43. 𝑁𝑖𝑒𝑚𝑎𝑙𝑠 𝑆𝑐ℎ𝑤𝑎̈𝑐ℎ𝑒 𝑧𝑒𝑖𝑔𝑒𝑛
Einige Zeit später...
Schon seit Tagen bekam Naomi kein Auge zu. Nachts lag sie unruhig im Bett und konnte nicht verhindern, dass ihre Gedanken stets zu Alec wanderten. Wo war er nur? Ging es ihm gut? War er traurig? Sie wollte all das sofort wissen.
Tagsüber war sie hibbelig, bekam kaum etwas nahrhaftes in den Magen und wusste nichts mit ihrer ganzen neuen Freizeit anzufangen.
Charlie saß meist im Wohnzimmer und führte sich das geschmacklose und uninteressante Fernsehprogramm zu Gemüte und schlief meistens darüber ein.
Hin und wieder steckte einer der Polizisten den Kopf zur Tür herein und versicherte sich, dass sie noch lebte und Charlie nicht dabei war die Küche abzufackeln. Er stand irgendwie mit dem Herd auf Kriegsfuß.
Naomi kümmerte sich nicht weiter um ihre Bewacher. Meistens blieb die Frau bei ihr und ihr Partner bei Charlie. Doch manchmal patroullierten sie auch den kleinen eingezäunten Garten.
Sie waren wenigstens beschäftigt. Naomi wusste nichts mit sich anzufangen. Sie hatte kein Telefon, kein Internet, nicht mal ein gutes Buch - wobei sie sich eh nicht darauf hätte konzentrieren können.
Also machte sie irgendwann Pfannkuchen. Sie machte viele Pfannkuchen und schon bald hatten sie die ganze Küche damit vollgestellt. Das Schlimme daran war, dass sie das innerhalb von zwei Tagen schaffte. Danach ging ihr das Mehl aus und sie war gezwungen sich neben Charlie auf die gut gepolsterte Couch zu setzen.
Schnaubend verschränkte sie die Arme und starrte auf den Bildschirm.
„Du solltest dich entspannten, Kind."
„Wie soll ich mich denn entspannen, wenn mein ganzer Körper Achterbahn fährt?", sagte sie und zupfte an ihrem mit weißem Puder besprenkelten T-Shirt.
„Wenn ihm irgendwas passiert wäre, dann wüssten wir das. Schließlich ist sein Gesicht in allen Medien und die ganze Welt verfolgt ihn."
Gerade der letzte Satz war wenig beruhigend für Naomi. Zwar hatte Charlie recht, aber die Sorge blieb bestehen.
Desinteressiert blickte sie auf die dicke Blondine im Fernsehen, die gerade in einer Fernsehshow saß und erzählte, sie wollte sich nicht verändern. Die Menschen um sie herum sollten sie so nehmen, wie sie sei und nicht von ihr erwarten nach anderer Leute Pfeife zu tanzen. Grundsätzlich war an dieser Einstellung nichts auszusetzen, doch als Naomis mürrischer Blick an ihrem Doppelkinn hängen blieb, grunzte sie höhnisch.
„Die sollte mal in den Spiegel schauen. Als ob sie so einen Mann abbekommt."
„Na du hast gut reden. Wenn du nicht die fantastischen Gene deiner Mutter geerbt hättest und essen könntest, was du wolltest, dann sähest du auch schon so aus." Charlie schielte leicht zu ihr herüber und fügte noch hinzu: „Bei allem was du isst."
Sie rollte nur mit den Augen.
Dann schweifte ihr Blick durchs Haus und dann durchs Fenster.
„Wieso ist es so ruhig?"
Naomi lehnte sich vor und hielt nach den beiden Polizisten Ausschau.
„Hast du die Zwei gesehen?", fragte sie Charlie und stand schon auf den Beinen.
Auch ihr Vater schüttelte verwundert den Kopf. Auf einmal war ihm der Bildschirm egal. Sein Blick hing an Naomi, während sie langsam durchs Haus schlich und nach den Beschützern suchte. Beide bekamen ein beklemmendes Gefühl, nur traute sich keiner von ihnen das auszusprechen.
Naomi öffnete die Haustür und lugte hinaus.
„Das solltest du vielleicht nicht tun", warnte Charlie argwöhnisch. Er fühlte sich wie in einem Hollywood Film. Wenn es in Filmen ruhig wurde und Leute verschwanden, bedeutete das meistens nichts Gutes. Deshalb schaltete er den Fernseher aus, um besser auf Geräusche achten zu können.
Naomi trat zwei Schritte vor, auf die Veranda und sah sich um.
„Hallo?"
Keine Reaktion.
„Heeeyyy, Polizisten wo seid ihr?", rief sie nicht ganz ernst in den Vorgarten hinaus.
Als sie daraufhin wieder keine Antwort bekam, lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Sie wurde unsicher und mit einem Mal war das Gefühl der Beklemmung und Angst zurück.
Naomi hatte sich ja von Anfang an an diesem Ort nicht sicher gefühlt. Doch jetzt wurde sie unruhig.
„Naomi, du solltest nicht..."
Charlie kam nicht dazu mehr zu sagen und Naomi hörte auch nichts mehr, denn plötzlich legte sich eine schwitzigen Hand auf ihren Mund, zog sie nach hinten und um die Hauswand herum. Kräftige Hände hielten sie davon ab sich zu wehren.
Automatisch schrie sie erstickt auf und konnte nichts dagegen tun, als die fremde Person sie mit sich zerrte.
„Naomi?"
Charlie kam ebenfalls aus dem Haus und suchte sie. Er blickte sich panisch um und sah gerade noch, wie sie weiter weg geschleppt wurde.
Ihre Augen rissen sich ängstlich auf, als sie ihren Vater sah. Sie rief um Hilfe und Charlie rannte auf sie und den Fremden zu.
Doch da stürzte eine weitere Gestalt aus einem Versteck im Garten und krallte sich Charlie. Aus dem Augenwinkel sah Naomi die leblosen Körper der beiden Polizisten im Gras liegen.
Charlie hatte es nicht kommen sehen und erstarrte vor Schreck. Doch er war größer und auch etwas stärker als seine zierliche Tochter, drum kämpfte er gegen seinen Feind, einen großen dunkelhaarigen Mann in Lederjacke und dunkler Jeans. Er schaute grimmig und verzog angestrengt sein kantiges Gesicht.
Naomi wusste sofort wer dafür verantwortlich war.
Sie trampelte, zerrte und tat alles, um es ihrem Entführer schwer zu machen. Doch was kann eine halbe Person, ohne jegliches Kampftraining, gegen einen viel stärkeren Mistkerl ausrichten?
Gerade als er wütend und genervt seinen Griff festigte, zerrte jemand an seinem Arm. Innerhalb von Sekunden war das Mädchen befreit und suchte sofort Abstand. Sie drehte sich um und erkannte eine vermummte ganz in schwarz gehüllte Person. Diese Kleidung war ihr nur allzu bekannt. Erleichterung erfüllte sie und ihr Herz schlug zwar noch panisch, aber glücklich auf.
Night Runner drehte den Mann um, schlug ihn mit einigen kräftigen Schlägen k.o. und eilte dann Charlie zur Hilfe. Dort machte er dasselbe, nur hatte der zweite Gegner sich schon darauf eingestellt und so musste Alec zweimal mehr zuschlagen.
Als der Mann ebenfalls zu Boden ging, schnappte Charlie erleichtert nach Luft und nickte dankbar zu seinem Retter. Dieser zog sich die Kapuze vom Kopf und schob beide schnell wieder ins Haus.
„Los, es ist nicht länger sicher hier. Bald kommen mehr von denen, also packt das Nötigste und dann verschwinden wir."
Charlie war nur allzu einverstanden.
„Woher wusstest du...?"
Er brauchte die Frage nicht zu beenden.
„Er ist Night Runner", erklärte Naomi stolz und überglücklich ihn zu sehen.
Alec konnte ihr nicht widersprechen und zwang sich zu einem entschuldigenden Grinsen. Es wurde breiter, als Naomi ihre Arme um ihn legte und sich seufzend an ihn schmiegte.
Alec drückte sie nur kurz an sich. Dann half er ihre Tasche so schnell wie möglich zu packen und brachte sie und Charlie aus dem Haus.
Sein grauer Nissan wartete bereits vor dem Garten auf sie. Die Taschen flogen in den Kofferraum und Naomi quetschte sich auf den Rücksitz, während Charlie sich auf den Beifahrersitz zwängte. Dieses Gefährt war nicht für einen ungelenkigen älteren Mann gemacht.
Charlie hielt sich mit allem fest, was er hatte und blickte nervös zu Alec hinüber, der gekonnt und ziemlich rasant über die Straßen bretterte. Naomi konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, doch als ihr Blick auf Alecs zitternde Hand am Schalthebel fiel, wurde sie blass. Wieso zitterte er?
Alec bemerkte es im selben Moment, kniff die Finger ein paar mal zusammen, bis das Zittern aufhörte und legte dann die Hand ans Lenkrad.
Sein Blick traf den von Naomi im Rückspiegel. Doch während der Fahrt sagte sie nichts dazu.
Sie fuhren eine Weile stadtauswärts, bis es dunkel wurde. Letztendlich hielt der Wagen vor einer Reihe alter Mehrfamilienhäuser. Sie waren schmutzig und ungepflegt. Keine Blumen im Vorgarten und absoluter Leerstand in den Häusern selbst. Kaum war der röhrende Motor aus, atmete Charlie tief durch und verließ fast schon fluchtartig das Gefährt.
Alec führte sie in das nächstgelegenste graue Haus, hinauf ins fünfte Stockwerk, wo Charlie dann schnaufend auf dem Absatz ankam. Ihm fehlte dringend etwas Bewegung.
„Es ist nicht das Ritz, aber es ist vorerst sicher. Ich habe vorne und hinterm Haus Kameras installiert, natürlich ohne die Nachbarn zu fragen und jetzt keine Standpauke bitte."
Naomi wollte schon Luft holen, grinste aber.
Alec schloss die aller letzte Wohnungstür unterm Dach auf und hieß die beiden willkommen.
„Ihr könnt die zwei Schlafzimmer haben, ich schlafe lieber auf der Couch", erklärte er mit einem Blick auf die zusammengeknüllte Decke auf dem olivgrünen Sofa.
Des Weiteren hatte der Junge in der letzten Zeit keinen Sinn für Ordnung gehabt. Leere Coladosen verteilten sich auf den Tischen, manche auch darunter. Er hatte sich laut Mülleimer neben dem Schreibtisch öfter essen bestellt. Was sollte er auch sonst tun, wenn er nicht in den Supermarkt gehen konnte, weil dort überall sein Gesicht an den Scheiben hing.
Naomi fand, abgesehen von leeren Pizzakartons, auch noch geöffnete Tablettenverpackungen auf dem Schreibtisch. Sie hob die Schachtel hoch und erkannte ein starkes Schmerzmittel, das Alec ganz bestimmt nicht verschrieben bekommen hatte. Naja, immerhin waren es keine Schlaftabletten. Allein der Gedanke an das Bild von Alec, halb tot in seinem Bett liegend, brachte ihr so starke Herzschmerzen, dass ihr schwindelig wurde.
Charlie ließ sich erstmal auf der Couch nieder und stöhnte.
„Habt ihr Hunger? Ich habe noch was...", Alec führte den Satz nicht zu Ende. Er wusste, dass Einkaufen schlecht war und er nicht viel gesundes Essen im Haus hatte. Es schien ihm unangenehm zu sein, denn er drehte sich verlegen weg und begann schnell etwas aufzuräumen.
Merkwürdige Stille herrschte bei allen. Naomi hätte gerne das Eis zwischen Alec und ihrem Vater gebrochen, aber das konnte zu einer Herausforderung werden.
Nachdem Alec halbwegs das Chaos beseitigt hatte, kam Naomi zu ihm und umarmte ihn von hinten. Sie faltete ihre Hände vor seinem Bauch, ganz demonstrativ vor ihrem Vater. Dieser spielte den Unbeeindruckten.
„Wie geht's dir?", fragte sie leise. Eigentlich kannte sie die Antwort schon.
„Alles okay."
Natürlich glaubte sie ihm nicht und schnaubte verächtlich.
„Von wegen. Ich habe die Nachrichten gesehen, Alec. Sag, ist das mit Maurice...ich meine...ist er wirklich...?"
Sie versuchte krampfhaft nicht gleich loszuheulen.
Alecs Schweigen sprach Bände. Sie spürte wie er sich verkrampfte.
„Ich habe keine Ahnung, ob es eine Finte ist, oder ob er wirklich...", er brach kurz ab. Für Alec musste das eine furchtbare Vorstellung sein, zu glauben dass Maurice tot war.
„Ich habe jedenfalls seitdem nichts mehr von ihm gehört."
Es klang bei ihm so, als wäre Maurice nur irgendwo verloren gegangen. Doch Alec verbarg nur seine Gefühle vor ihr. Genauso wie er ihr auswich, als Naomi ihn auf seine zitternde Hand ansprach.
Sie hatte es ganz deutlich gesehen. Doch Alec meinte nur abtuend, dass er etwas gestresst sei und dass das Zittern bald wieder aufhören würde.
Damit gab sich das Mädchen allerdings nicht zufrieden. Seit wann konnte Naomi ihn eigentlich direkt in die Seele schauen?
Oder war er einfach ein so schlechter Schauspieler?
„Jetzt sieh mich nicht so an, Naomi", meinte er auf einmal schimpfend und löste sich von ihr.
„Ich will gar nicht darüber nachdenken, ansonsten fürchte ich durchzudrehen. Du weißt, was er mir bedeutet hat. Ich will immer noch glauben, dass er irgendwann durch die Tür herein spaziert und mich wieder mit seinem Stock tadelt."
Alec war aufgebracht. Er hasste es seine Gefühle zu zeigen. Er wollte Maurice nicht für tot erklären. Die Hoffnung in ihm war noch so lebendig. Trotzdem gab es kaum einen Lichtblick um ihn herum. So eine Explosion konnte man nicht einfach so überleben.
„Bitte mach dir keine Sorgen. Ich werde schon keine Pillen schlucken, Naomi. Ich bin hier und ich kämpfe mit allem was ich habe, um dich und Charlie zu beschützen. Ihr seid alles, was mir bleibt. Also gebe ich nicht auf. Doch macht es mir Higa immer schwerer."
Er stöhnte laut und hielt sich die Hände an den Kopf. Schon wieder dieser stechende Schmerz.
„Du bist nicht gesund", stellte Naomi nüchtern fest.
Alec schüttelte leicht verzweifelt den Kopf. Er wusste, es war nicht möglich sie anzulügen. Er wollte es auch nicht.
„Irgendwas ist schief gelaufen. Ich habe motorische Schwierigkeiten und Koordinationsprobleme. Mein Kopf fühlt sich an, als wollte er gleich explodieren. Ich bin überhaupt nicht fit und trotzdem tue ich alles, um dich zu beschützen, weil ich dich nicht auch noch verlieren will. Also spar dir diesen wehleidigen Blick."
Mit dieser Ansprache ließ Alec sie stehen und verschwand. Naomi wusste wohin er gehen würde: Vermutlich aufs Dach oder irgendwohin, wo es keine Türen gab.
Sie hörte Charlie hinter sich seufzen.
„Also...ganz unkompliziert ist dieser Junge wohl nicht. Obwohl ich verstehen kann, dass ihn deine Aufdringlichkeit nervt."
Naomi drehte sich empört um, doch bevor sie etwas sagen konnte, sprach ihr Vater weiter:
„Du klammerst, Kind. Männer mögen das nicht. Sie wollen stark sein, erst recht, wenn sie so gepolt sind wie er."
„Du scheinst ihn ja gut zu kennen", knirschte sie verbittert.
Charlie schüttelte verneinend den Kopf.
„Ich kenne ihn nicht, aber er ist ein Dieb, Naomi."
„Was hat das damit zu tun?"
Charlie seufzte und lehnte sich zurück.
„Er ist nicht der Typ Mensch, der schnell aufgibt oder leicht Schwäche zeigt. Ansonsten hätte er all die Jahre nicht so gelebt. Er ist es gewohnt ein Einzelgänger zu sein. Deine intensive Fürsorge ist neu für ihn."
Naomi dachte darüber nach und musste nachgeben. Ihr Vater hatte recht, doch war es nur ihren Gefühlen geschuldet, dass sie ihre Sorge um Alec so offen zeigte. Sie wollte ihn nicht verlieren. Wann hatte sie sich denn so sehr in ihn verliebt? Wann war das alles nur geschehen?
~
Es waren die Kopfschmerzen und die Angst vor dem Versagen, was an Alec nagte. Er wollte nicht so genervt reagieren, vor allem nicht Naomi gegenüber. Er hatte sie vermisst und dann war er so blöd zu ihr. Er konnte sich selbst ohrfeigen dafür. Nur konnte er diesen besorgten Blick in ihren Augen nicht ausstehen. Dabei hatte sie womöglich allen Grund dazu.
Es war nicht lange nach seiner Flucht, da hatte er sich selbst wieder ins Krankenhaus geschmuggelt. Er war heimlich in das Arztzimmer des Neurologen geschlichen, der ihn behandelt hatte. Dort hatte er die Unterlagen seiner Operation gesucht. Das hatte ihn eine Weile aufgehalten, bis der Arzt selbst zur Tür herein gestapft war und ziemlich dumm geguckt hatte.
„Was tun Sie da?", war seine erste Reaktion gewesen.
Dass der maskierte Nachtdieb Night Runner vor ihm stand, den er selbst vor ein paar Tagen behandelt hatte, schien ihm nicht komisch.
Alec reagierte schnell, er stürmte zur Tür und machte sie hinter dem Arzt zu, sodass dieser nicht schreien oder weglaufen konnte. Dann drückte er ihn warnend an die Wand und sprach eindringlich:
„Ich tu Ihnen nichts. Vielleicht erinnern Sie sich an mich."
Er zog die Maske hinunter und wartete. Natürlich erkannte ihn der Arzt. Er wusste genau wer vor ihm stand.
„Warum sind Sie zurück gekommen? Die halbe Stadt ist Ihnen auf den Fersen."
Alec ließ ihn langsam los und trat einen Schritt zurück.
„Mir wäre es auch lieber nicht hier zu sein. Doch irgendwas stimmt nicht mit meinem Kopf. Ich will, dass Sie mich untersuchen."
Nachdem der Arzt seinen Kragen zurecht gerückt hatte, ging er langsam zu seinem Schreibtisch und setzte sich vor den Computer.
Alec wandte sich ihm zu und setzte sich auf einen der Sessel für Patienten.
„Was ist das Problem?"
„Ich habe ziemliche Kopfschmerzen und leichte motorische Störungen. Besonders im rechten Arm."
Alec schilderte ihm die genaueren Symptome seines Armes. Er berichtete von dem Zittern und dass er keine Kraft aufwenden konnte.
„Hmmm...", brummte der Arzt nachdenklich und tippte auf die Tastatur ein. Nur manchmal blickte er nervös zu Alec, nur um seinem Blick gleich wieder auszuweichen.
„Was noch?"
„Ich kann mich nicht konzentrieren und ich habe einen völlig verkorksten Geschmacksinn. Das ist bis jetzt alles. Bitte sagen Sie mir, ob das normal ist, oder ob es nach wie vor Probleme in meinem Kopf gibt."
„Nun, es gab Komplikationen. Dank Ihrer Unverträglichkeit gegenüber Anästhetika, mussten wir die Operation so schnell wie möglich beenden. Es kann zu Fehlern geführt haben. Am besten wäre es das genauer zu untersuchen."
Alec nickte leicht verunsichert, hielt den Mann aber auf, als er nach dem Telefon greifen wollte.
„Ich rufe nicht die Polizei. Ich will die Kollegen anfordern einen MRT vorzubereiten."
„Von mir aus rufen Sie doch die Bullen, nur untersuchen Sie mich erst."
Damit war der Arzt sogar einverstanden.
Kurze Zeit später fand sich Alec im Untersuchungszimmer wieder und lag in der grell beleuchteten, engen Röhre.
Er hatte zwar keine Platzangst, fühlte sich aber nach wie vor auf engem Raum unwohl.
Er hielt es tapfer durch, bis der Arzt wieder zu ihm kam.
„Sagen Sie mir, dass ich keinen Dachschaden habe, Doc."
Das Gesicht des Mannes sprach leider vom Gegenteil.
„Also ich konnte ein weiteres Hämatom am Großhirn ausmachen. Es ist noch sehr klein, was mich zu der Annahme führt, dass wir es bei der OP übersehen haben. Das allein wäre nicht so schlimm, wenn es nicht wieder auf den Parietallappen drücken würde. Das verursacht diese Symptome. Mein Vorschlag, nein, besser gesagt mein Rat ist es, dass Sie sich nochmals operieren lassen. Nur..."
„...nur ist das Risiko bei einer weiteren Operation viel größer und die Wahrscheinlichkeit, dass ich bei einem Schock sterbe viel zu hoch", laß Alec die Gedanken des Arztes.
„Es ist nicht nur eine hohe Wahrscheinlichkeit, sondern definitiv. Sie vertragen die Anästhetika nicht und ohne Betäubung kann ich so eine OP nicht durchführen."
Alec schnaubte. Das waren definitiv keine guten Neuigkeiten.
„Und wenn wir nicht operieren?"
„Es gibt zwei Möglichkeiten. Erstens: das Hämatom geht zurück und damit auch die Symptome. Zweitens: das Hämatom wächst und macht alles noch schlimmer. Dann sterben Sie an schweren Hirnblutungen."
Alec sagte nichts darauf. Eine OP konnte er momentan unmöglich in Betracht ziehen. Da die Chancen eh so schlecht standen, würde er wohl gar nicht erst darüber nachdenken.
Er stand einfach wortlos auf und ging zum Fenster.
„Sie haben nicht die Polizei gerufen...", stellte Alec fest.
„Schon gut. Ich habe keinen Anlass. Doch an Ihrer Stelle würde ich mich stellen. Nur dann kann man Sie richtig behandeln."
„Wenn ich Sie gerade richtig verstanden habe, kann man mich sowieso nicht behandeln, Doktor."
Alec zog die Maske wieder über die Nase und hüpfte etwas weniger elegant aus dem offenen Fenster. Angestrengt kletterte er an der Regenrinne herunter, sprang die letzten Meter ab und landete sicher auf seinen Füßen. Dann eilte er im Schutz der hohen Mauern zu seinem versteckt geparkten Nissan und verschwand im Nichts.
Niemand folgte ihm, niemand sagte etwas über seinen heimlichen Besuch im Krankenhaus. Alec bereute seinen Ausflug nicht. Allerdings warf er einen leichten Schatten über sein Vorhaben. Er musste die HKS Group bestehlen. Doch wie stellte er das an, wenn sein Arm mal wieder beschloss nicht zu funktionieren?
Dennoch würde er es durchziehen. Allein für Naomi. Wenigstens sie musste ein sorgenfreies Leben haben. Er würde sowieso im Knast landen. Also tat er es nicht für sich selbst. Er tat es für sie und Charlie. Doch konnte er ihr unmöglich alles sagen. Sie war jetzt schon so besorgt. Was wenn sie von dem Deal mit dem Inspektor erfuhr oder wenn sie erfuhr, dass Alec noch nicht gesund war? Sie würde durchdrehen.
Also musste Alec so tun als wäre nichts. Er musste seine Schmerzen vor ihr verbergen so lange es ging.
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