31. 𝑍𝑒𝑟𝑠𝑡𝑜̈𝑟𝑡𝑒𝑠 𝐿𝑒𝑏𝑒𝑛

Maurice beäugte besorgt die goldene Armbanduhr auf dem Tisch. Sie gehörte wohl nicht zu den wertvollsten Stücken auf der Welt, aber auch sie hatte ihren Preis und der Junge hatte keine Rechnung dafür.
Es war lange her, dass er einfach so gestohlen hatte.

Die Aufträge interessierten ihn nicht. Er sprach kaum ein Wort mit Maurice und trainierte auch nicht mehr regelmäßig. Nur ab und zu versuchte er es. Doch dann war er meistens neben der Spur und machte lebensgefährliche Fehler. Es fehlte ihm an Motivation.

Er schlief sehr viel und ging nicht einmal zur Uni. Eigentlich hatte er diese Zeiten hinter sich gelassen. Nun war es wieder so weit, dass er aus einer Laune heraus Dinge klaute. Das war meistens gefährlicher, als ein gut geplanter Raubzug.

Warum ließ er sich so gehen? Es war doch nicht so, als hätte er keine Wahl gehabt. Er hatte sich bloß zwischen seinem Leben als Nachtdieb und dem Mädchen entscheiden müssen. Maurice wäre es sogar lieber gewesen, der Junge hätte sich für das Mädchen und somit für ein normales Leben entschieden.

Er konnte niemandem außer sich selbst Vorwürfe machen. Solange ihm seine Rache immer noch wichtiger war, würde er sich niemals für den einfachen Weg entscheiden.

„Muss das sein?", fragte Maurice und deutete auf die Uhr, als Alec sich die Klamotten auszog.
„Es ist nur eine Uhr."
Maurice versuchte Verständnis zu zeigen und nicht gleich ausfallend zu werden.
„Im Ernst, willst du unbedingt im Knast landen? Du verteilst kleine Brotkrumen für Wilkinson, damit er dich auch sicher finden kann."

Der Junge zuckte nur mit den Schultern und schmiss sein Zeug auf den Boden.
„Ist dir alles egal?"
„Ja, verdammt!", schrie Alec erzürnt.
„Was soll ich nur mit dir machen?", fragte Maurice verzweifelt und strich sich die Sorgenfalten auf der Stirn glatt.
„Halt mir keine Vorträge und lass mich einfach alleine, alter Mann."
Okay, das war genug. Wenn er es denn so haben wollte, würde er seinen Willen bekommen. Es wäre vielleicht besser ihn in Ruhe zu lassen, bis er die ganze Sache abgehakt hatte. Maurice würde ihm etwas Zeit geben.

„Wie du willst. Ich gehe nach Hause. Doch du kannst mich jeder Zeit erreichen."
Alec gab nur ein genervtes Brummen von sich und sah nicht einmal zu seinem besorgten Partner.
„Ich will duschen. Du findest sicher allein raus."
Damit überließ er Maurice sich selbst.

Auch wenn er abweisend war, konnte Maurice ihm nicht böse sein. Alec war ja nicht auf ihn böse. Er war wütend auf sich selbst und auf die ganze beschissene Welt. Dabei war das gar nicht nötig. Er selbst entschied über sein Leben. Warum kapierte Alec das nicht?

Mit einem schweren Seufzer verließ Maurice das Lagerhaus.
Er war der letzte Mensch, der dem Jungen noch helfen konnte. Wenn er auch seine Hilfe ablehnte, konnte er nichts weiter für ihn tun.
Hoffentlich kriegte sich Alec bald wieder ein. Er durfte nicht nachgeben.



~



Die Tage verstrichen und das Semester neigte sich dem Ende zu. Weihnachten stand kurz vor der Tür. Die Leute hasteten in die Stadt, um schon die ersten Geschenke für ihre Liebsten zu kaufen.

Nur Naomi hatte kein bisschen Weihnachtstimmung. Ihr Bein verheilte ganz gut, weshalb sie unbedingt die letzten Vorlesungen noch mitnehmen wollte, die von den Teilnehmern am Schluss mit einem lauten Applaus für den Professor gewürdigt wurden.
Der Ausflug blieb noch lange ein Gesprächsthema unter ihren Kommilitonen. Doch eigentlich wollte Naomi das alles vergessen. Hätte sie auch, wenn alle nicht ständig darüber tratschen würden.

Immerhin war Alec nicht mehr zur Uni gekommen. Wenn sie ihn jeden Tag gesehen hätte, wäre alles noch viel schwieriger geworden. Trotzdem vermisste sie ihn. Was machte er bloß? Plante er den nächsten Diebstahl? Ach, was kümmerte es sie. Sie sollte sich nicht weiter in sein Leben einmischen. Sie konnte schon froh sein, wenn er ihretwegen nicht verhaftet wurde.

Naomi hatte das Gefühl doppelte Vorsicht walten lassen zu müssen. Auf dem Weg nach Hause sah sie sich ständig um, weil sie fürchtete von der Polizei überwacht zu werden. Glaubten sie wirklich Night Runner würde am helllichten Tage zu ihr kommen? Er würde überhaupt nicht mehr kommen. Das Thema war durch. Das würde auch Wilkinson bald kapieren. Naomi musste bloß noch ein paar Tage durchhalten.

Durchhalten war das richtige Wort, als ihr auffiel, das Fred ganz unerwartet wieder an der Uni auftauchte. Naomi erinnerte sich an das Gespräch im Wald. Es war ihr unangenehm ihn nach allem wieder zu sehen.

Doch Fred ging ihr vorerst aus dem Weg. Manchmal trafen sich ihre Blicke, wenn sie sich auf dem Campus begegneten. Dann sah er immer wie ein kleiner begossener Pudel aus. Doch er sprach sie nicht an.
Darüber war sie sehr erleichtert.

Am letzten offiziellen Unitag schneite es wieder. Es gab eigentlich kaum noch Unterricht und alle gingen schon nach wenigen Stunden nach Hause.
Naomi verabschiedete sich von Hannes und Diana, die sie hoffentlich vor Neujahr nochmal sehen würde. Den Rest ihrer Kursteilnehmer würde sie wohl erst nächstes Jahr zu den Prüfungen wiedersehen.

Sie ging über das weitläufige Gelände, stapfte mit den vielen anderen Studenten über den zugeschneiten Weg und steuerte die Bushaltestelle vor dem Campus an.
„Miss Singer!", sprach sie jemand an und Naomi blieb stehen.
Ein schwarzer eleganter Wagen stand neben ihr am Straßenrand. Direkt neben der Beifahrertür stand ein mittelgroßer Mann in einem schwarzen Baumwollmantel und einem Hut. Er schien schon älter zu sein.

Seine Hände waren in weiße Handschuhe gehüllt und lässig vor seinem Bauch gehalten.
Er wirkte auf den ersten Blick nicht wie ein Polizist, doch Naomi konnte sich nicht sicher sein.
„Ja bitte?"
Er verzog seine schmalen Lippen zu einem höflichen Lächeln.
„Wer sind Sie?", fragte Naomi misstrauisch.
„Mein Name ist Maurice", erklärte er freundlich. Er wirkte nur gezwungen höflich. Seine Augen waren genauso misstrauisch und wachsam wie Naomis.
„Und was wollen Sie von mir? Sind...sind sie von der Polizei?"

Er schüttelte ganz ruhig den Kopf.
„Wir beide müssen uns unterhalten."
„Ich wüsste nicht worüber", sagte sie immer noch vorsichtig.
„Sie kennen doch Alec Hauser."
Diesen Namen konnte sie einfach nicht ignorieren. Was für ein merkwürdiger Mann. Was wollte er von ihr? Wusste er Bescheid? Oder wollte er sie ausfragen?

„Ja. Warum?"
„Er braucht dringend Hilfe."
Als sie das hörte, ließ sie ihre Deckung sinken. Auch wenn es vermutlich falsch war. Sie hatte plötzlich Angst um Alec. Trotzdem bewahrte sie Ruhe und versuchte ihre Nervosität zu verbergen.
„Wie meinen Sie das?"
„Ich bin ein Freund von ihm und möchte ihm helfen. Nur leider sind mir die Hände gebunden."
Konnte dieser Typ auch mal nicht in Rätseln sprechen?

„Arbeiten Sie mit ihm zusammen?", hakte Naomi unsicher nach.
Er nickte wieder.
„So könnte man das nennen", antwortete er ruhig.
„Was ist mit Alec?"
Sie konnte sich nicht mehr zurück halten. Alec war seit Tagen verschwunden. Sie machte sich natürlich Sorgen um ihn. Erst recht wenn dieser Fremde behauptete er brauchte Hilfe.

„Sagen Sie doch was! Er ist doch nicht verletzt, oder?"
Er starrte sie nur einen endlos langen Moment an. Naomi wurde fast wahnsinnig.
„Ich wollte Ihr Gesicht sehen, Miss Singer. Nun bin ich überzeugt."
Überzeugt? Wovon?
„Wir sollten reden. Aber nicht hier."
Er drehte sich halb zum schwarzen Cadillac um.

„Ich weiß, Sie haben keinen Grund mir zu vertrauen und es wäre wahrlich klüger nicht in das Auto eines Fremden zu steigen. Doch ich hatte bis eben noch genau die gleichen Zweifel und traue Ihnen immer noch nicht zu hundert Prozent...", meinte er steif, „...doch wenn Sie Alec helfen möchten, müssen Sie mir vertrauen."
„Können Sie mich zu ihm bringen?"
Er nickte wieder und öffnete die hintere Tür.

Naomi zögerte. Der Typ konnte ihr alles erzählen und sie anschließend an einen abgelegenen Ort vergewaltigen oder niederstechen. Andererseits, wenn das stimmte was er sagte, brauchte Alec vielleicht wirklich Hilfe.

Naomi konnte sich nicht im geringsten vorstellen, wie sie ihm helfen konnte. Sie hatte ihm bisher nur Probleme bereitet.
Und wenn dieser Mann ihr wirklich etwas Böses wollte, käme er dieses Mal nicht, um sie zu retten.

„Lassen Sie uns fahren", sagte Naomi und stieg entschlossen in den Wagen ein. Alles roch nach Leder und die helle Einrichtung wirkte noch völlig unbenutzt, oder wurde sehr gut gepflegt.
Maurice schien zufrieden mit ihrer Antwort und schloss die Tür. Während er ums Fahrzeug herum zur Fahrertür ging, atmete sie tief durch. Sie tat schon wieder etwas riskantes. Doch wenn Alec Hilfe brauchte, war sie bereit alles zu tun.

Maurice setzte sich hinters Steuer und richtete seinen Rückspiegel so, dass er Naomis Gesicht sehen konnte.
„Ich danke Ihnen für ihr Vertrauen, Miss Singer. Ich muss gestehen, dass ich ein sehr hohes Risiko eingehe, indem ich sie treffe. Ich habe auch bisher viele Gründe gehabt Ihnen nicht zu vertrauen. Erst recht nachdem Sie sein Hobby kennen."
Naomi lachte innerlich über das Wort Hobby. Es war wohl schon mehr als das.
„Ich dachte wirklich Sie würden ihn verraten."
„Niemals!", entgegnete sie entschlossen. „Ich würde Alec niemals verraten."

„Das weiß ich jetzt auch. Nur deshalb bin ich her gekommen."
„Es ist ihm doch nichts zugestoßen, oder?", fragte Naomi bang.
„Nun, ich wünschte ich könnte diese Frage mit gutem Gewissen beantworten, doch ich bin mir selbst nicht sicher."
„Was soll das heißen?"
Maurice startete den Motor und fuhr den Wagen auf die Hauptstraße.
Naomi hätte sich am liebsten fallen gelassen und aus dem Fenster geschaut, doch sie war viel zu aufgeregt. Also starrte sie in Maurice wachsame Augen im Rückspiegel.

„Ich habe seit über einer Woche nichts von ihm gehört. Normalerweise würde mich das nicht gleich beunruhigen, aber er ist nicht einmal über sein Handy erreichbar. Er hat sämtlichen Strom abgestellt, er macht nicht die Tür auf und hat sich von der Außenwelt komplett abgeschottet."

Das klang überhaupt nicht gut.
„Und warum glauben Sie kann ich da was machen?"
Selbst über den Rückspiegel erkannte sie sein halbes Lächeln und die Augenbraue, die leicht nach oben zuckte.
„Das wissen Sie wohl besser als ich, Miss Singer", gab er zur Antwort. „Sie sind wohl der einzige Mensch, den Alec im Moment in seine Nähe lässt."
Naomis Herz setzte aus. Das wäre zu schön, um war zu sein. Doch Naomi glaubte noch nicht daran. Sie erinnerte sich nur daran, wie er sie von sich gestoßen hatte.

„Leider muss ich Ihnen etwas beichten."
Naomi legte verwirrt den Kopf schief.
„Ich bin in gewisser Weise schuld an seinem Verhalten. Ich habe ihn nämlich gebeten sich von Ihnen fern zu halten."
Er machte eine kurze Pause und beobachtete ihre Reaktion.
„Verstehen Sie mich nicht falsch. Wenn Alec es wirklich gewollt hätte, hätte er einen Weg gefunden bei Ihnen zu bleiben."
Bei ihr zu bleiben? Wollte Alec das tatsächlich?

„Ich weiß, dass er mich nur auf Abstand hält, um mich zu beschützen."
Maurice nickte und konzentrierte sich auf den dichten Verkehr.
„Auch sich selbst, Miss Singer. Sie wissen warum er sein Gesicht verhüllt."
Dieses Mal nickte sie wortlos.
„Ich wünschte er hätte sich anders entschieden. Es bricht mir das Herz ihn so zu sehen."

Er klang aufrichtig und Naomi fragte sich welche Beziehung er zu Alec hatte.
Ein Verwandter war er nicht. Alec hatte ihr ja gesagt, dass er keine Familie mehr hatte. Vorausgesetzt er hatte ihr immer die Wahrheit gesagt.

„Hat er Ihnen jemals erzählt, warum er stiehlt?"
Naomi schüttelte wieder den Kopf.
„Wir kamen nicht dazu über seine Motive zu sprechen."
„Nun, er macht es aus vielerlei Gründen. Doch um diese zu verstehen, müssen sie Alec selbst verstehen und das geht nur, indem ich ihnen von seiner Vergangenheit erzähle."

Oh ja! Naomi wollte unbedingt alles über Alec erfahren. Endlich war es so weit. Jemand verschaffte ihr Einblick in Alecs geheimnisvolle Welt. Sie knabberte an ihren Fingernägeln und  hielt den Blick standhaft auf den Rückspiegel gerichtet.

„Er hat seine Gründe die HKS Group zu hassen. Er hat auch seine Gründe zu stehlen. Das soll es nicht rechtfertigen, aber er hat seine Gründe."
„Erzählen Sie es mir bitte", forderte Naomi ungeduldig.
„Es begann alles mit Alecs Vater. Vor neunzehn Jahren hat er für die HKS Group als Sicherheitschef gearbeitet. Er war für die interne Gebäude Sicherheit zuständig. Jenes großen Gebäudes, von dem sie neulich hinab gestürzt sind."
Naomi schluckte bei der Erinnerung an den Sturz. Doch für Alec musste es noch viel schlimmer gewesen sein.

„Eines Nachts gelang es einer fremden Person in das Gebäude einzudringen. Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen. Man gab Alecs Vater die Schuld. Dabei war es ein Sicherheitslack auf anderer Ebene gewesen. Alecs Vater hätte es nicht verhindern können und obwohl man den Eindringling noch schnappen konnte, entließ man Alecs Vater fristlos und schädigte seinen Ruf nachhaltig so sehr, dass er niemals wieder einen vernünftigen Job bekam."

Das war echt unfair. Wie gemein.
Irgendwie kamen ihr Maurices Worte bekannt vor. Auch Susanne hatte ihr damals eine  ähnliche Geschichte erzählt. Offenbar schädigte die HKS Group gerne den Ruf anderer Leute und zerstörte ihre Leben.

„Damals hatten Alecs Eltern nicht viel. Trotzdem waren sie einigermaßen glücklich. Doch nach dem Vorfall war sein Vater am Ende. Er wusste nicht mehr wie er seine Frau und seinen Sohn ernähren sollte. Alecs Mutter arbeitete damals nur nebenbei auf dem Fischmarkt. Sie verdiente nicht viel. Das brachte die Familie schon nach kurzer Zeit an den Rand des Existenzminimums und bald waren ihre Schulden so hoch, dass Alecs Vater vor lauter Sorge Depressionen bekam.
Es dauerte knapp ein halbes Jahr, nach seiner Entlassung, bis er sich aus lauter Sorge das Leben nahm."
Naomi sog entsetzt die Luft ein.
„Wie schrecklich."

„Er dachte wohl, er würde seinen Lieben damit eine Sorge abnehmen. Doch sich vor ihren Augen aufzuhängen, war wohl eher unbedacht."
Naomi war sprachlos. Wie konnte er das tun? Gab es denn keine andere Möglichkeit, als sich umzubringen?
Sie dachte kurz an Charlie und verfiel wieder in Sorge. Nein, ihr Vater war nicht so schwach. Er würde sie nicht alleine zurück lassen.

„Jedenfalls...", erzählte Maurice weiter, „...wurde Alecs Mutter vor lauter Kummer so krank, dass sie kaum noch essen konnte und wenige Monate nach dem Tod ihres Mannes ebenfalls verstarb."
Naomi starrte entsetzt zu Maurice nach vorne. Das musste absolut grausam gewesen sein. Kein Wunder, dass Alec die HKS Group hasste.

„Zurück blieb nur ein achtjähriger Junge, der gerade mal wusste, dass die Welt sich drehte."
„Was geschah mit ihm?"
„Er kam natürlich ins Heim. Verwandte hatte er damals nicht. Niemand kümmerte sich um den armen Jungen, also blieb nichts anderes übrig."

Maurice hielt an einer roten Ampel und drehte sich halb zu Naomi um, ohne die Ampel komplett außer Acht zu lassen.
„Ein Jahr später adoptierte ihn ein Mann. Er lebte auf dem Lande und verwaltete einen alten Schweinehof."

Naomi wollte sich schon freuen, doch das schien noch lange nicht das Ende der Geschichte zu sein. War noch etwas Schlimmeres passiert?
„Er hatte allerdings ein starkes Alkohol Problem, das natürlich vom Jugendamt nicht kontrolliert worden ist. Eigentlich hätte dieser Mann niemals Kinder haben dürfen."

„Was hat er getan?", fragte Naomi mit den schlimmsten Befürchtungen.
„Er hat den Jungen eingesperrt. Er machte sich einen Spaß daraus, ihn wie ein Tier zu behandeln. Nein, schlimmer noch: Er sperrte den Jungen in eine dunkle, unbeheizte Kammer, die gerade so groß war, dass ein erwachsener Mensch sich darin umdrehen konnte."

Ein Bild tauchte vor Naomis innerem Auge auf. Sie sah Alec wieder unbeweglich auf ihrem Bett sitzen. Das erklärte, warum er stundenlang so sitzen konnte. Er war es...gewohnt.

„Wann immer er zu viel getrunken hatte, ließ er seine ungebändigten Aggressionen an Alec aus und schlug ihn solange, bis ihm der Arm schmerzte. Anschließend sperrte er den Jungen wieder in die Kammer. So lernte Alec sehr schnell sich mit der Dunkelheit vertraut zu machen. Sie bot ihm Schutz, denn immer wenn er ins Licht kam, wurde er geschlagen. Seitdem lebt Alec lieber im Dunkeln und gleichzeitig hält er es nicht lange hinter Mauern aus."

Wieder hatte sich Naomi entsetzt die Hände vor den Mund gehalten und ihren Aufschrei zurück gehalten. Nur die mitfühlenden Tränen konnte sie nicht zurück halten.
„Wie konnte er...?"
Ihre Stimme klang rau und abgehackt. „Ich meine, wieso ist das niemandem aufgefallen?"
„Dort draußen auf dem Land sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht. Der nächste Nachbar war ein paar Meilen weit weg."

„Trotzdem! Wie kann sowas nur passieren?"
„Leider passiert sowas immer wieder dort draußen."
Naomi hatte nicht bemerkt, wie der Wagen sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, so vertieft war sie in die Erzählung gewesen.
Auf einmal nahm sie die riesigen Gebäude wahr, die an ihrem Fenster vorbeizogen.

Sie wollte nicht mehr zuhören. Sie wollte nicht noch mehr von diesem Leid erfahren und doch war es so wichtig. Es war Alecs Leben. Er war an diesen Erlebnissen gereift und Naomi hatte mehr als nur Verständnis und Mitgefühl für den Mann. Dass er noch nicht komplett den Verstand verloren hatte, war ein Wunder.

„Irgendwann ist er einfach abgehauen. Er war immer schon ein schlauer und geschickter Bursche gewesen. So gelang es ihm von dem Hof seines Ziehvaters zu flüchten.
Er war ein Teenager, als er ohne Ziel und ohne Hoffnung zurück in die Stadt lief. Er hatte nichts. Kein Geld, kein Zuhause und nicht einmal frische Kleidung. Ins Heim zurück wollte er nicht, aus Angst zu diesem Mann zurück geschickt zu werden. Also versteckte er sich. Er lebte auf der Straße und um nicht zu verhungern begann er zu stehlen", erzählte Maurice langsam.

„Hat er ihn nicht angezeigt?"
„Damals war er ein verstörter Junge. Er hatte Angst wieder enttäuscht zu werden und vermied es daher mit fremden Personen Kontakt aufzunehmen, selbst mit der Polizei. Leider gelang ihm das nur halbwegs, weil er hin und wieder beim Stehlen erwischt wurde. Doch er sagte niemals seinen Namen oder wo er herkam. Jedes Mal wenn man ihn zurück ins Heim schicken wollte, rannte er wieder weg. Wir beide wissen wie gut er im Weglaufen ist."

Naomi nickte nachdenklich. Er war in so vielen Dingen gut. Doch was hatte es ihm genützt?
„Was ist dann geschehen?"
Ihre Neugier drängte sie zu fragen und jede Information aus Maurice herauszuquetschen.

„Einige Zeit später wurde er Mitglied einer Straßengang. Jugendliche seines Alters, die aus ebenso schlechten Verhältnissen stammten wie er. Eine Zeit lang blieb er bei ihnen und lernte professionellen Taschendiebstahl von ihnen. Sie lehrten ihn zu klettern und so zu fliehen, ohne dass er von der Polizei geschnappt wurde. Bis dahin war noch alles gut, doch sie verführten ihn irgendwann dazu Drogen zu nehmen und bald stahl Alec nicht nur, um sich am Leben zu halten. Er tat es, um sich immer mehr Drogen zu kaufen und sein sinnloses Dasein und die Schmach genauso wie seine Alpträume mit diesem Zeug zu vergiften."

Genug! Naomi schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen. Wieso hatte Alec sich das angetan? Also eigentlich wusste sie warum. Nur tat er ihr unglaublich leid.
„Das ist grausam. Wirklich grausam."
Maurice warf erneut einen Blick in den Rückspiegel. War das Sorge in seinen Augen?

„Er war siebzehn, als ich ihn fand. Natürlich versuchte er mich auszurauben und wurde dabei erwischt. Im Nachhinein war ich mir sicher, dass er erwischt werden wollte. Es war eine Art Hilferuf von ihm."
Maurice machte eine Pause und machte ein nachdenkliches Gesicht.

„Ich werde nie diese leeren und verzweifelten Augen vergessen, mit denen er mich damals angesehen hat. Ich hatte Mitleid mit ihm und brachte es nicht übers Herz ihn anzuzeigen. Stattdessen kam ich öfters an den Ort zurück, wo ich ihm das erste Mal begegnet war. Tatsächlich traf ich ihn wieder. Es dauerte lange, bis ich sein Vertrauen gewann. Er war damals wie ein getretener Hund. Doch ich besuchte ihn ständig, brachte ihm Essen und was zum Antiehen mit."

Er schmunzelte über seine Erinnerung.
„Irgendwann hatte ich den Jungen soweit, dass er nicht gleich wieder abhaute. Er kam sogar das ein oder andere Mal zu mir nach Hause. Dann ließ er sich sogar eine warme Mahlzeit geben und genoss meine Gesellschaft, auch wenn er anfangs noch nicht viel mit mir redete. Er brauchte Zeit, um sich zu öffnen."

Naomi hing immer noch gebannt an Maurices Lippen und wartete auf jedes Wort. Auch wenn es in ihrem Brustkorb schmerzte, wollte sie auch noch den Rest hören.

„Ganz selten schlief er sogar bei mir auf der Couch. Wo er die anderen Nächte verbrachte weiß ich nicht. Alec hat nie darüber gesprochen. Doch mir gefiel es ihn umsorgen zu können. Er legte an Gewicht zu, wurde immer munterer und er war absolut wissbegierig. Er las viele meiner Bücher, interessierte sich für allerhand technischen Kram und freute sich ein Loch in den Bauch, als ich ihm eine Lehre bezahlte. Zusätzlich machte er einen Selbstverteidigungskurs, um sich in Zukunft vor Schlägen schützen zu können."

Maurice hielt den Wagen an und stellte den Motor ab. Dann setzte er sich quer auf den Sitz und schaute nach hinten zu Naomi. Er musterte sie einen Moment, dann fuhr er fort:
„Ich war froh ihn aus dieser Drogenhölle befreit zu haben. Doch das einzige, was ich nie aus ihm heraus bekam, war das Stehlen. Also gestatte ich es ihm. Er sollte es nicht heimlich tun und mir damit Sorgen bereiten. Lieber wollte ich auf ihn aufpassen und ihm helfen und so erschufen wir beide den Nachtdieb. Das Volk gab ihm den Namen Night Runner und irgendwie wurde da mehr draus, als nur simples Einbrechen. Alec hat nicht vergessen, wer seine Familie zerstört hatte."

Er hörte auf zu reden und Naomi starrte noch immer in Gedanken bei der Geschichte auf ihre Hände, die zusammengefaltet in ihrem Schoß lagen.
„Es ist zu einer Sucht geworden. Vielleicht hat ihn irgendwann mal der Gedanke an Rache angetrieben, doch heute weiß ich, dass das längst nicht mehr alles ist. Alec braucht das Stehlen, wie andere Luft zum Atmen brauchen", erklärte Maurice und langsam erkannte Naomi, wie seine ernsten Gesichtszüge dahin schmolzen und ehrlicher Fürsorge und Liebe wichen. Ja, Maurice liebte Alec sehr.

Naomi atmete tief ein und wieder aus. Sie hatte das Gefühl eine tonnenschwere Last zu tragen. Doch wie schwer musste es erst für Alec sein.
„Ich würde ihm so gerne helfen", sagte sie traurig aber gewissenhaft.
„Sie sind wohl auch die Einzige, die ihm helfen kann. Mich lässt er nicht an sich heran. Doch Sie sollten es versuchen. Auch wenn ich ihn gebeten habe sich von Ihnen fern zu halten, bereue ich diese Entscheidung zutiefst. Ich habe Alec das Einzige verwehrt, was ihm wirklich etwas bedeutet."

Naomi konnte gar nicht beschreiben, wie viel ihr diese Worte bedeuteten. Maurice redete schließlich von ihr.
„So lange habe ich auf ihn eingeredet und gehofft, er würde endlich von Stehlen loskommen. Dank mir kann er ein halbwegs normales Leben führen, doch bisher gab es nichts, was ihn dauerhaft glücklich machte. Als er damals ankam und meinte er wolle studieren, habe ich ihm kein halbes Jahr gegeben. Doch er hat es durchgezogen. Allerdings wollte ich dieses winzige Stück Hoffnung auf ein besseres Leben nicht aufgeben. Ich habe Sie als eine Gefahr angesehen, Miss Singer. Dabei können nur Sie Alec dabei helfen mit seiner Vergangenheit abzuschließen und endlich vom Stehlen abzulassen."

Maurice sah ihr aufrichtig in die Augen. Er zeigte Reue. Trotz allem, hatte er Alec nie etwas Böses gewünscht. Er hatte ihn stets unterstützt und sich ein normales und sicheres Leben für ihn gewünscht. Naomi war dem alten Mann im Nachhinein sehr dankbar, dass er sich um Alec gekümmert hatte. Wer weiß, was sonst aus dem Straßenjungen geworden wäre.

„Bitte, bringen Sie mich zu Alec!", flehte Naomi und beugte sich vor. „Ich will zu ihm. Also bitte..."
„Wir sind bereits da", sagte Maurice, hielt sein Schmunzeln zurück und deutete Naomi mit einem Kopfnicken an aus dem Fenster zu sehen.
Die Umgebung hatte sich völlig verändert. Sie standen inmitten eines verlassenen und ziemlich heruntergewirtschafteten Industriegebietes. Es schien ein Ausläufer des alten Hafens zu sein.

Vor ihr ragte ein marodes und dreckiges Lagerhaus in den Himmel. Es hatte trotzdem ein paar Fenster, ganz oben unter dem Dach.
„Er wohnt hier?", fragte Naomi ungläubig. Andererseits sollte es sie nicht wundern. Es passte zu Alec. Es war verlassen und abgelegen zur Zivilisation. Das beste Versteck für einen Dieb.
„Nehmen Sie das mit."
Maurice reichte ihr einen rechteckigen schwarzen Kasten von vorne, in den ein kleiner Bildschirm eingearbeitet war. Sah ziemlich nach Marke Eigenbau aus.

„Er hat Fallen aufgestellt, damit er nicht plötzlich Besuch bekommt. Dieses nette Gerät hilft Ihnen sie rechtzeitig zu erkennen und zu umgehen. Nehmen Sie auf keinen Fall den Fahrstuhl, wenn Sie noch etwas leben wollen und Finger weg von irgendwelchen Knöpfen", erklärte Maurice sachlich.
Naomi schluckte bei diesen Informationen. Sie hatte das Gefühl eine Festung zu betreten. Doch was hatte sie anderes von Night Runner zu erwarten.

„Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie das machen, Miss Singer. Lassen Sie sich nicht von ihm verjagen. Er liebt Sie, auch wenn er es abstreitet", meinte Maurice grinsend.
Naomi bedankte sich mit einem Lächeln und öffnete schon die hintere Tür, als Maurice sich noch einmal umdrehte.
„Ach noch etwas...egal was Sie dort drinnen finden...verurteilen Sie ihn nicht."

Natürlich würde sie das nicht. Sie ging nicht zu Alec, um ihn zu tadeln. Anscheinend steckte er mitten in einer Lebenskrise und brauchte jetzt Aufmunterung. Naomi hoffte dem gewachsen zu sein.

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