32. 𝐴𝑙𝑒𝑐 𝑏𝑟𝑎𝑢𝑐ℎ𝑡 𝐻𝑖𝑙𝑓𝑒

Naomi betrat das schummrige Gebäude durch den unversiegelten Haupteingang. Sie landete in einer geräumigen Halle, wo allerhand Gerümpel herum stand. Kisten stapelten sich über Kisten. Das gesamte Erdgeschoss schien mit altem Krempel vollgestellt zu sein. Naomi hielt das komische Navigationsgerät hoch. Es zeigte ihr eine Menge roter Punkte, wie bei einem Mienenfeld.

Sie straffte die Schultern und trat vorsichtig voran. Dabei behielt sie ihre Umgebung wachsam im Auge. Wer weiß was für Fallen Alec eingebaut hatte, um sich zu schützen. Jedenfalls umkreiste Naomi so gut es ging die rot markierten Stellen auf der Karte. Es war echt nicht einfach sich zwischen den Türmen aus was auch immer zurecht zu finden. Ein paar Mal lief sie in die falsche Richtung, bevor sie endlich die Treppe fand.

Sie folgte den Stufen bis zum zweiten Absatz. Dort war ein dicker roter Fleck. Sollte sie es riskieren und weiter gehen?
Sie bemerkte das auffallend dekorativ angebrachte Zahlenschloss an einer völlig unscheinbaren Wand. Nur gab es keine Tür dazu. Maurice hatte sie davor gewarnt irgendwelche Knöpfe zu drücken, also behielt sie lieber ihre Finger bei sich. Vermutlich konnte man damit die Falle entschärfen, doch Naomi kannte die richtigen Zahlen nicht. Außerdem hatte sie keine Zeit, um in Ruhe die richtige Kombination heraus zu finden.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als umzukehren und einen anderen Weg nach oben zu finden.
Nach einer Weile fand sie den Fahrstuhl, den sie leider auch nicht benutzen durfte. Wo sollte sie denn hin?
Wenn das so weiter ging, würde sie drei Tage brauchen, um Alec zu finden.
Immerhin beruhigte es sie, wie gut er sich schützte.

Jemand ohne das kleine Navi, wäre hoffnungslos aufgeschmissen. Naomi schickte noch ein kleines Dankeschön an Maurice, bevor sie langsam weiterging und nach etwas zehn Minuten eine weitere Treppe fand. Sie war deutlich schmaler und unscheinbarer. Naomi hatte das Gefühl richtig zu sein. Ein Blick auf den kleinen schwarzen Kasten, zeigte auch dass keine Fallen in ihrer unmittelbaren Nähe waren.

Sie stieg höher und höher, bis keine Stufen mehr da waren. Der letzte Absatz endete vor einer Betonwand.
Na toll, nun war sie schon wieder falsch gelaufen. Naomi stöhnte verzweifelt, strich sich die unbändigen Haare zurück und rückte ihre Tasche zurecht. Aufgeben war nicht ihr Ding. Sie musste zu Alec, koste es was es wollte. Sobald sie ihn fand, begann erst die richtige Arbeit.

Sie sah sich in dem dunklen Flur um. Vor der Wand lagen ein paar Holzbretter und Stangen, sowie eine von Ratten angenagte Arbeiterweste und ein paar zerbrochene Glasflaschen. Eine Wand war mit Graffiti beschmiert, doch Naomi erkannte weder ein Muster noch einen Sinn in der seltsamen Kritzelei. Sie fuhr mit der Hand über die raue Wand und zuckte erschrocken zusammen, als ihre Finger eine Unebenheit ertasteten.
Da war ein blauer Pfeil mit weißem Rand. Er zeigte auf die leere Betonwand gegenüber der Treppe.

Naomi wäre beinahe umgekehrt, wenn sie den Pfeil nicht gesehen hätte. Ein Glück, dass sie so neugierig war und alles anfassen wollte. Vorsichtig versuchte sie den Pfeil zu bewegen und tatsächlich ließ sich die Spitze ein wenig nach unten drücken.

Ein Klicken ertönte neben ihr und auf einmal war da ein Riss in der Betonwand.
Naomi staunte nicht schlecht über die gut versteckte Geheimtür. Ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht.
Dann schob sie vorsichtig die Wand auf und trat in völlige Dunkelheit.

Sie sah kaum die Hand vor Augen. Es gab hier kein Fenster, oder sie waren absolut abgedunkelt. Naomi schaute ein letztes Mal auf ihre Gerät. Es gab keine roten Punkte mehr. Hatte sie es geschafft? War sie schon in Alecs Versteck?
Sie hob die Hände und trat unsicher ein paar Schritte vor. Wahrscheinlich würde sie gleich irgendwo vorlaufen.

Mit einem Mal ging das Licht an und Naomi fand sich in einem geräumigen wohnlich eingerichteten Raum wieder. Da standen zwei elegante Ledersofas vor ihr - da wäre sie wirklich fast reingelaufen - und linker Hand befand sich eine offene, moderne Wohnküche.

Die einfachen Betonwände waren kahl und grau. Ziemlich deprimierend, wie Naomi fand.
Doch an der Decke leuchteten viele kleine LED Birnchen. Offenbar wurden sie mit einem Bewegungsmelder gesteuert.

Gegenüber sah sie bodenlange, schwarze Vorhänge und vermutete Fenster dort hinter. Sie ging dorthin und zog sie einen Spalt breit auf. Nein, keine Fenster, nur eine schier endlos lange Stange, auf der zig verschiedene Kleidungstücke hingen.
„Wow!", flüsterte sie zu sich selbst. „Der Typ hat dreimal so viel Klamotten wie ich."
Naomi schob den Vorhang wieder zu und legte ihre Tasche und Maurices Gerät auf eines der stilvollen Sofas.

Ihr Blick schweifte durch den Wohnraum. Es war zwar nicht sonderlich gemütlich, aber dafür geschmackvoll eingerichtet. Alles modern und abgesehen von den dunklen Vorhängen und den Sofas, war die Einrichtung gar nicht so düster. Irgendwie passte der moderne Stil zu den kahlen Betonwänden.

Naomi hätte gerne noch länger Alecs Zuhause bestaunt, doch wo war der Eigentümer? Es fehlte jede Spur von ihm. Also ging sie weiter. Sie trat durch einen türlosen Rahmen ins angrenzende Zimmer. Auch dort schalteten sich die Lichter automatisch ein. Was all das  gekostet haben musste es nachträglich einzubauen und wie bekam Alec hier überhaupt Strom, wo das Gebäude doch offiziell leer stand?
Naomi wollte sich lieber nicht mit der Antwort auseinander setzen. Bestimmt klaute er den Strom. War alles in dieser Wohnung Diebesgut?

Auf einmal erstrahlte ein hell erleuchtetes digitales Wandbild vor ihr. Es füllte komplett die ganze gegenüberliegende Wand aus. Naomi sah hinter sich auf den Beamer. Dann schaute sie wieder auf das schöne Bild einer Motoryacht, die in türkisblauen Gewässern trieb. Was für ein schönes Boot, dachte Naomi und verließ das ansonsten leere Zimmer wieder. Zu ihrer Überraschung schaltete sich sogleich das Licht aus.

Sie ging weiter, bevor sie sich weiter darüber wundern konnte. Neben der Küche fand sie ein kleines Badezimmer und eine Lagerkammer. Auch da war keine Spur von Alec. Enttäuscht wanderte sie weiter durch die wohnliche Etage. Ihr fiel auf, dass es nirgendwo Türen gab - außer im Badezimmer. Im ganzen Gebäude hatte Naomi keine gesehen, bis auf die Eingangstür und von der Geheimtür mal abgesehen.

Doch Naomi fand in einem kleinen Zwischenflur neben dem Zimmer mit dem Beamer eine Wendeltreppe. Oben war noch eine Etage. Auch dort war es dunkel. Sie erinnerte sich an Maurice Worte, dass Alec sich nur in Dunkelheit wohl fühlte. Sie gab ihm Kraft und Sicherheit. Langsam stieg sie hinauf und je höher sie kam, desto heller wurde es. Anscheinend gab es einen seltsamen Mechanismus für die Lichtsteuerung.

Auf der mit glänzendem Laminat ausgelegten Empore, gab es sogar ein paar Fenster. Sie waren groß und schmutzig und dicke Jalousien hielten jegliches Tageslicht draußen. Rechts von ihr befand sich eine geschlossene Metalltür und vor ihr stand ein großes wellenförmiges Bett. Naomi holte tief Luft. Dort zwischen den aufgewühlten hellen Decken, lag Alec und schlief. Sie hatte ihn tatsächlich gefunden. Überglücklich lief sie auf das Bett zu.

„Alec!", rief sie seinen Namen und legte ihre Hand auf seinen Arm. Er trug einen sehr weiten Pulli und eine einfache Jogginghose. Die Decke hatte sich irgendwie um seinen Körper geschlungen und seine Haltung sah mehr als nur unbequem aus, so wie er da auf der Seite lag.

Sie rüttelte vorsichtig an seiner Schulter. Er rührte sich nicht.
„Alec, hörst du mich? Bitte wach doch auf!"
Das wiederholte sie ein paar Mal, doch noch immer blieben Alecs Augen geschlossen.
„Was zum...wie kann man nur so tief schlafen?", wunderte sie sich.

Besorgt legte sie die Hände an sein blasses Gesicht und erschrak.
„Oh Gott! Du bist ja eiskalt!"
Das war nicht gut. Wie lange hatte er hier in der Dunkelheit gelegen? Es war auch nicht besonders warm in der gesamten Wohnung. Naomi hatte noch immer ihre dicke Jacke an und schwitzte nicht.

Unruhig setzte sie sich auf die Matratze und versuchte immer wieder Alec aufzuwecken.
Naomi überprüfte Atmung und Puls. Beides wahr alarmierend schwach.
„Oh bitte...Alec was ist mit dir?"
Natürlich blieb die Antwort aus.

Naomi sah sich verzweifelt um, als würde ihr eine rettende Idee gleich in den Schoß fallen. Ihr Blick blieb an dem runden Glastisch neben Alecs Bett hängen. Ihr gefror das Blut in den Adern, als sie die kleine weiße Dose sah.

„Beruhigungsmittel? Oh Gott, Alec was hast du getan?"
Sofort eilte sie die Wendeltreppe in den Wohnraum zurück. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und wollte gerade den Notarzt anrufen, da hielt sie inne.

Wenn sie das jetzt machte, würde sie ihn verraten. Alec würde ins Gefängnis kommen und das wäre ganz sicher sein Tod. Unschlüssig und verzweifelt ließ sie das Handy aufs Sofa fallen.

Sie überlegte was sie tun sollte. Verraten wollte sie ihn nicht, aber sie fürchtete er würde nicht mehr aufwachen, wenn sie gar nichts tat.
„Verflucht nochmal!", schimpfte sie ratlos. Selbst Maurice konnte nicht ahnen wie schlimm es in Wahrheit um Alec stand.

Schnell lief Naomi wieder nach oben. Sie zog ihre Jacke aus und krabbelte unter Alecs Bettdecke. Sie musste ihn aufwärmen. Sein Herzkreislauf musste wieder in Schwung kommen.
Also schob sie seinen Kopf ein wenig nach oben aufs Kissen, so dass er gut Luft bekam. Dann zog sie ihm die Decke fast bis zu den Ohren und kuschelte sich an ihn.

Ihre Hoffnung war ihn auch ohne Arzt zurück bringen zu können.
Wenn er bis Sonnenuntergang kein Lebenszeichen von sich gab, würde sie trotzdem den Notarzt rufen. Bis dahin betete sie einfach, dass er nicht aufgab. Er musste unbedingt wieder aufwachen.

Sie hielt ihn ganz fest und behielt ständig seine Atmung im Auge. Solange er atmete war alles gut. So konnte sich Naomi wenigstens halbwegs beruhigen. Doch die Angst ihn zu verlieren war allzeit präsent. Es sah ganz danach aus, als hätte er eine Überdosis geschluckt. Warum tat er nur sowas?

Naomi konnte es einfach nicht verstehen. Auch wenn er viel durchgemacht hatte und noch immer mit so vielen Dingen zu kämpfen hatte, war er ihr niemals depressiv erschienen. Alec war immer stark gewesen. Also warum wollte er auf einmal alles hinschmeißen?

Sie wusste nicht wie lange sie neben ihm lag und hoffte er würde irgendwann wieder aufwachen. Die Wärme zog endlich ein und nach einer Ewigkeit, bekam Alecs Körper wieder ein wenig Temperatur. Das gab ihr Hoffnung. Immer wieder legte sie die Hand an seine Wange und spürte, wie das Leben in ihn zurück kehrte.

Irgendwann wurde seine Atmung stärker und sein Puls fühlte sich besser an. Er war immer noch schwach, aber nicht mehr besorgniserregend.
Was er brauchte, war gesunde Nahrung. Es schien fast so, als hätte er tagelang nichts gegessen. Hatte er etwa nur geschlafen?
Naomis Herz zog sich krampfhaft zusammen bei der Vorstellung wie er gelebt haben musste.

Er bewegte sich langsam. Sein Gesicht bekam Regung und dann blinzelten seine grauen Augen sie unter den langen Wimpern hervor an.
Er war immer noch benebelt und keinesfalls ganz wach. Doch Naomi lächelte ihn überglücklich an. So nahe bei ihm zu sein war ein schönes Gefühl.

Er sah eine ganze Weile in ihr Gesicht, schlief zwischendurch wieder halb ein und wurde nach einiger Zeit erneut wach.
Er flüsterte schwach ihren Namen, als könne er nicht recht glauben, dass sie da war.
Sie nickte freudig. Endlich kam er zu sich.
Er würde nicht aufgeben. Er würde nicht einfach so wegsterben.
Immer wieder fielen ihm die Augen zu. Das lag an den Tabletten.

„Ich bin hier", antwortete sie leise.
„Das...ist ein Traum."
Sie musste schmunzeln.
„Wenn's einer ist...lass mich weiter schlafen."
Alec senkte den Kopf und wollte offenbar nichts von ihr wissen.
„Nein ist es nicht. Ich bin wirklich hier."

Auf einmal legte er ihr unter der Decke den Arm um die Mitte und drückte sie wie einen Teddybär an sich und zum aller ersten Mal zeigte er ihr damit, wie gern er sie hatte.
Nun lag sie in seinem Arm und genoss die Nähe zu ihm.

Leider nur sehr kurz, denn Alec driftete schon sehr bald wieder ab. Erleichtert löste sich Naomi aus seiner Umarmung und schlich vorsichtig aus dem Bett. Sie deckte ihn noch einmal zu, damit er warm blieb und stieg die Wendeltreppe hinab in die Küche.

Dort suchte sie alles nach Lebensmitteln ab. Alec hatte nicht viel, was man gebrauchen konnte. Die Küche war hervorragend mit Utensilien ausgestattet und glänzte noch wie am ersten Tag. Hatte er sie jemals benutzt?
Naomi fand sogar einen Mixer und beschloss ihm einen Vitaminshake aus den wenigen Sachen zu machen, die sie auftreiben konnte.

Zusätzlich bereitete sie heißes Wasser auf, um ihm einen Tee zu machen. Davon hatte Alec komischer Weise jede Menge. Lobenswert war jedenfalls, dass er nicht einen einzigen Tropfen Alkohol in seiner Wohnung fand. Er hatte nichtmal Wein. Kein Wunder bei seiner Vorgeschichte.

Eine halbe Stunde später ging sie wieder zu ihm rauf und setzte sich neben Alec aufs Bett. Er wurde wach, als sie ihn etwas aufrichtete und ein Kissen hinter seinen Rücken schob.
Doch müde und schwach wie er war, kippte sein Kopf gleich zur Seite weg und lehnte an ihrer Schulter.
„Mensch Alec, reiß dich mal zusammen. Du kannst doch nicht nur schlafen."
Er brummte mit offensichtlichem Widerspruch, öffnete aber die Augen.

„Komm, trink das!"
Sie hielt ihn ein Glas mit einem Trinkhalm vor die Nase.
„Na los!"
Sie drückte ihm den Halm an die Lippen.
Wieso wehrte er sich dagegen? Er brauchte dringend etwas Flüssigkeit.
„Bitte Alec!", flehte sie eindringlich.
Er gab nach und trank ein paar Schlucke.
Zufrieden lehnte sich Naomi an die Rückenlehne des Bettes und wartete.

Sie blieb solange, bis er fast das ganze Glas geleert hatte. Mit viel Geduld und gutem Zureden brachte sie ihn dazu so viel wie möglich zu trinken. Dann ließ sie ihn vorerst wieder schlafen und verschwand in der unteren Etage.



~



Alles war so hell um ihn herum. Seine Augen konnten sich nur schwer an das grelle Licht gewöhnen. Trotzdem starrte er an die Decke und lauschte den seltsamen Geräuschen von unten. Es roch nach Essen. Verdammt, ihm wurde davon übel. Er hatte seit Tagen nichts gegessen und erlitt eine leichte Reizüberflutung.

Das zwang ihn dazu sich aufzurichten, damit er gerade noch den Brechreiz unterdrücken konnte.
Etwas klapperte in seiner Küche. Neugierig krabbelte er über die verdrehte Decke ans Bettende und warf einen Blick über das Glasgeländer.

War das etwa Naomi? Dort unten in seiner Küche? Er rieb sich die Augen und glaubte noch zu träumen. Nein, das war kein Traum. Er war zwar nicht hellwach, aber das war auf keinen Fall Einbildung.

Er versuchte aufzustehen und sackte gleich wieder zurück auf die Matratze. Seine Muskeln waren total steif. Das Gefühl war neu.
Doch nach fünf Tagen Regungslosigkeit war das wohl kein Wunder. Alec hatte auch eigentlich nicht damit gerechnet noch einmal aufzuwachen.

Jetzt konnte er gar nicht mehr sagen, was ihn dazu bewegt hatte, mehr als die übliche Dosis von den Tabletten zu nehmen. Eigentlich sollte er sie nur wegen seiner Schlafstörung nehmen, doch es war so einfach gewesen. Es war der einfachste Ausweg gewesen. Dabei hatte er sich immer eingeredet nicht labil zu sein. Offensichtlich war er es doch.

Alec hob sich erneut auf die Beine und hielt sich an dem Geländer fest. Langsam und schwindelig, ging er die Stufen hinunter. Auf der Drittletzten blieb er stehen und schaute auf das beschäftigte Mädchen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihn bemerkte. Sofort schenkte sie ihm ein herzerwärmendes Lächeln.
„Du bist ja auf", stellte sie freudig fest und nahm den brodelnden Kochtopf von der heißen Platte.

„Was...machst du hier?", fragte Alec ohne Umschweife.
„Ich koche für dich", erklärte sie wie selbstverständlich.
„Das meine ich nicht. Ich will wissen wie du hier herein gekommen bist."
„Oh...also naja...Maurice hat mir geholfen."

Sie schmeckte den Inhalt des Kochtopfes mit einem Löffel ab und verzog das Gesicht.
„Salz. Da fehlt definitiv Salz. Wie kann man in seiner Küche nur kein Salz haben?", fragte sie etwas frustriert und begann sofort alles abzusuchen. Scheinbar machte sie das schon zum wiederholten Male.

„Weil ich nie koche", erklärte Alec ziemlich kühl und ging auch die letzten Stufen hinunter.
Es passte ihm ganz und gar nicht, dass Maurice sie hier herein gelassen hatte. Der Mann bat ihn erst darum sich von ihr fern zu halten und dann schickte er sie her. Wusste Maurice eigentlich mal was er wollte?

Alec stapfte so sicher wie irgend möglich zu Naomi hinüber und griff nach ihrem Handgelenk.
„Hey was wird das?", fragte sie irritiert.
„Geh nach Hause, Naomi! Du hast hier nichts verloren."
Sie entriss ihm ihren Arm und blieb stehen.
„Nein!"
Alec war fassungslos. Hatte sie ihm gerade widersprochen? Das kannte er nicht von ihr.
„Ich gehe nicht weg. Nicht solange du krank bist."
Alec stöhnte genervt. Er hatte eigentlich nicht die Kraft, um mit ihr zu diskutieren.

„Ich will dich hier nicht haben, Naomi. Ich brauche dich auch nicht. Wie du siehst bin ich wieder auf den Beinen."
„Und du glaubst das reicht, ja? Alec du hast versucht dich umzubringen. Das nenne ich nicht gesund."

Er verdrehte die Augen. Sie sollte sich bloß nicht weiter einmischen, sonst würde er richtig sauer werden.
„Hau ab, Naomi!", schrie er aufgebracht. In der nächsten Sekunde schwankte der Boden unter seinen Füßen und er musste sich an der Küchentheke festhalten.

„Das kannst du vergessen!", schrie sie zurück.
„Hast du mal in den Spiegel geschaut? Du bist blass und hast Schatten unter den Augen. Du brauchst dringend Hilfe, Alec!"
„Und wenn schon", motzte er ablehnend, „es geht dich nichts an."

Er wollte zwar nicht so böse zu ihr sein, aber ihre Anwesenheit brachte seine innere Schutzmauer zum Einsturz. Er war nicht mehr er selbst und drohte jede Sekunde nachzugeben und sich zu vergessen. Doch er durfte nicht. Er konnte Naomi nicht haben. Sie brachte sich mit ihrer sturen Art in Gefahr und Charlie auch. Sie musste verschwinden!

„Vielleicht hast du recht, Alec. Aber ich bin nicht Kelly. Ich gehe nicht, wenn du meine Hilfe am meisten brauchst."
„Wieso tust du das, Naomi? Bist du es nicht leid von mir weggestoßen zu werden?", fragte Alec etwas ruhiger.
Sie schüttelte den Kopf.
„Weißt du, wenn man sich in jemanden verliebt, ist man bereit alles für diese Person zu tun. Man tut es ohne Bedingungen oder eine Gegenleistung dafür zu erwarten. Ich habe auch nie von dir verlangt meine Gefühle zu erwidern, Alec. Nur ändern kannst du sie nicht. Meine Gefühle sind meine Sache."

„Bist du blöd? Wie lange willst du dich noch damit quälen Männern hinterher zu laufen, die sich einen Scheiß für dich interessieren?", rief er schon wieder laut. Er musste sie irgendwie überzeugen zu gehen.
„Das stimmt nicht, Alec. Ich weiß, dass du mich magst. Ich weiß auch warum du mir das Gegenteil verklickern willst."
Naomi sah ihn direkt an. Ihr Blick war nicht böse, aber absolut entschlossen.

„Ich kann damit leben, wenn du mich ablehnst. Glaub mir, ich habe Erfahrung damit meine Gefühle für mich zu behalten, wenn jemand sie nicht will. Doch lass mir meine Sorgen. Ich bleibe solange, bis du gesund bist. Je schneller du zu deinem Selbst zurück findest, desto eher wirst du mich los. Ganz einfach."
„Naomi..."

Alec wollte intervenieren, doch sie hob abweisend die Hand.
„Bleib einfach am Leben, Alec. Ich kann nur zu meinem eigenen Leben zurück kehren, wenn ich weiß, dass es dir gut geht. Ganz egal was du machst und wo du bist. Nur bitte...bleib am Leben."

Alec war erschüttert über diese ehrlichen und liebevollen Worte. Noch nie war er jemandem so wichtig gewesen. Dieses Mädchen war unglaublich und sie hatte sehr starke Gefühle für ihn. Alec war das nicht gewohnt.

Es freute ihn. Zu gerne hätte er Naomi in den Arm geschlossen und ihr etwas ähnliches gesagt. Doch sein Problem war ganz wo anders. Er konnte einfach nicht vom Stehlen loskommen. Es war wie eine Abhängigkeit. Anstelle Drogen zu nehmen, war er süchtig danach Dinge zu nehmen, die anderen Menschen gehörten.

Selbst wenn Naomi damit zurecht kam, würde sie es nicht für immer ertragen. Früher oder später würde sie ihn bitten mit dem Stehlen aufzuhören und Alec konnte ihr einfach nicht versprechen es zu schaffen.

Er hatte es versucht. Viele Male. Er war sogar zu mehreren Psychiatern gegangen, in der Hoffnung davon loszukommen. Er wollte nicht mehr stehlen. Er wollte doch bloß ein normales Leben führen. Doch er kam nicht davon los. Solange er nicht davon loskam, waren alle Menschen um ihn herum in Gefahr.

Wie viel Verständnis konnte Naomi schon dafür aufbringen? Und wie lange könnte sie ein Leben wie dieses führen? Sie machte sich jetzt schon so große Sorgen um ihn. Wie lange würde es dauern, bis es sie zerstörte?

Alec lehnte sich verzweifelt an die Theke und verbarg sein Gesicht in der Hand.
„Du kennst mein Leben, Naomi", begann er nach einem langen Moment der Stille. „Ich werde von allen Seiten gejagt und irgendwann bin ich vielleicht nicht mehr schnell genug. Ich kann morgen am Tag erschossen werden. Das macht dir doch bestimmt Angst."

Sie nickte verhalten. Natürlich machte es ihr Angst.
„Ich habe Angst dich zu verlieren, egal auf welche Weise. Nur was mir am meisten Angst einjagt, ist dich so zu sehen."
Alec sah wie sich ihre kleinen hellen Augen mit Tränen füllten.

„Ich hätte beinahe den Notarzt gerufen, auch wenn es dich damit verraten hätte. Doch Maurice hat mir von deiner Vergangenheit erzählt und ich weiß, wie schwer es dir fällt eingesperrt zu sein. Wenn du jetzt schon so depressiv bist, wie willst du dann ein Gefängnis überleben?"
Sie hatte recht. Eher würde er sich umbringen, als eine Haftstrafe auszusitzen.

„Ich will einfach nur, dass du stark bleibst, damit sie dich nicht schnappen. Du bist so schnell und keiner kann so geschickt und sicher über Gebäude laufen, wie du. Nichts kann dich einschüchtern oder verunsichern. Wenn du deinen Job machst habe ich weniger Angst um dich, als wenn du mit einer Überdosis in der Ecke liegst."

Sie verlieh ihren letzten Worten besonderen Nachdruck. Trotzdem wirkte sie aufgelöst und unsicher und obwohl ihre Worte ihm viel bedeuteten, sah er immer noch keinen Ausweg aus seinem persönlichen Teufelskreis.

„Glaubst du wirklich, dass ich das bin, den du da beschreibst? Ich bin nicht dieser starke Held, von dem du redest. Ich bin psychisch ein Wrack. Ich wollte eigentlich nicht, das du mich so siehst. Weil es mich fertig macht, verstehst du?"
„Niemand will seine empfindliche Seite zeigen, Alec."

„Darum geht es doch gar nicht, Naomi. Die Welt ist nunmal nicht so einfach, wie du sie dir vorstellst. Ich kann einfach nicht aufhören. Ich brauche den Nachtdieb mehr als er mich braucht. Ich hasse ihn! Ich kann einfach nicht mehr. Ich hasse mein Leben und die ganze Situation! Ich will auch keine Rache mehr. Das alles ist mir total egal. Ich will einfach nur ich sein. Doch das kann ich nicht, solange ich immer noch der Nachtdieb sein muss."

Alec beruhigte sich, weil ihm schon wieder schwindelig wurde. Nach einer Pause fuhr er leiser fort: „Ich bin müde, Naomi. Ich bin es einfach so leid", gestand er verzweifelt.

Sie sah ihn mit ihren mitleidvollen und aufrichtigen Augen an. Alec tat es auf einmal leid sie so angeschrien zu haben. Vielleicht konnte sie ihn ja verstehen. Doch ändern konnte sie nichts. Er steckte mitten in einer Lebenskrise und niemand konnte ihn daraus befreien.

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