23. 𝑁𝑎𝑐ℎℎ𝑖𝑙𝑓𝑒
Maurice sah angesäuert auf den Computerbildschirm. Er hatte sich in das Sicherheitsnetzwerk des Modegeschäfts gehackt und spulte die Aufnahme der Überwachungskamera immer wieder zurück.
Er suchte nach einem Fehler, irgendwas das später noch zum Verhängnis werden konnte.
Zum Glück fand er nichts. Er verstand den Jungen einfach nicht. Warum hatte er nur so reagiert? Er war sonst immer ruhig und besonnen. Wieso hatte er sich in dieser einen Sekunde nicht im Griff?
Der alte Mann schüttelte immer wieder seufzend den Kopf. Sein Finger drückte zum wiederholten Male auf die selbe Taste.
Lag es an dem Mädchen oder warum hatte er sich provozieren lassen?
Er hätte sich von Anfang an nicht einmischen dürfen. Ein geschultes Auge würde erkennen, dass er sich nur verstellt hatte.
Die Tür ging auf. Maurice wandte sich in seinem Drehstuhl um und sah den frustrierten und leicht zerzausten Jungen vorwurfsvoll an.
„Warum bist du auf ihn losgegangen?"
„Um meine Tarnung nicht auffliegen zu lassen", meinte er nur und beugte sich an Maurice vorbei, um selbst etwas auf die Tastatur einzutippen.
„Hast du eigentlich den Van gefunden? Ich hatte dich gebeten eine Verbindung zwischen den Schlägern in Charlies Restaurant und der HKS Group zu finden."
„Ich hatte leider keine Zeit mich darum zu kümmern. Ich war viel zu beschäftigt damit dich vor deinem eigenen Stolz zu retten."
Mit diesen Worten haute er nicht gerade sanft auf den malträtierten Rücken seines Schützlings, der sogleich zischte.
„Du solltest dich verstecken und Wilkinson keinen weiteren Grund geben nach dir zu suchen. Warum bist du mit ihnen in die Stadt gegangen?"
Er wollte erneut zuschlagen und der Junge hatte keine Wahl als sich protestierend zurückzuziehen.
„Es war wegen diesem Mädchen, stimmt's? Ihretwegen wärst du beinahe drauf gegangen, du..."
„Schon gut", wehrte der Junge ab und blieb auf Abstand. „Ich weiß ja, das war riskant, aber der Typ ist ein Arschloch. Ich konnte ihn nicht mit Naomi alleine lassen."
„Du lernst auch gar nicht dazu!", schimpfte Maurice erneut und wollte gerade ein weiteres Mal auf den Jungen losgehen. Dann hielt er sich doch zurück. Er durfte keine Gewalt anwenden, so harmlos sie auch war.
Der Junge hatte schon genug Prügel eingesteckt und das nicht nur an diesem Tag.
Eigentlich hätte er diesen Blödmann auseinandernehmen können. Doch das hätte ihn wirklich verraten. Gerade vor Naomi durfte er kein Risiko eingehen. Sie fing langsam an, ihre Schlüsse zu ziehen und würde bald Verdacht schöpfen, wenn sie nicht ganz blöd war.
„Du hast dich bloß aus Eifersucht eingemischt, gib es wenigstens zu. Halt dich fern von Naomi. Sie ist gefährlich für dich."
Mehr sagte Maurice nicht.
Wütend nahm er seinen Gehstock und verließ das Zimmer.
~
Schmollend und gedemütigt lehnte Alec am Holztisch und drückte immer wieder mit dem Daumen gegen seine schmerzende Lippe. Zu gerne hätte er Fred die Leviten gelesen. Doch es war schon riskant genug gewesen auf ihn loszugehen. Andererseits wollte er als Schwächling dastehen und hatte sich mit Absicht verprügeln lassen. Mal abgesehen davon, dass er seinen noch immer schmerzenden Rücken nicht überfordern wollte. Er wusste, wie man hinfiel und sich schlagen ließ, ohne ernsthaften Schaden zu nehmen. Das ist das erste, was man bei der Selbstverteidigung lernt.
Wieder einmal war er wegen Naomi verletzt worden. Es stimmte, er war eifersüchtig gewesen. Doch dabei zusehen, wie dieser schleimige Käfer ihr seine Lippen aufdrückte, konnte er beim besten Willen nicht. Selbst wenn es ihn verraten hätte. Alec hätte nicht zugesehen. Niemals!
Er raufte sich die dichten Haare und zappelte nervös mit dem Fuß.
Es dauerte bloß zehn Minuten, da kam Maurice schon wieder zurück. In seiner Hand hielt er einen Erste-Hilfe Koffer. Der alte Mann konnte einfach nicht lange schmollen.
Er stellte ihn neben Alec und holte zusätzlich die Wundsalbe aus Alecs Jackentasche, die er zuvor in der Apotheke gekauft hatte.
„Zieh das Oberteil aus."
Was denn, erst schlug er auf ihn ein und dann versorgte er die Wunden. Welche Ironie, alter Mann, dachte Alec, war aber zu müde und genervt, um zu streiten. Daher gehorchte er ohne zu murren.
Maurice wartete, bis er den Oberkörper frei gemacht hatte und verteilte anschließend die Salbe auf seinem Rücken.
„Alles grün und blau", murrte Maurice mit einem vorwurfsvollen Unterton.
„Was erwartest du nach einem Sturz von einem Hochhaus? Ich bin nur froh, dass Naomi nichts abbekommen hat."
Sogleich klapste der alte Mann ihm auf seine nackte Haut, doch Alec ließ sich diesmal nichts anmerken.
„Deine Bereitschaft für dieses Mädchen zu sterben ist außerordentlich. Du tätest wirklich gut daran dich von ihr fern zu halten. Du bringst ihr nur Probleme und sie dir gleichermaßen."
„Was hätte ich tun sollen? Sie sterben lassen?", verteidigte er sich.
„Vielleicht."
Alec war schockiert. Das konnte Maurice nicht ernst meinen.
„Ich sorge mich nunmal um dich, Junge, nicht um dieses Mädchen."
Alec zögerte. Nachdem Maurice vorsichtshalber einen Verband um seinen halben Oberkörper gewickelt hatte, sah er den alten Mann schräg von der Seite an und forschte in dessen Gesicht.
„Wäre es denn so falsch, wenn ich mir um dieses Mädchen Sorgen mache?"
„Warum kümmert sie dich auf einmal? Du gehst seit Jahren mit ihr in den selben Kurs und hattest kaum Interesse an ihr. Also warum jetzt?"
Alec überlegte. Er hatte sich das auch schon viele Male gefragt und war immer wieder zur selben Antwort gekommen:
„Weil ich für sie nicht unsichtbar bin."
Maurice runzelte verwirrt die Stirn.
Alec entfernte sich vom Tisch und zog sich wieder sein Shirt über.
„Ganz egal wie sehr ich mich verkrieche oder wie gemein ich zu ihr bin, Naomi nimmt mich immer ernst und akzeptiert mich so wie ich bin. Sie bewundert mich sogar. Sowohl Night Runner als auch den tollpatschigen Alec. Ihre Naivität und Gutgläubigkeit mögen lästig sein, aber sie ist ein guter Mensch und hat es nicht verdient von diesem Blödmann verarscht zu werden. Mit ihrer unreifen Art an die Dinge heran zu gehen, bringt sie sich in Teufelsküche, wenn ich nicht auf sie aufpasse."
Maurice ließ den Kopf hängen, doch Alec konnte ihm einfach keine andere Antwort geben. Es war einfach die Wahrheit.
„Apropos Aufpassen...ich habe den Van wiedergefunden und tatsächlich einen der Männer verfolgen können, die im Restaurant gewesen sind."
„Was?"
Alec drehte sich entsetzt zu Maurice um.
„Wieso hast du vorhin...?"
Alec brachte den Satz nicht zu Ende. Er kannte die Antwort. Maurice lies keine Gelegenheit aus ihn zurechtzuweisen. Alles nur ein Ausdruck seiner Fürsorge, deshalb konnte Alec ihm nicht einmal böse sein.
Maurice ignorierte Alecs Empörung und setzte sich, wie gewohnt, in den breiten Lederstuhl und tippte zweimal auf die Tastatur ein. Alec folgte ihm wie ein Schatten und beugte sich über die breite Schulter des grauhaarigen Mannes.
„Der Kerl nennt sich Christofer Bane und ist ein typische Söldner. Er hat schon ein paar kleinere Vorstrafen und ist dafür bekannt die Drecksarbeit für Kents Unterboss zu machen."
Maurice zeigte ein Foto dieses Unterbosses und Alec verzog das Gesicht.
„Ich kenne den Typ. Sein Name ist Sam. Er war mit uns auf dem Dach und hat Naomi mit einer Waffe bedroht."
„Natürlich kennst du ihn. Er verdangt dir diese Narbe im Gesicht."
Alec nickte nur bei der Erinnerung, wie er Sam bei einem Messerkampf im Gesicht erwischt hatte.
Merkwürdig war nur, dass der Typ offensichtlich auf Higas Seite gewesen war. Wenn er doch einer von Kents Leuten war, warum arbeitete er dann für Higa?
„Über diese Zwei habe ich leider nichts herausgefunden, aber sie gehören sehr wahrscheinlich zu Sams Männern und waren auch an dem Überfall auf Naomi beteiligt.
„Sekunde!"
Maurice hörte auf durch die Bilder zu klicken.
„Ich kenne einen davon. Zwar weiß ich nicht seinen Namen, aber irgendwo habe ich den schonmal gesehen."
Alec dachte nach. Wo zum Teufel hatte er den Mann gesehen? War es nicht bei Mr. Corney gewesen? Er war damals in seinem Haus gewesen und - Alec erinnerte sich plötzlich an noch ein bekanntes Gesicht. Auch Fred war damals dort gewesen. Bei seinem Einbruch damals hatte er eine kurze Szene mitbekommen, wo Fred diesem Unbekannten etwas in die Hand gegeben hatte. Was es war, konnte Alec nicht sagen.
Er bekam Bauchschmerzen. Fred hatte anscheinend wieder ganz schlechten Umgang.
Umso wichtiger war es, dass Naomi sich von ihm fern hielt.
„Das Ganze stinkt gewaltig, Maurice. Irgendetwas ist hier im Gange und ich fürchte die Singers stecken mitten drin."
„Was soll das heißen?"
Alec schüttelte den Kopf.
„Weiß ich noch nicht. Aber du musst mir einen Gefallen tun und über Naomis Familie recherchieren."
Maurice zog eine Augenbraue nach oben.
„Habe ich dir jemals einen Wunsch abschlagen können?"
Dann widmete er sich wieder seinem übergroßen Bildschirm und bearbeitete mit flinken Fingern die Tastatur.
„Und was wirst du tun?", wollte er wissen, als Alec sich entfernte.
„Ich werde auf Naomi aufpassen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass man ihr bald wieder etwas antun könnte."
„Also lässt du mich wieder deine Arbeit machen, ja?"
Alec drehte sich noch einmal grinsend um und sagte mit dem Finger auf ihn deutend: „Du weißt doch, keiner ist besser mit Computern als du, mein Freund. Ich lade dich dafür zum Essen ein, alter Mann."
Damit verschwand er und ließ seinen stets besorgten Partner im Versteck zurück.
Maurice dachte vermutlich Alec habe tiefergehende Gefühle für Naomi und wollte ihn vor einer erneuten Enttäuschung bewahren, doch Alec war nicht so dumm sich jetzt zu verlieben. Er mochte Naomi, keine Frage, aber Liebe war etwas für Idioten. Er hatte keine Zeit für sowas. Trotzdem würde er nicht zulassen, dass sie auf gleiche Weise verletzt wurde wie er. Sie durfte nicht auch alles verlieren, nur weil diese Monster von der HKS Group gerne Blut sahen.
Für eine Sekunde erinnerte er sich an den Kuss und an das Gefühl von Naomis weichen Lippen. Das reichte, um seinen Puls durcheinander zu bringen. Er klopfte sich mehrmals mit der Faust gegen die Brust, als ob das sein verwirrtes Herz beruhigen konnte. Dann schüttelte er die Erinnerung ab und verließ das verstaubte Lagerhaus.
~
Sonntag Nachmittag bei den Singers...
Naomi stürzte ungeduldig die Treppe hinunter in den Flur. Warum beeilte sie sich so?
Sie kam Charlie zuvor, der gerade zur Haustür gehen wollte.
„Schon gut, Papa, ich mach das schon."
Er nickte und ließ sie vorbei. Natürlich hatte Naomi ihn darüber informiert, dass sie mit Alec lernen wollte. Deshalb hatte sie auch schon ihre Bücher ins Wohnzimmer geschleppt. Charlie würde es nicht gutheißen, dass Naomi mit einem ihm völlig fremden Typen für Stunden in ihrem Zimmer verschwinden würde. Daher hatten sie sich darauf geeinigt, dass die beiden im Wohnzimmer lernen würden. Dafür würde Charlie die Beiden ausreichend mit leckeren Sandwisches und Getränken versorgen.
Naomi zog nervös an der Klinke.
Alec steckte wieder in der dunklen Steppjacke und vergrub die Hände in deren Taschen. Hatte er sonst nichts dabei?
„Hi!", grüßte er halbwegs freundlich.
Naomi winkte und erwiederte den Gruß.
„Komm rein!", forderte sie und wartete im Flur, bis Alec sich Jacke und Schuhe ausgezogen hatte. Dann folgte er ihr ins Wohnzimmer und begegnete dort Charlie. Dieser musterte ihn kritisch wie eine unentdeckte Tierart. Er sollte sich mal entspannen, schließlich war Alec nur zum Lernen hier.
„Guten Tag, Sir, freut mich Sie kennen zu lernen", sagte Alec höflich.
Beide Männer gaben sich die Hand und Charlie nickte verhalten.
Naomi grinste über das Verhalten ihres Vaters.
„Freut mich ebenso...Alec...war doch richtig, oder?"
Alec nickte.
„Danke, dass du diesem faulen Küken hilfst sich auf ihr Studium zu konzentrieren. Auf mich hört sie ja nicht."
Charlie meinte mit dem faulen Küken natürlich seine Tochter, die schuldbewusst zur Seite schaute.
„Heißt es nicht faules Ei?", fragte Alec verwirrt.
„Ach beachte ihn einfach nicht", meinte Naomi mit einer abtuenden Handbewegung und gab ihrem Vater zu verstehen, dass er überflüssig war.
Anschließend setzte sich Naomi auf die Couch und erwartete, dass Alec entweder neben ihr oder im Sessel Platz nehmen würde. Dieser machte es sich allerdings auf dem Boden im Schneidersitz gemütlich. Das sah mit seinen langen Beinen etwas skurril und ganz und gar unbequem aus.
„Fang an", forderte er abwartend.
„Womit?"
„Du sollst lernen."
„Und du?"
„Ich lerne nie. Ich helfe dir nur, wenn du etwas nicht verstehst und kontrolliere deine Texte, wenn du das möchtest."
Naomi war erstaunt. Wie konnte man so gute Noten haben, wenn man nie lernte?
„Okaay."
Sie sortierte die Bücher und fing an wichtige Informationen mit einem Marker zu unterstreichen. Tja, lernen musste sie schon selbst. Alec war wohl nur da, damit sie bei der Sache blieb.
Auch gut.
Sie studierte das aufgeschlagene Buch und versuchte Alec gar nicht weiter zu beachten, der sich erst einmal im Raum umsah, kurz Charlie beobachtete, der in der Küche hantierte und dann wieder das Wohnzimmer abscante, als ob gleich ein Monster aus der Wand springen würde. Anschließend nahm er sich eines von Naomis Büchern und vergrub seine allzu gerade geformte Nase darin.
Naomi wunderte sich, dass er nicht einmal ein blaues Auge hatte. Sie hatte eigentlich nicht damit gerechnet, dass Alec sein Wort hielt und sich an einem Sonntag bei ihr auf den gemusterten Wohnzimmerteppich setzte. Nicht nach diesem verkorksten Einkaufsbummel.
„Ist das überhaupt bequem für dich? Wieso lehnst du dich nicht an?", fragte sie doch ein kleines bisschen besorgt.
„Konzentrier' dich auf dein Buch und nicht auf mich", antwortete Alec, wie immer tonlos und ohne die Nase aus dem Buch zu nehmen. Man konnte annehmen, dass der Gute kurzsichtig war, so wie er Bücher las.
Naomi hatte so viele Fragen im Kopf und alle hatten rein gar nichts mit dem Lernstoff zu tun.
Sie legte den Stift nieder und nutzte die Gelegenheit Alec genauer unter die Lupe zu nehmen. Obwohl er vorgab entspannt auf dem Boden zu sitzen, wirkte seine Körperhaltung bis zu den Zehen angespannt. Seine großen Hände zeigten deutliche Spuren eines Handwerks, aber welches?
Sein Pulli war weit geschnitten und hing ihm locker am Oberkörper. Naomi wusste bereits welch ausgezeichnete Figur er darunter versteckte. Er war stets introvertiert und blieb für sich allein. Dabei hatte Alec es absolut nicht nötig sich zu verstecken. Es war Naomi nie aufgefallen, aber aus der Nähe betrachtet wirkte er nicht mehr wie der junge unscheinbare Student aus ihrem Kurs. Er schien älter zu sein, nur wieviel älter? Ein paar Jahre?
„Bist du fertig mit deiner Musterung, Naomi? Sind noch alle Körperteile dran, oder ist was abgefallen?"
Schlagartig sprang ihr das Blut in die Wangen und sie sah blitzschnell auf die halb markierte Buchseite. Wie zum Teufel hatte er das gewusst?
Alec war alles andere als hilfreich. Seine pure Anwesenheit war irritierend. Naomi hasste sich für ihre Neugier.
Leider ertappte Alec sie eine Viertelstunde später erneut dabei, wie sie ihn beobachtete.
Genervt legte er sein Buch neben sich auf den Boden.
„Raus damit! Frag mich einfach was dir schon die ganze Zeit auf der Zunge liegt."
„Ähm...schon gut...", räusperte sie sich verlegen.
„Es lässt dir doch keine Ruhe, also sag's endlich, damit du dich wieder konzentrieren kannst."
„Also gut. Was ist da zwischen dir und Fred?"
Das war zwar nicht, was sie am liebsten gefragt hätte, aber es war eine der wichtigsten Fragen, die sie an ihn hatte.
„Ich habe auf diese Frage gewartet."
„Dann hast du dir sicher schon die passende Antwort überlegt."
War es nur Einbildung, oder versuchte Alec ein leichtes Schmunzeln zu unterdrücken?
Alec wartete noch einen Moment und setze sich dann in den Sessel ihr gegenüber. Doch lehnte er sich immer noch nicht an.
Er beugte sich vor und stützte sich auf die Knie.
„Die Sache ist die: Fred wirft mir vor, ihm seine Freundin ausgespannt zu haben."
Naomi schluckte. Das hatte sie jetzt nicht erwartet. Hieß das, Alec hatte eine Freundin?
„Weißt du, ich kenne Fred schon etwas länger. Eine Zeit lang hatten wir den selben Freundeskreis. Wir waren ein bunter Haufen verrückter Teenager. In unserem Kreis war nur ein einziges Mädchen. Ihr Name war Kelly und folglich war sie für uns alle interessant. Auch für mich. Sie war echt hübsch und ich habe mich sehr gut mit ihr verstanden. Doch als ich sie kennen lernte, war sie mit Fred zusammen."
Er rieb sich unbehaglich die Handflächen. Offensichtlich sprach er nicht gerne darüber, aber sie war froh, dass er endlich mal etwas von sich erzählte. Sie gierte schon fast nach Informationen.
„Nach einiger Zeit gingen die beiden im Streit auseinander und Kelly fing an sich plötzlich für mich zu interessieren. Nach einer Weile wurden wir ein Paar und Fred war total eifersüchtig. Er hatte mir vorgeworfen Kelly schöne Augen gemacht zu haben und so weiter. Dabei war es doch an Kelly gewesen, sich für einen von uns zu entscheiden."
Naomi nickte und hörte gespannt zu.
„Seine Eifersucht war mir ziemlich egal. Ich war nur froh, dass Kelly sich für mich interessierte. So dachte ich jedenfalls damals. Heute weiß ich, dass sie eine verlogene Schlampe war, die uns nur gegeneinander ausgespielt hatte. Derjenige, der ihr das meiste bieten konnte, stand immer am höchsten bei ihr im Kurs. Das merkte ich, als sie mich für den verwöhnten Evan Kent sitzen ließ. Er bot ihr alles; Teure Kleider, Schmuck, führte sie in die elegantesten Restaurants und schenkte ihr sogar ein Auto. Da ich damals nicht viel hatte, war ich prompt abgeschrieben und Kelly hat sich seither nie wieder um mich gekümmert. Wie es mir geht, ob ich noch lebe...das hat sie einen Scheiß interessiert. Doch Fred hat das bis heute nicht geschnallt. Er ist in irgendeinem Loch versunken und hat sich damit getröstet Geld zu scheffeln. Leider auf die falsche Weise."
Alec machte eine Pause und Naomi sah wie sehr ihn das mitgenommen hatte. Doch was nagte mehr an ihm: Der Verlust des Freundes oder seiner Liebe? Trauerte er Kelly noch immer hinterher?
„Sekunde mal...", meinte sie plötzlich und richtete sich auf. „Meinst du etwa die Kelly? Die reiche Kent-Prinzessin, das Model, was andauernd in den Medien ist?"
Er nickte schwach und Naomis Augen weiteten sich.
„Sie hat keine Familie und kommt aus der gleichen Gosse wie ich. Doch heute spricht keiner mehr davon, weil sie sich mit ihrem Aussehen und ihrem perfekten Körper einen Namen gemacht hat."
Aus der Gosse? Naomi war erschrocken darüber, wie viel sie eigentlich nicht von Alec wusste. Anscheinend hatte er eine Menge durchgemacht. Kein Wunder, dass er lieber auf Abstand bleib.
„Blöde Kuh!", schimpfte Naomi auf das Mädchen, das ihm das Herz gebrochen hatte.
Nun lachte er. Ein melodisches und herzerwärmendes Geräusch. Wieso hörte sie dieses Lachen so gerne? Noch schlimmer, sie sah es gern bei ihm.
„Ich habe vor kurzem noch ähnlich gedacht. Heute denke ich, dass sie es ziemlich schwer gehabt hatte und einfach ein besseres Leben haben wollte."
„Dafür hätte sie vermutlich ihre Großmutter verkauft", meinte Naomi bissig.
„Ich kann ihr dafür heute nicht mehr böse sein. Ich freue mich für sie, dass sie jetzt alles hat, was sie sich wünscht. Wobei ich nicht glaube, dass sie diesen verwöhnten Lackaffen wirklich liebt."
Naomis Gedanken spannen schon wieder herum. Wenn Alec Night Runner war - und dafür hatte sie noch überhaupt keinen Beweis - wäre das vielleicht ein Grund für Alec, mit dem Stehlen anzufangen? Wollte er viel Geld haben, um das Mädchen zu beeindrucken? Wäre das Grund genug solch ein gefährliches Leben anzufangen?
„Aber deswegen kann Fred mich nicht leiden. Es nützt auch nichts, ihm das zu erklären. Er lebt in seiner eigenen Welt und glaubt nur das was er will."
Jetzt lehnte Alec sich im Sessel zurück und ließ die Arme rechts und links auf den Lehnen ruhen.
Er sah nicht so aus, als würde ihm irgendwas wehtun und Night Runner würde garantiert Schmerzen haben, nachdem er ihren Sturz vom HKS Tower abgefangen hatte. Entweder Alec war ein begnadeter Schauspieler, oder sie war absolut auf dem Holzweg. Doch wer außer ihm kam noch in Frage?
Es musste jemand sein, der ihr nahe stand. Zumindest jemand, der täglich mit ihr Kontakt hatte.
Alec schnippte mit den Fingern.
„Ey! Träum nicht. Du sollst lernen. Nachdem ich dir deine Frage beantwortet habe, musst du dich jetzt konzentrieren."
„Aber ich habe noch so viele Fragen", protestierte sie quengelnd.
„Ein anderes Mal, Naomi. Vergiss nicht den Grund für meinen Besuch. Du musst dir das erst verdienen."
Sie zog eine Flunsch, hatte ihm aber nichts mehr entgegen zu bringen.
Also studierte sie fleißig das Buch und blendete Alec vollkommen aus. Der Typ war zwischendurch so leise, dass Naomi sich fragte, ob er überhaupt noch da war.
Gegen Sechs Uhr brachte Charlie eine kleine Stärkung und ließ sie dann wieder alleine.
Alec verputzte zwei Schnitten in Rekordzeit. Anscheinend hatte er einen gesunden Appetit. Das konnte Naomi nur sehr gut verstehen. Sie konnte auch ständig essen. Erst recht wenn man mit einem Koch als Vater gesegnet war.
Charlie hatte dieses Mal auch kein Toast verbrannt oder aus Versehen Ingwer in den Saft gemischt. Ob Alec wohl Ingwer mochte? Ihr Wissensdrang war unermüdlich.
„Sag mal atmest du überhaupt?", kicherte sie nach ein paar Minuten, weil er einfach unheimlich still war. Selbst beim Trinken.
„Sonst würde ich wohl kaum leben."
Naomi rollte mit den Augen, angesichts dieser typischen Alec-Antwort.
Zur Strafe ignorierte sie ihn wieder. Er musste sich echt langweilen bei ihr. Er las bereits im zweiten Buch und machte nicht den Eindruck, als würde es ihn wirklich interessieren.
Naomi vertiefte sich in die Materie und machte sich viele Notizen. Sie schrieb einen Probe-Artikel und recherchierte gründlich im Netz. So wie der Professor es ihr geraten hatte. Selbst beim Surfen im Netz, gab es den ein oder anderen Trick.
Die Wanduhr schlug Sieben Uhr und Naomi blickte erschrocken auf. Ein Blick auf Alec verriet ihr, dass er nicht mehr da war. Huch!
Naomi blickte sich um. Charlie saß Zeitung lesend in der Küche, stets auf der Suche nach Immobilien.
„Hey Papa, wo ist denn Alec hin?"
„Hast du das nicht mitbekommen, Schatz? Er ist vor zwanzig Minuten raus."
„Hä?"
Naomi war verwirrt. Er hatte ihr doch genau gegenüber gesessen. Wie konnte sie da nicht bemerken, dass er aufstand und wegging?
„Wieso hat er nichts gesagt?"
„Er hat sich höflich von mir verabschiedet. Der Junge scheint wenigstens Manieren zu haben. Dich wollte er nicht stören. Du warst so vertieft."
Naomi war baff. Da hatte sich der Typ still und heimlich aus dem Staub gemacht. Sie wollte schon über ihn herziehen, da wurde ihr bewusst, dass er seinen Zweck vollkommen erfüllt hatte. Er hatte ihr beim Lernen geholfen. Noch nie hatte sie so konzentriert gearbeitet. Wahrscheinlich war er nur gegangen, weil sie seine Hilfe nicht gebraucht hatte. Sie wäre an seiner Stelle vermutlich auch gegangen. Trotzdem war es verwunderlich, wie leise Alec sein konnte - beinahe auffallend leise.
Was, wenn er doch Night Runner war? Nur ein Dieb schlich so leise durchs Haus. Es musste aus Gewohnheit passiert sein.
Es war total abwegig. Naomi konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Alec nachts über Dächer rannte. Elegant und sicher, wie eine schwarze Katze.
Wenn er es doch war, dann...dann
....oh Gott, dann hatte er sie ja geküsst! Sofort schlug Naomi sich die Hände auf den Mund. Wie konnte er ihr dann so ruhig gegenüber sitzen und so tun als wäre nichts?
„Keine Panik, Naomi, du spinnst dir gerade was zusammen", beruhigte sie sich selbst.
Sie atmete tief durch und rief ihr persönliches Zen zur Ruhe. Sie konnte doch noch gar nicht sagen, dass Alec und Night Runner ein und dieselbe Person waren. Er verhielt sich lediglich verdächtig.
Naomi wollte den guten Alec eine Weile im Auge behalten, bis sie Gewissheit hatte.
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