den Menschen die sich hinter so eine Kamera stellten und Sternchen ablichteten.
Zumindest war das ihr Plan.
Mehr ihr Traum für die Zukunft.



~



In einem ganz anderen Teil der Stadt, mitten im alten Industriegebiet vor dem Hafen schaute noch jemand den gleichen Kanal.

Maurice saß auf dem bequemen Lederstuhl an seinem Schreibtisch und beäugte das verlobte Paar eher kritisch.
Hätten sie nicht einfach für immer im Ausland bleiben können? Er wusste genau, dass das Probleme geben würde.

Sofort schaltete er das Programm auf dem Computer um. Ein Fenster ploppte auf, welches den Stadtplan zeigte. Ein roter Punkt blinkte in regelmäßigen Abständen auf.
Maurice schien beruhigt zu sein, dass sein Schützling sich in der vergangenen Stunde nicht bewegt hatte. Er war recht früh heim gekehrt und hatte sich seit dem nicht mehr aus dem Haus bewegt.

Es war nicht Maurices Natur hinter dem Jungen her zu spionieren. Doch diese Neuigkeiten waren beunruhigend.
Es konnte gar nicht sein, dass das an dem Jungen vorbei ging.

Was wenn er den Peilsender zurückgelassen und sich auf die Straße begeben hatte? So schnell machte sich Maurice eigentlich nicht Sorgen. Doch der Junge war nicht zurechnungsfähig, wenn er schlechte Laune hatte und dann kam es vor, dass er Fehler machte. Dabei sollte er sich so wenig wie möglich draußen aufhalten. Erst recht bei Nacht.

An die HKS Universität zu gehen, war schon riskant genug. Andererseits war es wichtig ein normales Bild von ihm zu zeigen und keinen Verdacht auf sich zu lenken.

Doch was machte der Junge, wenn Kelly und Evan nun wieder in der Stadt waren? Würde er einen Rückfall bekommen? Das waren Maurice schlimmste Befürchtungen. Er hatte immer weniger Einfluss auf ihn, würde es aber nicht ertragen, wenn er wieder abrutschen würde.

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