25. 𝑆𝑜𝑟𝑔𝑒𝑛

Ende November

Dicke graue Wolken bedeckten den Nachmittagshimmel. Die Sonne schickte kaum einen Lichtstrahl auf die Erde. Alles war finster und kalt. Vereinzelte Flocken lösten sich aus dem feuchten Wattekleid und tanzten wie kleine Diamanten vor den klapprigen Holzfenstern.

Naomi nahm die letzte halbwegs für sie tragbare Kiste und trug sie zu Davids Lieferwagen.
Die Stimmung hing in den Seilen. Dass letzte bisschen von Charlies Restaurant war verstaut und landete in irgendeinem Keller, solange bis Charlie ein neues Lokal mieten konnte. Der kaputte Rest würde mit samt den Mauern zerstört werden.
Naomi tat das Herz weh. Ihre Eltern hatten so viel Liebe in das kleine Restaurant gesteckt.

Nun waren drei Leute arbeitslos. Auch Naomi musste sich neben dem Studium etwas dazu verdienen. Deshalb konnte sie vorübergehend bei der Zeitung als Zustellerin aushelfen. Das war nicht die Art, wie sie bei einer Zeitung arbeiten wollte, aber immerhin hatte sie etwas.

Alec kam weiterhin für die Lernstunden. Als Nachhilfe konnte man das kaum bezeichnen.
Was Naomi nur wunderte, war dass er noch immer keinen Penny von ihr gefordert hatte. Vermutlich hatte er eingesehen, dass er mehr herumsaß als Nachhilfe zu geben.
Vielleicht war der Typ doch recht vernünftig.

Naomi genoss die drei Tage in der Woche, an denen er Zeit mit ihr verbrachte. Natürlich achtete er streng darauf, dass sie fleißig arbeitete. Doch manchmal gönnte er ihr eine Pause und lauschte sogar ihrem sinnlosen Geplapper.
Sie befürchtete ihn furchtbar zu langweilen. Wenn es so war, dann zeigte er es nicht.
Trotzdem schien der Junge ein bisschen aufzutauen.

Von Night Runner hörte sie allerdings gar nichts mehr. Seit er ihr die kopierte Akte gebracht hatte, war er in der Versenkung verschwunden. Seine Abwesenheit war wie eine Folter. Noch mehr als ihm nahe zu sein und seine Identität nicht zu kennen. Sie vermisste ihn.

Wen sie überhaupt nicht vermisste, war Fred. Er war ebenfalls verschwunden. An der Uni traf sie ihn nicht mehr und auch sonst nirgends. Er schämte sich vermutlich immer noch. Sollte er bloß. Sein Verhalten war echt daneben gewesen.

„Ein Jammer", seufzte Charlie mit einem letzten bedauernden Blick auf das alte Haus. Ein Stück Lebensgeschichte nahm hier sein Ende.
„Du findest schon wieder einen Job", tröstete Ricko. „Wir alle werden uns wiedersehen. Es ist ja nicht für immer, Boss."
Da hatte er recht. Diesmal hatte die HKS Group vielleicht gewonnen. Doch das würde ihnen nicht wieder gelingen.

„Ich danke euch für die Hilfe und hoffe wir können wirklich bald wieder zusammen finden."
Charlie lächelte zwar, aber seine Augen blieben traurig. Da war nichts mehr von dem trotteligen und gut gelaunten Mann zu sehen. Er war nur noch deprimiert und voller Sorge.

Naomi war so wütend auf diese Leute, die ihm einfach so das Leben zerstörten. Wenn sie nur mehr Macht gehabt hätte. Wenn sie doch schon eine bekannte Reporterin gewesen wäre, dann hätte sie recherchieren können, um Beweise gegen Mr. Higa zu sammeln. Das allein reichte auch nicht. Dann würde man ihr wenigstens auch zuhören.

Die Hoffnung verließ Naomi. Zum Glück war Alec noch da und half ihr beim lernen. Ohne ihn und ihre lieben Freunde, wäre sie vermutlich schon Amok gelaufen.
Auch Diana und Hannes lernten fleißig für die Prüfung im nächsten Jahr. Deshalb hatten sie weniger Zeit mit Naomi zu verbringen.

Es war ein sehr ruhiger Monatsübergang. Der November verabschiedete sich mit seinen dunklen Wolken und wurde vom Dezember mit seinen kleinen weißen Schneeflocken abgelöst.
Charlies Stube gab es nicht mehr. In wenigen Tagen würde das Haus abgerissen werden. Man konnte nichts dagegen machen.

Naomis Stimmung war wie das Wetter: melancholisch und dunkel.
Doch der Professor brachte ein wenig Licht in die düstere Stimmung. Er kündigte eine Abschlussfahrt an. Nur zwei Tage, um die Studenten so kurz vor den Prüfungen nicht zu sehr abzulenken. Doch gerade das war es, was Naomi brauchte, einen kurzfristigen Tapetenwechsel.

Die Fahrt fand kurz vor den Weihnachtsferien statt, am Ende des Semesters.
Es würde die letzte gemeinsame Zeit mit dem gesamten Kurs sein. Danach würde Naomi einige ihrer Kommilitonen nicht so schnell wiedersehen. Deshalb freute sie sich auf den Ausflug.

Charlie wusste immer noch nichts über Higas Polizeiakte. Naomi hatte einfach noch nicht den Mut gehabt, es ihm zu sagen. Erst wollte sie mit Night Runner darüber reden, aber der ließ sich gar nicht mehr blicken.
Was machte der Typ bloß die ganze Zeit? Stehlen tat er jedenfalls nicht, denn auch in den Nachrichten wurde nichts mehr über den Nachtdieb gesagt.

Es war ein finsterer Mittwoch und Alec strich mal wieder ganz schön viele Fehler in ihrem Text an. Naomi sah ihm dabei zu und kaute nervös auf den Fingernägeln.
„Das war schon mal besser Naomi. Du darfst auf keinen Fall die Namen der betroffenen Personen angeben."
„Habe ich doch nicht", widersprach sie.
„Auch nicht die Initialen, die so eindeutig sind, dass jeder weiß auf wen du dich in dem Artikel beziehst."
Naomi seufzte und musste Alec recht geben. Das war wirklich ein dummer Anfängerfehler.

Sie drehte sich mit ihrem Drehstuhl vor dem Schreibtisch und stöhnte genervt.
Alec hatte es sich im Schneidersitz auf ihrem Bett gemütlich gemacht. Der Typ konnte echt lange so sitzen. Eigentlich mussten ihm schon die Gelenke wehtun.

Charlie saugte unten den Flur und sorgte für etwas mehr Ordnung im Haus - das wurde auch mal Zeit.
Deshalb hatten sich Naomi und Alec auf ihr Zimmer zurück gezogen, aber nur mit offener Tür. Darauf hatte Charlie bestanden. Er war wirklich misstrauisch und überbehütend.
Alec verstand ihn aber und hielt brav Abstand zu seiner Kommilitonin.

„Du hast es ja doch gekauft", stellte er mit einem Blick auf ihren Kleiderschrank fest, an dessen Seite auf einem Bügel das rote Cocktailkleid hing.
„Ach ja, ich konnte nicht widerstehen. Ich meine, auch wenn Fred es ausgesucht hat, kann das Kleid nichts für sein blödes Verhalten."

Alec nickte zustimmend.
„Hast du eigentlich mal wieder was von ihm gehört?"
Sie schüttelte den Kopf.
„Verschollen", erklärte sie mit einem Wort, fügte aber noch murmelnd hinzu: „Genau wie noch jemand."
Alec ging zum Glück nicht auf den Satz ein.

„Du solltest das nochmal schreiben."
Alec hielt ihr den Notizblock hin.
„Okay. Ich werde es besser machen. Du musst das später nochmal kontrollieren."
„Naomi das ist wohl vorerst das letzte Mal, dass ich dir helfen kann."
Entsetzt starrte sie ihn an.
„Was? Wieso?"
„Hast du vergessen, dass am Wochenende der Ausflug ist? Danach habe ich leider keine Zeit mehr, dir zu helfen und im neuen Jahr sind schon die ersten Prüfungen."

Naomi wollte schon panisch auf ihn einreden, aber er hielt sie mit einer einzigen Handbewegung auf.
„Du kannst das doch alles. Lernen musst du selbst, Naomi. Du kannst mir jetzt noch eine halbe Stunde lang Fragen stellen, falls du welche hast, dann muss ich los."
Naomi starrte ihn immer noch an. Das konnte er ihr nicht antun. Sie brauchte ihn noch.

Sie überlegte fieberhaft ob da noch irgendwelche Fragen waren. Ihr kam kurz die Idee etwas vorzutäuschen, nur damit er nicht wegging. Sie hatte sogar eine menge Fragen, aber mehr über ihn.
Nach genau dreißig Minuten stand er auf.
„Du brauchst mich nicht mehr, Naomi. Halte dich an die Regeln, lass dich nicht aus der Ruhe bringen, dann schaffst du das auch."

„Du klingst so, als ob wir uns vor der Prüfung nicht mehr sehen."
„Nun ich komme nicht mit auf den Ausflug und danach sind es nur noch wenige Tage an der Uni. Wie gesagt, ich habe keine Zeit mehr zu dir nach Hause zu kommen."
„Wieso kommst du nicht mit?"

Alec war schon auf den Weg nach unten.
„Du weißt, ich bin ein Einzelgänger. Was soll ich denn da? Interessiert sowieso keinen, ob ich da bin oder nicht."
Er klang beinahe wehmütig.
„Doch, mich schon."
Alec hielt bei der Garderobe inne.
Naomi wusste selbst nicht, warum sie das gesagt hatte.

Er drehte sich mit überraschtem Gesichtsausdruck um.
„Warum?"
Musste sie ihm das jetzt echt erklären?
„Ich dachte...wir wären Freunde, Alec."
Er lachte kurz.

„Kann ich dich denn gar nicht überreden?"
Da war es wieder, dieser seltsame Ausdruck in seinen Augen: So lebenserfahren, so gekränkt und gleichzeitig misstrauisch.
„Danke Naomi. Ich weiß deine Freundlichkeit zu schätzen, aber wir sollten nicht befreundet sein."
„Wieso nicht? Gehe ich dir etwa auf die Nerven?"
Wieder ein Lachen von ihm.
„Ich würde lügen, wenn ich nein sage, aber das ist nicht der Grund. Es liegt nicht an dir."

Naomi verstand ihn einfach nicht. Er machte plötzlich auf so geheimnisvoll und sie hasste das. Wenn er sie damit auf Abstand halten wollte, dann funktionierte das nicht.
Sie sah enttäuscht dabei zu, wie er sich Jacke und Schuhe anzog.
„Sei fleißig, Naomi", sagte er und tätschelte ihr den Kopf wie bei einer Neunjährigen.

„Wiedersehen, Mister Singer", rief er zum Abschied und verschwand aus der Haustür.
Charlie konnte gerade noch die Antwort rufen.
Er stellte sich zu seiner Tochter und sah fragend auf die zufallende Holztür.
„Nanu, warum geht er denn heute so früh?"
Naomi zuckte nur mit den Schultern und legte sich die Hand auf den Kopf.

Alec war ihr wirklich ein Rätsel. Er war verschlossen und verletzt, das sah sie ganz deutlich, obwohl er versuchte es zu verbergen. Manchmal war er nett und hilfsbereit und zu anderen Zeiten triezte er sie und behandelte sie wie ein naives kleines Mädchen.

Zugegeben, sie war etwas weltfremd und manchmal hatte sie mehr als nur ein Brett vorm Kopf. Trotzdem wurde Naomi im Januar dreiundzwanzig. Sie war kein kleines Kind. Überhaupt, wie alt war Alec eigentlich, dass er so auf sie herab sehen konnte?

Er sah nicht viel älter aus. Also sollte er sich mal nicht so anstellen.
Trotzdem war Naomi noch viel neugieriger auf ihn geworden. Irgendwie hatte die gemeinsame Zeit sie einander näher gebracht. Alec war nicht so komisch, wie die meisten an der Uni glaubten. Er war einfach nur verschlossen und anscheinend hegte er großes Misstrauen gegen die Menschheit. Was war ihm nur passiert? War er früher vielleicht mal anders gewesen?



~



Ein paar Tage später...

Als Maurice den abgedunkelten Raum betrat, saß Alec schon vor dem Computer. Nanu, das war komisch. Maurice wunderte sich weniger darüber, dass Alec im Dunkeln saß, als darüber wie nachdenklich er aussah. Etwas stimmte nicht.
Maurice ging langsam zum Tisch und bemerkte, dass der Junge gar nicht wirklich auf den Bildschirm schaute. Er wirkte abwesend. Das beunruhigte den alten Mann.

„Warum bist du hier?", fragte er direkt.
Alec atmete einmal laut ein und aus, sah flüchtig zu seinem älteren Partner und dann wieder auf den Bildschirm.
Darauf waren mehrere Bilder geöffnet und auch ein paar Dateien.
Sah ganz so aus, als hätte Alec Nachforschungen angestellt. War das nicht eigentlich seine Arbeit?

„Du siehst so aus, als hättest du abgelaufenen Käse gegessen. Was ist los? Sag schon!", drängte Maurice ungeduldig.
„Warum würde die HKS Group so viel Aufwand betreiben, um ein altes halb vergammeltes Haus abzureißen?", stellte Alec die durchaus berechtigte Frage.
„Ich habe es mir angesehen. Ich war dort, immer wieder, habe aber nichts gefunden."
„Ach das beschäftigt dich."
Maurice nahm sich einen zweiten Stuhl und setzte sich neben den Jungen.

„Ich habe ebenfalls recherchiert. Die HKS Group weiß ihre Geheimnisse zu verbergen. Sie wollen dort nächstes Jahr ein völlig neues Gebäude mit der neusten Sicherheitstechnik bauen. Es soll eines von vielen Zweigstellen dieser Sicherheitsfirma werden."
„Aber dafür gibt es genug andere Grundstücke in der Stadt. Allein im Industriegebiet gibt es gleich fünf große Gebäude, die mir spontan einfallen."

Maurice sah ihn skeptisch an.
„Ja, aber möchtest du die HKS Group zum Nachbarn haben?"
„Ich sprach vom Industriegebiet nicht vom Hafen."
„Der gehört dazu."
„Ich verstehe einfach nicht, warum sie es so eilig haben."
„Vermutlich gibt uns das Haus alleine keine Informationen über den eigentlichen Plan der HKS Group."
„Doch!", beharrte Alec. „Ich übersehe nur etwas dabei."

Frustriert legte er die Stirn in Falten und rutschte auf dem Stuhl runter.
Maurice wartete eine Weile ohne den Blick von ihm abzuwenden. Irgendwann fiel es dem Jungen auf.
Er hob fragend die Augenbrauen.
„Warum kümmert es dich überhaupt? Solltest du nicht mit deiner eigentlichen Arbeit weitermachen?"
„Ich habe Naomi etwas versprochen."
„Nein, Night Runner hat ihr was versprochen und auch nur dass er die HKS Group pleite gehen lässt. Was kümmert dich die Probleme der Singers?"

Ganz unerwartet stand Alec auf und ging ein paar Schritte durch den Raum.
„Du weiß doch genau warum. Ich sehe meine Vergangenheit bei ihnen. Naomi hat schon ihre Mutter wegen diesen Leuten verloren. Soll sie auch noch ihren Vater verlieren? Sie haben sie umgebracht, Maurice."
„Dafür hast du keine Beweise."
„Ich weiß", grummelte Alec und raufte sich angespannt die Haare.

Maurice starrte weiterhin auf den frustrierten jungen Mann, der sich die Arme über den Kopf legte und offenbar sehr beunruhigt war. Maurice konnte ihn verstehen. Seine Sorge um Naomi und ihren Vater war nicht unberechtigt. Doch normalerweise kümmerte sich Night Runner nicht um die Probleme anderer. Er wollte Higa und Kent aufhalten. Vielleicht war das sogar genau der Knackpunkt, um ihnen die Suppe zu versalzen. Gäbe es nur ein paar mehr Hinweise.

Genau danach hatte Night Runner gesucht. All die Jahre hatte er die HKS Group Stück für Stück ausgebeutet und Higa das Leben schwer gemacht. Doch niemals zuvor hatte ihn das so sehr mitgenommen. Maurice fürchtete, er könnte in all dem Chaos untergehen.

„Ist dir deine Rache immer noch so wichtig, Junge?", fragte Maurice ohne nachzudenken.
„Es geht hier nicht nur um meine Rache, alter Mann. Darauf kann ich gerade verzichten, aber ich kann nicht dabei zusehen, wie Naomi alles verliert, was ihr wichtig ist. Ich will nicht, dass sie dasselbe durchmacht wie ich."
„Ich denke...", begann Maurice und stand auf, „...du verstrickst dich immer tiefer in die Sache. Stattdessen könntest du einfach untertauchen und..."
„...weglaufen? Kommt nicht in Frage. Ich werde Naomi helfen."

Alec klang so selbstsicher, so charismatisch und mutig. Maurice wollte auch nicht, dass dem Mädchen etwas zustieß. Doch noch weniger sollte Alec etwas passieren. Maurice gab es nicht oft zu, aber er hatte sich an den Jungen gebunden. Er war zu seiner Familie geworden. Sie gaben immer vor nur Partner zu sein und sich nicht nahe zu stehen, doch das war im Grunde nur eine Lüge. Beide hatten sich schon mehr aufeinander eingelassen, als sie zugeben wollten.

Alec war wie ein Sohn für Maurice. Von Anfang an, seit er ihn als dreckigen, abgemagerten und verzweifelten Straßenjungen kennen gelernt hatte, war er etwas besonderes für Maurice gewesen. Deshalb hatte er sich so um ihn gekümmert, hatte hart um sein Vertrauen gekämpft und letztendlich etwas Großartiges aufgebaut.

Nur sah Alec nicht die Gefahren, die Maurice sehen konnte, wenn das so weiter ging.
Er sollte seinen Abschluss machen, ein Journalist oder sowas werden und sich nicht mehr mit der HKS Group anlegen.
Alles könnte so einfach sein, wenn Alec nur vom Stehlen loskam.

Die drei Monitore leuchteten auf. Sofort sah Maurice auf den Bildschirm und schluckte.
„Wo hattest du gesagt würde dieser Kursausflug hingehen?", meinte er mit einer schlimmen Vorahnung.
Alec kam zu ihm und sah ebenfalls auf die große Karte. Mehrere Punkte leuchteten und bewegten sich über die Straßen.

„Ist das der Peilsender von Naomi?"
Maurice nickte abgelenkt.
„Und das hier ist der von Fred", erklärte er und deutete mit dem Finger auf einen weiteren Punkt, der sich ganz nahe dem von Naomi heran bewegte.
„Dieser Mistkerl!", fluchte Alec und wollte schon hinaus stürmen.
„Warte mal!", rief ihn Maurice zurück. „Du wolltest doch nicht dorthin fahren."

„Ich habe keine andere Wahl. Frederic hat ganz üble Kontakte zur HKS Group geknüpft. Ich weiß noch keine Details, aber nach allem was wir wissen, können wir davon ausgehen, dass er hinter Naomi her ist."
„Beruhige dich, er wird ihr schon nichts antun."
„Ich verlasse mich nicht darauf, Maurice."

„Also was? Willst du nun als Night Runner oder als du selbst dorthin gehen?"
„Ich gehe als ich selbst. Wenn ich in ihrer Nähe bleibe, wird er nichts unternehmen. Vielleicht soll er sie auch nur beobachten. Ich will mir nur nicht später vorwerfen müssen, sie nicht beschützt zu haben."

Damit blieb Maurice alleine in dem kalten Lagerhaus zurück. Wieder fiel sein sorgenvoller Blick auf die blinkenden Pünktchen auf der Landkarte. Sehr bald bewegte sich noch ein Dritter in die selbe Richtung.

Er drückte ein paar Tasten und sah sich das sehr verpixelte Bild einer Verkehrskamera an, die einen kleinen Teil der abgebrannten Stahlfabrik zeigte.
Dort, durch einen aufgeschnittenen Teil des Zauns, schlüpfte eine Gestalt verstohlen durch den Draht und schaute unsicher nach rechts.
Maurice kannte Fred zwar nicht gut, aber gut genug, um ihn auf einer Verkehrskamera wieder zu erkennen.

Das Bild war kurz nach dem Vorfall aus dem Netz gelöscht worden. Auch wieder ein deutlicher Hinweis darauf, dass die HKS Group etwas vertuschen wollte. Wer sonst konnte das veranlassen.
Doch wenn Fred für die HKS Group arbeitete, dann konnte sich Alec warm einpacken.

„Es ist nur eine Nacht", beruhigte sich Maurice selber und stützte seinen Kopf mit dem Arm auf dem Tisch ab. So viel konnte ja in einer Nacht nicht passieren, oder?



~



Naomi holte tief Luft und sog die salzige Luft in sich hinein. Es tat so gut, trotz der Kälte, die Stiefel tief in den schlammigen feuchten Sand zu graben und die Arme auszubreiten. Sie streckte ihre Nase in den Wind und lauschte dem monotonen Schlagen der Wellen.

„Na, spielst du Titanic?", lachte Diana über sie. Sollte sie doch. Naomi war froh, mal Abstand von allem zu bekommen und für zwei Tage alle Sorgen und alle Prüfungen aus ihrem Kopf streichen zu können. Sie würde bei diesem Ausflug neue Energie tanken und viel Spaß mit ihren Freunden haben. Wann würden sie wohl das nächste Mal so zusammen kommen?

Nach dem Studium ging es für jeden in die Arbeitswelt. Zwar waren Diana und Hannes dann nicht aus der Welt, aber es würde anders sein, als jeden Tag zusammen abzuhängen und über die Kommilitonen zu lästern und für süße Jungs zu schwärmen.

Apropos, Naomi hatte in letzter Zeit keinen Einzigen Gedanken mehr an James verschwendet. Seit Alec ihr gesagt hatte, dass er eine Freundin hatte. Ob das stimmte, wusste sie bis heute nicht. Doch welchen Grund hatte Alec sie anzulügen?

Sie zuckte nur mit den Schultern und nahm sich vor nicht länger darüber nachzudenken. Es war eben so. James war nicht mehr das Wichtigste in ihrem Leben. Er hatte sich eh nie für sie interessiert.

Samantha und Tilly rannten jubelnd Richtung Wasser und ließen sich von Finn mit seiner großen Fotokamera einfangen. Das ergab bestimmt ein paar tolle Bilder. Naomi und Diana gesellten sich eine Weile dazu, bis Naomis Magen laut knurrte und sie den Strandweg zurück zur Herberge liefen.

Der Professor hatte sie alle zu viert oder zu zweit auf die Zimmer verteilt und ihnen gleich geraten sich einzurichten, doch Naomi hatte überhaupt keine Lust dazu gehabt. Die Herberge war ziemlich spartanisch gehalten und lud überhaupt nicht dazu ein viel Zeit drinnen zu verbringen. Abgesehen von den relativ gemütlichen Aufenthaltsräumen. Die waren gut beheizt und mit zwar älteren, aber gut erhaltenen Möbeln bestückt. Die Sofas waren sogar bequem.

Nur hatte niemand aus der Truppe große Lust gehabt im Haus herum zu lungern. Außer Simon, der lieber mit seinem Tablet im Internet surfen wollte. Allerdings hatte der Professor ihn dazu gezwungen frische Luft zu schnappen.
Sie hatten eine kleine Wanderung an den Feldern entlang gemacht und waren nach einer Stunde am Strand geendet.

Doch jetzt war es genug. Der Vielfraß in Naomi meldete sich und drängte sie ins Warme zurück. Lachend und aufgeheitert zog Diana ihre Freundin hinter sich her. Dabei lästerte sie vergnügt über Hannes, der sich mal unter die anderen Jungs gemischt hatte.

Dianas Locken hüpften beim Laufen unruhig auf ihren Rücken und ihre braunen Stiefel hinterließen eine kleine Sandspur auf dem asphaltierten Weg. Links und rechts ein paar Dünen, Sträucher und je näher sie der Hütte kamen, desto mehr Bäume waren zu zählen.

Auf dem Parkplatz stand immer noch der Reisebus, mit dem sie angekommen waren.
Naomi hatte überhaupt keinen Blick für ihre Umgebung, bis ein lautes Geräusch an ihr Ohr drang. Ein brummender Motor. Ein Auto, welches die einsame Straße am Rande der grünen Wiesen entlangfuhr.

Blaue Scheinwerfer blendeten sie, obwohl es gar nicht dunkel war.
Ein grauer Sportwagen fuhr auf den Hof, drehte eine kleine Runde über den Parkplatz und hielt genau vor dem Haus an.
Der Motor dröhnte. Der Spoiler reflektierte die schwachen Sonnenstrahlen, die ab und zu durch die Wolken brachen.

„Wow! Heißer Schlitten", staunte Diana neugierig und blieb stehen. Auch Naomi interessierte sich für das heiße Gefährt. Sie war zwar kein Kenner, aber dieser Wagen war nachhaltig frisiert. Vom Spoiler über die tiefer gelegte Karosserie und die getönten Scheiben. Nicht zu vergessen der fette Sound. Was der wohl unter der Haube hatte?

Der Motor ging aus und die Fahrertür öffnete sich. Die Mädchen krallten sich ungeduldig aneinander und fragten sich, wer denn so ein Auto fahren würde.
Als dann aber Alec ausstieg, blieb Naomi die Spucke weg. Der unscheinbare, tollpatschige Alec fuhr so ein Auto? Was hatte sie in ihrem Leben falsch gemacht?

„Sag mal, hat er im Lotto gewonnen?", fragte Diana und tauschte staunende Blicke mit ihrer Freundin.
Naomi zuckte mit den Schultern und war unfähig ihren Mund wieder zu schließen. Der Typ wirkte auf einmal zehn Zentimeter größer - dank der aufrechten Haltung - und mindestens drei Jahre älter. Er hatte sich einen eng anliegenden Rollkragenpulli angezogen und eine schlichte schwarze Hose. Wo waren die weiten und unförmigen Klamotten hin?

Naomi war mehr als irritiert. Nicht nur von seiner ungewohnten Erscheinung. Was machte er hier? Hatte er ihr nicht gesagt er würde nicht mitkommen?
Er schwenkte den Kopf in ihre Richtung, grinste auf einmal und hob grüßend die Hand.

Naomi beeilte sich zu ihm zu kommen. Jeder Schritt brachte ihren Puls mehr durcheinander. Wieso war Alec hier? Und wieso schien sie sich so sehr darüber zu freuen?
Ja sie freute sich. Sie konnte kaum ihr Lächeln überspielen und rannte die letzten Meter sogar.

„Hey Alec, was machst du denn hier?"
Er grinste schief und meinte ganz trocken:
„Naja, eine Freundin wollte mich hier sehen, also wollte ich sie überraschen. Folglich...bin ich hier."
Meinte er etwa sie damit? Naomis Herz schlug Purzelbäume.

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