4. 𝐸𝑖𝑛 𝐷𝑖𝑒𝑏 𝑤𝑖𝑟𝑑 𝑧𝑢𝑚 𝐻𝑒𝑙𝑑
Naomi schlotterten immer noch die Knie als sie ins Bad ging. Charlie hatte seine panische Angst auf sie übertragen und sich heftige Vorwürfe gemacht. Seiner Meinung nach steckte die HKS Group hinter dem Überfall und er war unheimlich erleichtert, dass der Dieb ihr zur Hilfe gekommen war.
Ganz unwahrscheinlich war es nicht, dass die HKS Group dahinter steckte, aber würden sie wirklich so weit gehen? Erst die komischen Briefe und dann ein Angriff auf offener Straße? Naomi war zu gutgläubig, um den Menschen so viel Bosheit zuzutrauen. Andererseits hatte sie zu viel Verstand, um nicht an Zufälle zu glauben.
Erst nach einem langen Bad, ging es ihr etwas besser. Zum Glück war ihr nichts passiert. Sie wollte sich so gerne bei dem Dieb bedanken, der einfach so zu ihrem Held geworden war.
Naomi legte sich erschöpft aufs Bett und schloss die Augen. Sofort kamen ihr die Bilder von diesen unheimlichen Typen in den Kopf. Doch auch die Bilder des schwarz gekleideten Retters. War das wirklich Night Runner gewesen? Hatte sie wirklich so ein Glück ihn zu treffen?
Sie stellte sich seine dunkle Gestalt vor und versuchte sich auszumalen wie er wohl unter der Kapuze aussehen würde. War er so jung wie sie dachte? Oder war er doch älter? Wo lebte er? Was hatte ihn dazu gebracht ein Dieb zu werden?
Naomi hatte so viele Fragen. Zwar hatte sie die auch vorher schon gehabt, aber seid sie ihm begegnet war, war der Wunsch nach den Antworten noch größer geworden.
Genauso erging es Diana und Hannes, als Naomi ihnen am nächsten Tag aufgeregt von dem Überfall erzählte.
„Meine Güte, bist du sicher dass dir nichts fehlt, Nao? Du hättest vielleicht lieber zuhause bleiben sollen", meinte Diana besorgt und legte ihre warme Hand auf Naomis Schulter. Diese schüttelte den Kopf, um sich und ihre Freunde zu beruhigen.
„Schon gut, mir ist ja nichts passiert. Ich hatte unerwartet Hilfe."
„Ach ja?", fragte Hannes genauer.
Naomi lehnte sich über den Tisch zu dem ihrer Freundin hinüber und blickte abwechselnd zwischen Hannes, der am Fenster lehnte, und Diana hin und her.
„Night Runner."
Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Die Reaktion kam mit Verzögerung, dann fielen beide aus allen Wolken.
„Waaaaasss?", brüllten sie gleichzeitig.
„Schhhhht!", zischte Naomi verstohlen und sah sich im Kurszimmer um. Der Professor lies wieder einmal auf sich warten, weshalb sich jeder mit sich selbst beschäftigte.
„Willst du uns auf den Arm nehmen, Nao?"
Es war zu erwarten, dass selbst ihre Freunde es zuerst nicht glaubten. Es war einfach zu abwegig, um wahr zu sein. Deshalb erschien es selbst Naomi wie ein Traum.
Als sie anfing zu erzählen, achtete sie nicht mehr darauf leise zu sein und bald hatte sie die Aufmerksamkeit des gesamten Raumes.
„Er hat sich einfach so an der Laterne festgehalten, ist in die Luft gesprungen und hat dem Kerl mit voller Wucht in den Bauch getreten. Der hat bestimmt heute Bauchschmerzen", erzählte sie aufgeregt.
Natürlich waren alle begeistert von ihrer Geschichte und nur wenige zweifelten sie an. Jeder Reporter würde gerne mit Naomi tauschen. Zu schade, dass sie keine Beweise dafür hatte. Allerdings war sie so schockiert gewesen, dass es ihr beim besten Willen nicht eingefallen wäre das Ganze aufzunehmen.
Simon stand neben ihrem Tisch und dieses Mal war er derjenige, der fleißig mitschrieb. Er wollte jedes Detail wissen und fragte schon zum fünften Mal nach dem Aussehen des Nachtdiebes.
Während Naomi sich im Rampenlicht badete, grinste jemand ganz still und heimlich in sich hinein.
~
Später am Tag, in der Dunkelheit der Nacht...
Seine flachen Schuhe bewegten sich lautlos über den Asphalt. Er achtete darauf, nicht in Pfützen oder auf laute Gegenstände zu treten. Er musste unsichtbar bleiben und durfte absolut kein Geräusch machen.
„Drei Kilometer", flüsterte die raue Stimme von Maurice in seinem Ohr.
„Das Ziel ist markiert."
„Verstanden."
Mehr antwortete er nicht und schwang sich in die Luft. Allein mit den Ellenbogen hielt er sein Gewicht an einer schmalen Fensterbank fest und setzte die Beine an die Mauer gegenüber. Er drückte sich hoch und überwand so die Mauer. Dahinter lag ein verwilderter Garten. Ungewöhnlich für so eine reiche Nachbarschaft.
Er hatte keine Zeit für Seightseeing. Sofort lief er weiter, ließ das Haus hinter sich und sprang an der anderen Seite des Gartens über die Mauer. Man nannte ihn nicht umsonst "Night Runner". Der Name gefiel ihm eigentlich nicht, doch sollten die Leute ihn nennen wie sie wollten. Er machte bloß seinen Job. Allerdings wurde sein Name von „Street Runner" abgeleitet. Es gab nur sehr wenige Menschen auf der Welt, die ihre Umgebung nutzten, als hätten sie Flügel. Diese Art von Menschen, für welche die Welt ein einziger Parcours war.
Er war so jemand. Für ihn war keine Mauer zu hoch, kein Sprung zu weit und kein Abgrund zu tief.
Er lief an den Hauswänden hinauf auf die Dächer und rannte vorbei an den vielen unterschiedlichen Schornsteinen, sprang von einem Dach zum nächsten und war der Abstand doch mal zu breit, suchte er sich einen anderen Weg.
Sein einziges Gepäck war ein schwarzer Rucksack, den er nie aus den Augen ließ. Man hätte meinen können, er war dazu da um Diebesgut zu transportieren, doch in Wahrheit befanden sich all seine Hilfsmittel darin. Ein Seil mit entsprechenden Vorrichtungen und einer Seilwinde, ein Fernglas, ein Elektroschocker, der so selten wie möglich zum Einsatz kam, und einige andere nützliche Dinge.
Er zog es vor, den Menschen bei Nacht aus dem Weg zu gehen. So musste er niemanden verletzen. Der Schocker war lediglich für Notfälle gedacht.
Warum hatte er ihn nur gestern nicht eingesetzt? Maurice hatte ihm diese Frage sofort beantwortet: „Weil es dir Genugtuung verschafft hatte diese gemeinen Kerle zu verdreschen."
Vermutlich hatte er recht. Es machte ihn krank bei sowas zuzusehen. Naomi hatte es absolut nicht verdient so behandelt zu werden. Er hatte es kommen sehen und war ihr heimlich gefolgt.
Während er sich daran erinnerte, sprang er über den nächsten Abgrund. Er sprang eine Sekunde zu spät ab und kam nur knapp an der anderen Dachkante an. Mit den Armen fing er sich auf und hob sich stöhnend auf das flache Dach eines Mehrfamilienhauses.
„Wo bist du mit deinen Gedanken?", schimpfte Maurice über den Stecker in seinem Ohr. Es war so laut, dass er gequält das Gesicht verzog.
„Sorry, aber es lässt mir einfach keine Ruhe. Naomi ist nicht der Mensch, der sich viele Feinde macht. Also wieso dieser Überfall? Das waren keine einfachen Gangster. Die wurden angeheuert und ich kann mir denken von wem."
Nun wurde Maurice noch ausfallender. Die Umgebung flatterte und bald schoben sich verpixelte Würfel an seinem Auge vorbei. Sie verschwanden alle an einem Punkt und auf einmal stand er nicht mehr auf einem Dach, sondern in seiner weitläufigen Trainingshalle, die er mithilfe der Podeste und allerhand anderen Kram umgebaut hatte. Er wollte sich den besten Weg zur Villa heraussuchen und seinen Fluchtweg planen.
Doch heute war er gar nicht gut drauf. Wenn er so seinen Job machte, konnte er bald in Rente gehen und das mit fast achtundzwanzig Jahren.
„Hätte man dich verfolgt, wärst du jetzt tot", warf Maurice ihm vor und er hatte ja recht. „Falls du den Sturz überhaupt überlebt hättest, Junge."
Es nützte nichts, die Umgebung und den Einbruch nachzustellen, wenn er nicht bei der Sache war.
„Seit wann machst du dir so große Sorgen um andere? Kümmere dich um deine eigene Haut."
Er kam zu dem älteren Mann, der nun in der Halle stand und auf einer kleinen Fernbedienung herumdrückte. Night Runner nahm sich die Mütze ab und rieb sich über den Kopf. Dabei standen seine Haare zu allen Seiten, was sie sonst nicht taten. Dann reichte er Maurice die schwarze VR Brille, die er fürs Training benutzt hatte.
„Vergiss es einfach. Wir machen es später noch einmal."
„Wie du willst. Was wirst du bis dahin machen?"
„Mich davon überzeugen, dass meine Sorge unbegründet ist", antwortete er im Vorbeigehen und legte seine Lederhandschuhe vor Maurice auf den Tisch.
Dann verließ er die Halle und ging zügig durch das baufällige und karge Gebäude.
Heute würde er nicht mehr trainieren. Er musste jemandem einen Besuch abstatten.
~
Naomi würde bestimmt nicht wieder alleine so spät nach Hause gehen. Sie war von Grund auf nicht ängstlich, aber die letzte Nacht würde sie nicht so leicht verdauen. Sie war stets fröhlich und alle dachten es ginge ihr gut, doch auf ihrem Heimweg hatte sie sich ständig umgesehen, ob jemand sie verfolgte.
Hoffentlich kamen diese Leute nicht wieder. Ob sie wirklich etwas mit der HKS Group zu tun hatten? Wollten sie Naomi und ihren Vater einschüchtern? Sie wollten das Gebäude abreißen und sein schönes, altes Restaurant zerstören.
Dort herrschte wie immer Trubel. Naomi lenkte sich damit ab, die Gäste zu unterhalten und das Essen zu servieren. Wer weiß, wie lange sie das noch tun konnte. Jedenfalls ließ sie Charlie ihre Sorgen nicht anmerken. Er konnte das nun wirklich nicht auch noch gebrauchen, wenn sie deprimiert in der Ecke hängen würde. Zusätzlich wanderten ihre Gedanken stets zu dem maskierten Dieb.
Sollte sie in Zukunft immer eine Kamera bereit halten, um ihn zu fotografieren? Ach Quatsch. Sie würde ihn sehr wahrscheinlich eh nicht wiedersehen. Er ist nur zufällig in der Nähe gewesen. Warum sollte er sich noch einmal bei ihr zeigen?
Gegen Zehn gingen die letzten Gäste. Charlie räumte die Tische auf und verabschiedete David und Ricko.
„Bist du so weit? Dann lass uns nach Hause gehen?"
Normalerweise kümmerte sich Charlie noch um seine Buchhaltung, wenn es nicht zu spät dafür war. Offensichtlich wollte er Naomi nicht wieder alleine nach Hause schicken, was ihr nur sehr recht war.
„Ja, ich bringe nur noch eben den Müll raus."
Zwei schwere Säcke standen neben der Küche im Flur und warteten darauf, in einer der großen Tonnen auf dem Hinterhof zu verschwinden.
Voll bepackt schob sie die Hintertür mit ihrem Ellenbogen auf und kämpfte sich bis zu den großen Mülltonnen vor.
Kaum war der Müll verstaut, atmete Naomi tief durch und reckte die Arme. Wurde Zeit, dass sie nach Hause kam. Vielleicht konnte sie noch ein Stündchen lernen.
Es war echt ruhig um die Zeit. Kein Wunder, den meisten Leuten war es bereits zu kalt draußen. Die kalten Monate hatten angefangen und Naomi hauchte spielerisch in die Luft.
Die warme Wolke ihres Atems stieg hinauf und wurde nur von der einen Außenlampe über der Tür angestrahlt.
Die kleine Wolke stieg höher und höher und löste sich dann vor Naomis Augen auf.
Sie wollte gerade den Blick senken, da blieb ihr Auge am gegenüberliegenden Hausdach hängen. Sie war so oft hier hinten und kannte die Konturen dieser Umgebung genau. Deshalb fiel ihr gleich der seltsame Schatten auf.
Als dieser sich auch noch unerwartet bewegte, wich sie erschrocken zurück. Dann rückte die unförmige Gestalt näher ins Licht und Naomis Augen wurden groß.
Der dunkel gekleidete Typ sprang vom Dach hinunter in den Hof. Sie hätte sich bei dem Versuch allein die Knöchel gebrochen. Er schien allerdings aus Gummi zu sein.
Doch Naomi konnte nicht glauben, dass er dort nur wenige Meter entfernt vor ihr stand. Natürlich versteckte er sein Gesicht wieder unter einer Kappe und einem schwarzen Hoodie. Doch das helle Licht der Außenbeleuchtung zeigte Naomi, dass er dieses Mal keine Maske trug. Deshalb hielt er auch so steif den Kopf gesenkt. Naomi war sich trotzdem sicher, dass seine Augen auf ihr ruhten.
Schon wieder beschleunigte sich ihr Puls, doch dieses Mal nicht aus Furcht. Sie war aufgeregt, weil Night Runner zurückgekommen war. Nicht nur das, er zeigte sich ihr einfach so. Wenn er wirklich nicht von ihr hätte entdeckt werden wollen, dann hätte er sich besser versteckt.
Nur weshalb war er hier? Es konnte doch nicht sein, dass er nach ihr sehen wollte? Nein, bestimmt nicht. Auch wenn sie sich das wünschte. Es war einfach zu abwegig.
„Du...du bist hier..."
Insgeheim ohrfeigte sich Naomi für den Satz. Fiel ihr denn nichts besseres ein?
Nervös klammerten sich ihre kalten Finger an den Saum ihres Shirts.
„Du bist gestern so schnell verschwunden. Ich konnte mich gar nicht bedanken."
Er schüttelte unmerklich das Haupt. Hieß das sie sollte sich nicht bedanken?
Naomi trat einen Schritt näher an ihn heran. Die Neugier trieb sie zu ihm hin.
„Nao? Bist du in die Mülltonne gefallen?", rief Charlie von drinnen.
Sie wandte kurz den Blick zur Tür und antwortete knapp: „Ich komme."
Als sie wieder nach vorne schaute, war sie allein auf dem winzigen Innenhof.
Sie ließ die Augen umherwandern, doch ihr heimlicher Besucher war einfach so verschwunden. Lautlos und schnell, wie eine scheue Katze.
Etwas enttäuscht senkte sie den Kopf. Wieder konnte sie sich nicht bei ihm bedanken. Dabei hätte sie gerne noch länger mit ihm geredet. Wobei man das eben nicht wirklich eine Unterhaltung nennen konnte.
Sie ging zur Tür, warf einen letzten verstohlenen Blick aufs Dach und ging dann hinein.
Was auch immer er in der Nähe gemacht hatte...er war auch gekommen um nach ihr zu sehen. Das redete sich Naomi auf dem Heimweg ein und wurde bis zu Charlies Haus das Gefühl nicht los beobachtet zu werden. Doch wann immer sie sich umschaute, war niemand zu sehen. Selbst wenn Night Runner noch in der Nähe war, so würde er sich mit Sicherheit nicht wieder zeigen. Er verschmolz mit der Umgebung. Da konnte Naomi sich noch so oft umsehen.
Ihr Vater glaubte sicher schon sie hätte Angst vor einem erneuten Überfall.
Woher sollte er auch wissen, dass Naomi sich gerade absolut sicher fühlte - zumindest an diesem Abend.
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