21. 𝑇𝑖𝑒𝑓𝑒𝑟 𝐹𝑎𝑙𝑙
Higa schmunzelte schon vergnügt, als seine Finger den schwarzen Stoff streiften. Gleich würden alle sehen, wer hinter der Maske steckte. Der berüchtigte Nachtdieb würde ein Gesicht bekommen.
Higas Finger legten sich an den Saum der Maske.
Urplötzlich zog Night Runner den Kopf zurück und entzog sich mit roher Gewalt den viel zu überraschten Bodyguards.
Für eine Sekunde war Naomi erleichtert. Wieso war sie erleichtert? Sie wollte doch auch sehen wer er war.
Der Mann neben ihr wurde wütend. Naomi fürchtete er würde jeden Moment abdrücken, doch wie erwartet hatte er kein Interesse daran sie zu erschiessen. Night Runner hatte es wohl auch nicht erwartet, sonst hätte er sich nicht gewehrt.
Higas Mann wendete den Arm und richtete die Pistole nun auf den Dieb, der sich immer noch gegen Higa und seine Männer durchsetzte.
Wenn er jetzt abdrücken würde...
Naomi wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Sein Finger bewegte sich am Abzug.
Sie reagierte blitzschnell.
Mutig griff sie an seinen Arm und riss ihn nach oben. Der Schuss knallte in die Luft und konnte niemanden verletzen.
Doch das Narbengesicht war viel stärker als Naomi. Wütend schubste er sie zu Seite und sah den Rand des Daches nicht. Naomi rutschte mit dem Fuß ab und ihr Gewicht zog sie nach unten. In letzter Sekunde konnte sie sich noch am Rand festhalten. Leider nur kurz. Sie war zu schwer und ihre Hand drohte abzurutschen.
Eine behandschuhte Hand griff nach ihrem Handgelenk und hielt sie fest. Wie war Night Runner so schnell zu ihr gekommen?
Er sollte das Narbengesicht nicht vergessen, der immer noch hinter ihm stand und jetzt wieder seine Pistole auf Night Runner richtete.
Der Handschuh war rutschig und Naomi konnte sich nicht richtig festhalten. Night Runner hatte seinen Gegner nicht vergessen. Er zückte die zweite Hand aus seiner Jackentasche und drückte ihm einen Elektroschocker in den Bauch, bevor er auch nur daran denken konnte seine Waffe abzufeuern.
Gleichzeitig hielt er Naomi mit nur einer Hand fest. Wie stark war der Junge?
Naomis Hand rutschte immer noch.
„Lass nicht los!", flehte sie ängstlich und sah den stöhnenden Mann gerade noch zu Boden fallen. Die anderen Bodyguards würden auch gleich bei ihnen sein.
Night Runner ächzte angestrengt und schmiss den Schocker weg, um Naomi auch mit der zweiten Hand festhalten zu können.
Doch seine Hände waren viel zu glitschig durch die Lederhandschuhe. Er konnte sie nicht halten. Plötzlich entglitt sie seinem Griff und fiel.
Ihr Schock spiegelte sich in seinen Augen wieder, als die Schwerkraft sie nach unten zog.
Night Runner fackelte nicht eine Sekunde. Entschlossen stieg er auf die hohe Umrandung und sprang kopfüber hinter ihr her - so wie von einem Sprungbrett.
Naomis Haare peitschten ihr ins Gesicht, nahmen ihr teilweise die Sicht, als sie ihn fallen sah und unweigerlich musste sie an James denken - so elegant wie er gesprungen war.
Eine starke Kraft zog sie ununterbrochen nach unten. Die Stadt flog auf sie zu und Night Runner auch. Er nutzte seinen Körper, um schneller zu fallen und erreichte sie nach wenigen Sekunden. Mit seinem Arm griff er um ihre Taille und hielt sie dieses Mal fest umklammert.
Naomi versuchte auch sich irgendwie an ihm festzuhalten. Gar nicht einfach bei all dem rutschigem Leder.
Doch dieses Mal ließ er sie nicht los.
Nur fielen sie immer noch. Die Angst gleich zu sterben blendete alles andere aus. Er war ihr einfach hinterher gesprungen. Nun würden sie beide sterben, dachte Naomi. Dabei gab es noch so viel zu sehen und zu erleben. Ihr Leben war zu kurz. Sie musste doch noch ihren Abschluss machen und eine berühmte Reporterin werden.
Ganz unerwartet stoppte der Fall und Naomi hing halb in Night Runners Arm. Die Füße baumelten über der belebten Hauptstraße.
Sie blickte mutig nach oben und sah, dass er sich an dem übergroßen Banner der HKS Group festhielt, welches außen am verglasten Gebäude befestigt war.
Wie lange konnte er sie beide halten? Naomi wagte nicht zu hoffen. Vor allem, da das Banner zu reißen begann. Panisch krallte sie sich an ihn. Sie hörte sein angestrengtes Atmen und fühlte seine Brust beben.
Sie rutschten einen Meter in die Tiefe.
„Oh Gott!", krächzte sie und bereitete sich auf den nächsten Fall vor.
Doch da bewegte er sich und brachte das Banner leicht zum schwanken. Was sollte das? So würden sie doch erst recht hinunter stürzen.
Er hielt sie ganz fest an sich gedrückt. Sie spürte den festen Griff und dann ließ er das Banner los, während sie zur Seite schwenkten.
Naomi schloss die Augen. Sie wollte ihren Tod nicht sehen.
Sie fielen. Plötzlich drehte er sich im Fall unter sie und Naomi spürte seine Hand an ihrem Hinterkopf. Naomi wusste nicht, wie ihr geschah, bis sie auf etwas hartes krachten. Noch immer hielt er sie und rollte mit ihr über etwas Blechernes, das unter ihnen nachzugeben schien. Dann rollten sie seitlich weg und prallten schmerzhaft auf Beton. Glasscherben klirrten um sie herum und wurden unter dem Gewicht ihrer beiden Körper zu Staub zerdrückt.
~
Sein ganzer Körper sagte ihm, dass er sowas nicht öfter machen sollte. Sein Puls raste immer noch. Er liebte es den freien Fall zu spüren und sich vorzustellen er könnte fliegen. Doch das eben hatte eher was mit Wahnsinn zu tun. Dabei hatte sein Herz nicht aus Angst um sich selbst ausgesetzt. Er war solche Situationen gewöhnt.
Es war das erste Mal, dass er Angst um jemand anders hatte. Er machte sich selbst so heftige Vorwürfe, weil er ihre Hand nicht festhalten konnte. Was wenn sie...?
Er musste ihr einfach hinterher springen und alles versuchen, um sie irgendwie zu retten. Zum Glück machte die HKS Group immer noch so viel Eigenwerbung und zum Glück hatte er noch in letzter Sekunde das Parkhaus gesehen.
Trotzdem würde er das nur mit einem Fallschirm wiederholen.
Mühselig richtete er sich auf und rückte seine Kapuze zurecht, die ihm bei dem Sturz vom Kopf geflogen war. Und wo war seine Kappe?
Naomi lag immer noch unruhig atmend neben ihm und starrte in die Luft.
War sie okay?
Er stand auf und ignorierte seinen schmerzenden Rücken. Hätte das Auto sie nicht aufgefangen, würde er sich wahrscheinlich nicht einmal bewegen können. Die gute Federung eines MGs war den Preis wohl wert. Er sollte sich auch so einen Geländewagen anschaffen.
Er half ihr vorsichtig beim Aufstehen. Sie schien langsam den Schock zu verarbeiten, denn ihre Augen gewannen an Leben. Sie sah ihn an und für einen Moment dachte er seine Tarnung wäre aufgeflogen. Doch das war es nicht, warum Naomi ihn so anstarrte.
Im nächsten Moment haute sie schimpfend mit der Faust auf seine Brust.
„Bist du dumm? Wieso springst du mir einfach hinterher? Du hättest meinetwegen sterben können!"
Night Runner war verwirrt. Er hatte vielleicht mit Dankbarkeit gerechnet oder mit Tränen, aber nicht, dass sie wütend auf ihn einschlug und sich mehr Sorgen um ihn machte, als um sich selbst.
Zumindest zeigte es, dass es ihr gut ging.
„Ich meine...", redete sie weiter und schnappte nach Luft, „...sie hätten dich umbringen können oder dir die Maske abnehmen können. Ich weiß dass du viel Geld für deine Jobs bekommst, aber kein Geld der Welt ist dein Leben wert."
Leider konnte sie jetzt seinen verblüfften Gesichtsausdruck nicht sehen. Er starrte sie überrascht und gleichzeitig fasziniert an. Sie sorgte sich tatsächlich um ihn.
„Ich hätte es mir nie verziehen, wenn du meinetwegen drauf gegangen wärst. Wer bezahlt dir bitte so viel, dass du sowas verrücktes machst? Ehrlich das war..."
Sie merkte selbst, dass sie etwas überreagierte.
„Ich bin dir dankbar, dass du mich nicht hast sterben lassen", murmelte sie auf einmal kleinlaut und er musste sich echt das Lachen verkneifen. Wenn sein Rücken nur nicht so stechen würde.
„Trotzdem darfst du das nicht wieder machen. Dein Leben ist kostbarer als alles Geld der Welt."
Glaubte sie wirklich, dass er es für Geld getan hatte?
Sie verstand ihn absolut falsch. Sie verstand die ganze Situation falsch.
„Du bist so unglaublich", fuhr sie fort, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte. „Ich hatte solche Angst, aber du...du schienst die Ruhe selbst zu sein. Ich hätte nie den Mut gehabt freiwillig von dort oben runter zu springen. Du hast mir schon wieder das Leben gerettet. Ich bat dich zwar um Hilfe, aber das habe ich nicht verlangt. Wer bezahlt dich bitte dafür, so etwas gefährliches zu machen?", quasselte sie in einer Tour.
Wer sollte ihn denn dafür bezahlen? Ihr Vater hatte kein Geld. Zumindest nicht so viel, dass es das Leben seiner Tochter oder das von Night Runner aufwiegen könnte.
„Ich fühle mich so schrecklich. Du hast dein Leben für mich riskiert und ich kann mich nicht einmal revanchieren."
Jetzt hatte er genug. Sie sollte nicht davon ausgehen, dass er irgendeine Gegenleistung dafür erwartete. So amüsant ihre Gedanken auch waren, sie kapierte es einfach nicht. Er konnte nicht mit ihr reden und ihr all die Dinge sagen, die er ihr gerne sagen wollte.
Doch ihre queren Gedanken mussten endlich ein Ende finden.
Also stoppte er ihren nervösen Redefluss, indem er sich den rechten Handschuh auszog und ihr die Fingerspitzen auf den Mund legte. Das wirkte sofort. Ihre Augen wurden groß und sie starrte ihn abwartend an.
Er griff über ihre Schulter und zog ihr die übergroße Kapuze des grünen Parkers ins Gesicht. So tief dass sie sogar ihre Nasenspitze berührte. Hätte sie die Jacke nicht getragen, hätte sie der Sturz aufs Autodach ernsthaft verletzen können. Er war froh, dass sie bei den kalten Temperaturen so eine warme Jacke trug.
Nun konnte sie nichts mehr sehen. Um sich zu vergewissern bewegte er die Hand vor ihrem Gesicht. Als keine Reaktion kam, streifte er sich seine Kapuze vom Kopf und zog die Maske hinunter. Wenn sie jetzt den Kopf hob, würde sie ihn erkennen.
Doch Naomi stand ganz still.
Es war eine Sache von Vertrauen. Doch selbst wenn sie ihn jetzt sehen würde, wäre es ihm vermutlich egal. Sie sollte aufhören so einen Schwachsinn zu denken und es gab nur einen Weg das zu ändern.
Er trat vor und berührte sie an den Schultern. Dann senkte er vorsichtig den Kopf. Sie atmete unruhig, bewegte sich aber nicht. Braves Mädchen, dachte er sich als seine Lippen sich sanft auf ihre legten.
Er hätte nicht gedacht, dass ihn noch etwas mehr erschüttern und aufwühlen könnte als der Fall vom Dach eben. Zu seiner Überraschung sprudelte es in ihm. Seine Brust schmerzte und er hörte seinen eigenen Herzschlag. Dieses Mädchen löste Gefühle in seinem Körper aus, die er schon vor Jahren auf Eis gelegt hatte.
Er bewegte seinen Mund an ihrem, kostete ihre Lippen und hatte das Verlangen nach mehr.
Wenn er etwas stahl, verspürte er oftmals ein ähnliches Kribbeln im Bauch. Nur war dieses Gefühl jetzt hundertmal stärker. Wer bestahl hier eigentlich gerade wen?
Es war nur, um sie zu beruhigen. Es war nur, um ihre merkwürdigen Gedanken zu löschen. Das redete er sich ein, während das Stechen in seiner Brust immer stärker wurde.
Er durfte es nicht beachten. Trotzdem konnte er sich nicht von Naomi losreißen. Was hatte dieses Mädchen nur an sich, dass er seine Regeln brach und seine inneren Mauern zum Einsturz brachte?
So schön dieser Moment auch war, er zwang sich dazu den Kuss zu unterbrechen.
„Es war nicht für Geld", flüsterte er leise an ihr Ohr, bevor er sie losließ.
Sie hob die Hände, um nach ihm zu tasten, doch er wich zurück. Er wartete darauf, dass sie etwas sagte oder sich die Kapuze hoch zog. Doch Naomi schien neben sich zu stehen.
Er fürchtete sie würde gleich aus den Schuhen kippen und im nächsten Moment tat sie es auch.
Rechtzeitig fing er sie auf und hielt sie im Arm. Das war wohl alles etwas viel für sie. Er war es gewohnt, gefährliche Dinge zu tun und er wurde auch mehrmals im Jahr mit dem Tod konfrontiert. Doch Naomi war nicht wie er. Sie war sanft und verletzlich.
Deshalb war es wahrscheinlich ein Fehler sie zu küssen. Er würde sich ihr niemals offenbaren können. Er konnte ihr nicht einmal ein Freund sein. Sein Leben war einfach zu gefährlich für sie.
Ihre Kapuze rutschte hinunter und er sah in ihr entspanntes Gesicht. Es war ein aufregendes Gefühl so ganz unverhüllt bei ihr zu sein. Das würde der erste und letzte Moment sein, in dem er sich so vor ihr zeigen würde.
Er hob sie auf die Arme und schluckte kurz den Schmerz hinunter. Sein Rücken beschwerte sich immer noch. Er würde definitiv nicht mehr so schnell vom HKS Tower springen.
Er war nur heilfroh, dass Naomi nichts passiert war. Es glich einem Wunder, aber sie hatte nicht einen Kratzer.
Dafür waren es ihm die Schmerzen wert.
~
(Einige Zeit später)
Als Naomi wieder zu sich kam, befand sie sich in ihrem Zimmer. Erschöpft richtete sie sich auf ihrem gemütlichen Bett auf. Das Fenster war noch halb geöffnet und es war dunkel im Raum. Wie war sie hier her gekommen? Hatte Night Runner sie nach Hause gebracht?
Er wusste anscheinend nicht nur wie man etwas stiehlt, sondern auch wie man etwas zurückbrachte. Es war etwas beunruhigend, dass er so einfach ins obere Stockwerk einbrechen konnte, ohne dass Charlie es mitbekam. Der Typ war unfassbar.
Sie streifte sich die Haare aus dem Gesicht. Dann erinnerte sie sich an den Sturz und schüttelte sich. Sie tastete ihren Körper ab und stellte mit Erleichterung fest, dass sie nicht verletzt war. Sie bemerkte ein paar blaue Flecken an den Unterarmen, aber das war kaum der Rede wert. Schmerzen hatte sie dort jedenfalls nicht.
Noch etwas anderes ploppte auf einmal ihn ihrer Erinnerung auf. Ihre Hand wanderte an ihre Lippen und sie musste verstohlen grinsen. Gleichzeitig wurde ihr warm und Schmetterlinge tanzten in ihrem Bauch.
Was für ein schöner Kuss das gewesen war.
Hoffentlich hatte sie sich das nicht nur eingebildet. Das Gefühl von seinen warmen und weichen Lippen war noch immer da, aber es wirkte zu unrealistisch. So als ob sie das nur geträumt hatte.
Wieder schlug ihr Herz ganz aufgeregt. Night Runner hatte ihre kleine beschauliche Welt komplett aus den Angeln gehoben. Sie hätte gerne gesagt, dass nur Fliegen schöner war, aber dann hätte sie gelogen. Sie war von einem Tower gefallen, der hunderte von Metern hoch war. Das Gefühl vom Fliegen war beängstigend. Doch Night Runner hatte sie gerettet und er hatte sie geküsst.
Naomi quiekte vergnügt.
Der gestrige Tag glich einer Achterbahnfahrt, doch sie wollte keine Sekunde davon eintauschen. Eigentlich hatte sie Mr. Higa ins Gewissen reden wollen und auf einmal hatte sich alles nur noch um Night Runner gedreht.
Naomi ging ins Bad und schaute in das blasse Gesicht im Spiegel. Wäre sie auch in Gefahr geraten, wenn Night Runner nicht aufgetaucht wäre? Er hatte ihr nur helfen wollen, doch alles war erst eskaliert nachdem er aufgetaucht war.
Das schlechte Gewissen kratzte an ihrem Unterbewusstsein. Sie war dumm und einfältig. Wenn sie nicht zur HKS Group gegangen wäre, dann hätte er sie nicht retten müssen. Anscheinend hatte er die ganze Zeit auf sie aufgepasst. Hatte sie ihn in Gefahr gebracht?
Sie schüttelte ihre negativen Gedanken ab und wusch sich das Gesicht. Sie sollte froh sein überhaupt noch zu atmen. Sie war von einem Hochhaus gefallen. Zwar hatte sie es drauf angelegt, um Night Runner zu beschützen, aber trotzdem musste sie diesen Schreck erst einmal verdauen. Zum Glück war heute Samstag.
Als sie ins Zimmer zurück kam, klingelte ihr Handy. Diana meldete sich und wollte wissen, ob ihre beste Freundin verschollen war.
„Nao was ist los? Du warst gestern so komisch."
„Ach nichts, mir geht nur viel durch den Kopf in letzter Zeit."
„Dafür habe ich die perfekte Lösung."
Sie klang unheimlich aufgeregt.
„Hör zu, wir gehen heute Nachmittag mit Tilly und Samantha shoppen. Du weißt schon, wir brauchen noch Kleider für den Abschlussball."
Naomi war im Moment gar nicht in der Stimmung für Shopping.
„Ich weiß nicht, Nana, ich denke ich passe. Es wäre ungerecht zu einem Abschlussball zu gehen, wenn man die Prüfung nicht besteht. Außerdem ist das noch ewig weit weg. Der Ball findet erst nächstes Jahr statt."
„Ohje, meinst du etwa du schaffst es wieder nicht?"
Naomis Schweigen sprach Bände.
„Mensch Nao, dann hohl dir Hilfe. Wenn du nicht allein lernen kannst, dann mach es mit jemandem zusammen."
„Was ist mit dir?", fragte Naomi hoffnungsvoll.
„Ich bin selber nicht sicher im Stoff. Hannes hilft mir Gott sei Dank. Aber ich könnte dir auch nicht richtig helfen."
Das war ein Problem. Vielleicht sollte Naomi mal mit Simon sprechen oder Finn. Die Beiden waren nett und zudem hatten sie auch noch gute Noten.
Leider hatten weder Simon noch Finn Zeit ihr Nachhilfe zu geben. Sie hatten ihre privaten Angelegenheiten zu klären oder hatten einfach keine Lust.
Also ging Naomi nur sehr frustriert in die Stadt, um ein schönes Abendkleid zu kaufen, anstelle daheim zu büffeln. Sie war sich ziemlich sicher die Prüfung nicht zu bestehen und nahm sich trotzdem vor auf den Ball zu gehen. Es wäre das letzte Mal mit ihren Freunden zusammen. Würden sie erst einmal einen Job haben, würde es schwierig werden den Kontakt zu halten. So galt es für Nao als Abschiedsball. Zudem war es eine gute Gelegenheit ihren nächtlichen Schock zu verdauen.
Nachdem sie ihr Sparschwein geplündert hatte, fuhr sie mit dem Bus in die City und versuchte nicht ganz so deprimiert zu gucken. Ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe sagte ihr aber, dass es nicht wirklich funktionierte.
Der Bus hielt an einer Haltestelle und Naomi lehnte müde den Kopf ans Fenster.
Ihre Augen sahen auf die Menschen, ohne wirklich auf sie zu achten. Der Bus fuhr wieder an. Die Häuser flogen an ihr vorbei und zeigten einen eher traurigen Abklatsch ihrer Gefühlswelt. Es war kalt und grau dort draußen.
Naomi wollte sich mit schönen Gedanken trösten, aber gleichzeitig machten diese sie auch traurig. Obwohl Night Runner sie geküsst hatte, wusste Naomi trotzdem nicht wer er war. Das quälte sie und brachte neue Ängste mit sich. Außerdem vermisste sie ihn schon.
Vor der Fußgängerzone stieg sie aus dem Bus und rückte ihre warme Mütze zurecht. Sie fror etwas und rieb sich die Hände. Vielleicht würde es dieses Jahr noch vor Weihnachten schneien. Sie hoffte darauf, obwohl das ein ziemliches Verkehrschaos mit sich brachte. Doch Naomi mochte Schnee.
Sie schlenderte Richtung Einkaufsmeile und warf hier und da einen Blick in die Schaufenster. Es war Mitte November. Die Leute dekorierten für Weihnachten und fieberten den Festtagen entgegen. Dabei war Naomi noch gar nicht in der Stimmung für Weihnachten und schon gar nicht Neujahr. Sie hatte noch an diesem Jahr zu knacken.
Sie dachte die ganze Zeit an die vergangene Nacht und glaubte noch sich alles eingebildet zu haben, obwohl ihre blauen Flecken etwas anderes sagten. Ach wäre ihre Erinnerung doch nicht so verschwommen.
Doch die Tatsache, dass Charlie sie nicht nach Hause kommen gehört hatte und sie beim Frühstück seltsam ausgefragt hatte, bewies wie wahrhaftig alles war.
Sie hatte sich in Ausreden und stumpfsinnige Erklärungen geflüchtet. Letztendlich hatte Charlie es aufgegeben sie zu löchern. Naomi konnte ihm einfach nicht sagen, dass sie letzte Nacht von einem Hochhaus gefallen und von einem Dieb nach Hause gebracht worden war. Sie verbarg diese Tatsache so gut sie konnte und verdrängte das Gefühl irgendwo hinunter zu stürzen.
Sie dachte lieber an den geheimnisvollen Dieb, der sein Leben für sie riskiert hatte. Er hatte es gemacht, weil ihm etwas an ihr lag, oder nicht?
Doch wie konnte das sein, wenn er sie nicht schon vorher kannte? Es musste jemand sein, der öfters in ihrer Nähe war. Jemand ganz unauffälliges und doch mit Intelligenz und Kraft. Nur wer? Naomi fielen spontan mehrere Leute ein, die sich als ein Nachtdieb verkleiden konnten. Allein aus ihrem Kurs kamen schon mindestens drei in Frage.
Plötzlich stieß sie unsanft mit jemandem zusammen. Völlig in Gedanken hatte sie nicht auf ihre Umgebung geachtet.
Sie stolperte einen Schritt zurück und schaute verdutzt in das blasse Gesicht ihres Kommilitonen, der gerade aus der Apotheke gekommen war.
„Autsch", meinte Alec nur mit ernstem Blick und sah keines Falls überrascht aus sie zu sehen.
Er war komplett in schwarz gekleidet und verbarg seine schwarzen Strähnen unter der Kapuze seiner Steppjacke. Die Hände steckten in den Seitentaschen und seine flachen Sneakers wiesen Spuren von Staub und Feuchtigkeit auf.
Naomi starrte ihn verblüfft an. An ihn hätte sie bei dem Sturz eigentlich auch denken können. Immerhin sprang er ähnlich vom Sprungbrett. Nein, nichts war daran ähnlich. Alec stolperte jedes Mal nur. Schnell schüttelte sie den Gedanken ab.
Es war ein großer Zufall, Alec auf einmal in der Stadt zu begegnen. Was machte er überhaupt hier? Ihr Blick wanderte kurz auf das Ladenschild der Apotheke.
„Also eigentlich entschuldigt man sich, Naomi", wies er sie mürrisch zurecht.
Sie grinste verpeilt und murmelte eine knappe Entschuldigung.
„Was machst du denn hier?", fragte sie anschließend neugierig.
Sie hatte wieder mit einem patzigen „Das geht dich nichts an" gerechnet. Zu ihrer Überraschung antwortete er sofort: „Ich habe nach Arbeit gesucht. Bei meinem alten Job hat man mir gekündigt, weil ich mit Abwesenheit geglänzt habe."
Er klang gleichgültig und Naomi hob die Augenbraue. Der Typ nahm nie etwas besonders ernst.
„Also willst du jetzt in der Apotheke arbeiten?"
„Nur als Lieferant", erklärte er lässig.
Seit wann war Alec denn so offen?
„Und du?"
„Äh...ach ich wollte mich gleich mit Freunden treffen, um für den Abschlussball einzukaufen."
„Jetzt schon?"
„Ja etwas früh, ich weiß, aber ich brauche jetzt etwas Ablenkung."
„Ach ja?"
Seine grauen Augen sahen sie forschend an, gleichzeitig wirkte er nicht sonderlich interessiert, also sparte sich Naomi die Ausreden. Sie konnte ihm sowieso nicht die Wahrheit sagen, warum sie so durcheinander war.
„Weißt du was, du könntest mir einen Gefallen tun und mir beim Lernen helfen, Alec", wechselte sie schnell das Thema.
Er war der perfekte Kandidat dafür. Auch wenn sie ihn nicht sonderlich mochte und er sie ganz offensichtlich auch nicht, er hatte die besten Noten.
Alec lachte spöttisch.
„Bin ich blöd. Ich habe mit meiner Zeit was besseres anzufangen."
Seine Antwort kränkte Naomi, aber sie wollte es ihm nicht zeigen. Warum war er auf einmal so abweisend zu ihr? Früher hat es ihm doch auch nichts ausgemacht ihr zu helfen.
„Komm schon", bettelte sie und setzte ihren Hundeblick auf. „Ich bezahle auch dafür. Das gäbe dir einen Nebenjob und mir die Hilfe, die ich brauche."
Sie musste verrückt sein ausgerechnet Mister Schlecht-Gelaunt-Einzelgänger darum zu bitten.
Alec zögerte. Er sah sie einen langen Moment skeptisch an. Naomi erkannte, wie er mit sich selbst rang. Sie wollte schon enttäuscht die Schultern hängen lassen, als er genervt stöhnte und offensichtlich nachgab.
„Mittwochs, Freitags und Sonntags nach der Uni. Wir machen es bei dir und ich verlange fünfzig Mäuse Minimum. Das ist nicht verhandelbar."
Sie wollte sich schon freuen, als sie skeptisch nachfragte: „Pro Tag?"
„Pro Stunde! Meine Zeit ist kostbar."
Sie schnaubte empört.
„Du spinnst."
„Willst du die Prüfung schaffen?"
Sie nickte schwach.
„Dann Zahl den Preis, oder du kannst dir jemand anderen suchen."
„Du nimmst mich aus", protestierte sie.
Alec zuckte nur gleichgültig mit den Schultern.
Wäre Naomi nicht so verzweifelt, hätte sie ihn einfach stehen gelassen.
Sie starrte ihn mürrisch nieder und zog eine Schnute, als plötzlich jemand ihren Namen rief.
„Naaaooommiiii!"
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