2. 𝐵𝑜̈𝑠𝑒 𝐵𝑟𝑖𝑒𝑓𝑒

„Du musst ihm eine E-Mail schreiben. So nimmt man Kontakt auf", erklärte Simon später, als sich langsam wieder der Kursraum füllte. Simon interessierte sich ebenfalls für den Nachtdieb und wusste erheblich viel über ihn.
„Woher weißt du das?"
„Aus dem Forum."
„Es gibt ein Forum über den Typen?", fragte Naomi erstaunt und lehnte sich mit dem Gesäß an den Tisch hinter sich.

Simon nickte stolz und rückte seine Brille zurecht. Seine mit Wachs zurecht gemachten rötlich braunen Locken vielen ihm nur vorne in die Stirn. An den Seiten hatte er einen modernen Undercut.
„Dort wird viel über Night Runner gemunkelt. Nichts konkretes, aber manche behaupten ihn schon einmal gesehen zu haben."
Naomis Neugier war kaum zu bremsen. Sie hatte absolut das Blut einer Reporterin. Deshalb schrieb sie auch fleißig mit, wenn sie Simon zu Night Runner ausfragte.

„Und dort findet man auch die E-Mail?"
„Ja, doch auf Fanpost und blödsinnige Anfragen bekommst man keine Antwort."
„Und bei ernsten Anfragen?"
„Die einzige Antwort, die man zu erwarten hat, ist: Angenommen. Wenn die Antwort selbst nach vierundzwanzig Stunden ausbleibt, kannst du sicher sein, dass die Mail aus Desinteresse gelöscht wurde."

„Was wäre ein Grund dafür eine Anfrage abzulehnen?"
Naomis Stift kritzelte über das Papier.
„Na wenn der Auftrag nicht machbar ist oder zu wenig bezahlt wird."
Naomi nickte verständnisvoll und merkte nicht wie der Tisch langsam ihrem wenigen Gewicht nachgab und nach hinten rutschte.
Sie war so vertieft in ihrer Schreiberei.
Simon hatte aber auch total viel Spaß daran ihr alles zu erzählen. Er wusste so viel über Night Runner, dass Naomi annehmen konnte er würde es selbst sein.

„Ich würde ihn gerne mal anschreiben, aber vermutlich würde ich keine Antwort bekommen."
„Was würdest du schon von ihm wollen? Soll er irgendwas für dich stehlen?"
Sie schüttelte grinsend ihre strubbelige Mähne.
„Ich will ihn um ein Interview bitten."
Simon prustete vor Lachen. Es war recht unwahrscheinlich, dass sich jemand, der versuchte so unsichtbar wie möglich zu bleiben, auf einmal für ein Interview bereit erklären würde. Naomi hielt es auch für unmöglich. Trotzdem reizte es sie diese E-Mail einmal auszuprobieren.

Plötzlich gab der Tisch gänzlich nach und rutschte quietschend nach hinten. Erschrocken taumelte Naomi und konnte gerade noch ihr Gleichgewicht halten.
Als sie sich umdrehte und in ein paar vorwurfsvolle graue Augen starrte, grinste sie nur verlegen.
„Tut mir leid!", entschuldigte sie sich schnell, als sie sah, wie sich der schwere Tisch in Alecs Bauch drückte.
Mit einem kräftigen Fußtritt schob er den Holztisch wieder an seinen Platz und hielt sich anschließend ein Buch vor die Nase.

Alec war schon ein komischer Geselle. Immer verschlossen und auf Abstand aus. Nur wenn Naomi ihn um Hilfe bat, konnte er mal mehr als ein Brummen hervorbringen und zeigte sich etwas geselliger. Ansonsten war er immer so abweisend. So würde der Typ ewig allein bleiben. Kein Mädchen würdigte ihn eines Blickes.
Er war schon kein besonders attraktiver Typ und mit seinem Verhalten verschreckte er nur jeden in seinem Umfeld.

Doch Naomi kümmerte sich nicht weiter um den schrägen Typen. Viel lieber hörte sie Simon weiter zu. Er war echt genial. Mit seinem Wissen über Night Runner konnte er fast schon Geld verdienen. Nicht einmal die Polizei war so gut informiert.
Naja, an dieser Stelle machte Naomi sich was vor, weil sie so beeindruckt war. Trotzdem konnte so manch einer sich eine Scheibe von Simon abschneiden. Sein Wissensdrang war unermüdlich und er forschte mit solch Akribie und Hingabe.

Leider beendete der Professor die heitere Unterhaltung nach der Pause. Naomi setzte sich auf ihren Stammplatz und lächelte noch kurz zu Diana. Dann konzentrierte sie sich auf den Unterricht.

Als sie nachmittags heim fuhr, sammelten sich am Himmel dicke Wolken. Sie hoffte noch vor dem Regen heim zu kommen.
Gerade als sie an der Bushaltestelle vorbeifuhr, erhaschte sie einen Blick auf James. Der Junge war wie immer gut gekleidet und seine braunen Haare waren top frisiert. Naomi hielt an und genoss den Anblick. Zwar wurde er immer noch von zu vielen Mädchen umringt, jedoch nicht so viele wie am Campus.

Er schaute desinteressiert auf sein Smartphone, was Naomi die Gelegenheit gab ihn weiterhin anzuhimmeln.
Er steckte sich Kopfhörer ins Ohr und blendete seine nervige Umwelt aus. Es musste lästig für ihn sein, ständig umgeben von Mädchen zu sein.

Er hörte bestimmt Hip Hop. Naomi wusste schon lange was seine Lieblingsinterpreten waren. Genauso wie sie seine Lieblingsfarbe Blau kannte und sein Lieblingsessen. Er aß am liebsten Italienisch. Nicht nur Pizza und Nudeln. Nein richtig ausgefallene Sachen mit Garnelen und leckerem Salat. Wenn man so lange für jemanden schwärmt und ihn heimlich beobachtet, findet man solche Sachen heraus. Außerdem wollte Naomi Journalistin werden. Für sie war es einfach an Informationen zu kommen.

„Würdest du bitte nicht den Radweg blockieren?"
Fred stand hinter ihr auf seinem Fahrrad und sah nicht begeistert aus. Wenn er an ihr vorbei wollte, musste er sich mit den Autos auf der stark befahrenen Straße arrangieren.

Auch ihn kannte Naomi schon von der Highschool und er wohnte ganz in ihrer Nähe, weshalb sie früher oft zusammen nach Hause geradelt waren. Er war eine absolute Sportskanone und hoffte auf eine Karriere im Basketball oder Fußball. Deshalb hatte er viele Sportkurse an der HKS Universität belegt. Trockener Unterricht war nichts für ihn.

Der sportliche junge Mann hatte sich praktischer Weise seine bunte Regenjacke schon übergezogen. Naomi hatte heute morgen nicht auf den Wetterbericht geachtet. Sie hatte sich nur für die Nachrichten interessiert und war danach eilig aus dem Haus gelaufen.
Jetzt bekam sie wahrscheinlich die Quittung dafür.
Schnell machte sie Fred Platz und sah auch den Bus hinter sich herankommen.

Nun würde sie eh keinen Blick mehr auf James werfen können und so radelte sie ebenfalls weiter hinter Fred her.
Als Kinder hatten sie noch auf dem selben Spielplatz gespielt. Irgendwann nach der Schule waren sie zu Fremden geworden.

Die ersten Tropfen fielen vom grauen Himmel und Naomi trampelte feste in die Pedalen. Schnell nach Hause. Nur nicht nass werden. Manchmal glaubte sie aus Zucker zu sein. Wenn Naomi eines nicht ausstehen konnte, dann war das Regen. Er hatte absolut nichts Gutes an sich.

Doch es würde im nahenden Herbst noch öfter regnen. Naomi musste sich wieder daran gewöhnen mit dem Bus zu fahren. Das hatte den Vorteil ein paar Minuten länger in James Nähe sein zu können. Nur im Sommer sah Naomi es nicht ein, für zwanzig Minuten mit dem Bus zu fahren, wo sie mit dem Rad nicht einmal über Berge musste. Sie liebte es, draußen an der frischen Luft zu sein.

Sie schaffte es gerade noch vor dem großen Schauer nach Hause. Sogar die Post holte sie noch aus dem Briefkasten.
Ein Brief war sogar mit dem Bekannten HKS Logo versehen. Ob er von der Uni war?
Achtlos riss sie den Umschlag auf, noch bevor sie sich die Schuhe ausgezogen hatte.
„Bin wieder da!", rief sie schnell.
„Hallo Nao!", grüßte ihr Vater zurück.

Die Schuhe wurden nur lieblos abgestreift und die Mütze an den Haken gehängt, dabei fiel sie gleich wieder runter. Naomi bemerkte es nicht und studierte das sorgsam gefaltete Papier.
Sie schluckte als sie den Inhalt verstand.
Sofort eilte Naomi ins Wohnzimmer. Dort hatte Charlie schon den Couchtisch mit Kaffee und Kuchen gedeckt. Sonst freute sich Naomi immer darüber. Doch heute nicht. Mit ernster Miene hielt sie den Brief hoch und fragte: „Was ist das?"

Charlie wurde blass. Offenbar wusste er sofort was der Inhalt dieses Briefes war.
„Papa, sie wollen dir das Restaurant wegnehmen?"
Das klang mehr wie eine Feststellung als eine Frage.
Er nickte schwach und ließ sich auf sein breites Hinterteil sinken.
„Du weißt, dass der HKS Group das Gebäude gehört. In den vergangenen zwei Jahren haben sie schon immer wieder die Miete erhöht. Langsam komme ich mit den Einnahmen nicht hinterher."

Charlies trauriges Gesicht brachte seine Tochter dazu nicht mehr ganz so vorwurfsvoll zu gucken.
„Warum hast du mir denn nichts davon gesagt?"
„Du hast schon genug mit deinem Studium zu tun. Ich wollte dich damit nicht behelligen."
Niedergeschlagen knibbelte Charlie an seinen Fingern und senkte den Blick.

Naomi ließ sich ebenfalls in den grau gemusterten Sessel sinken und rutschte deprimiert immer tiefer. Dabei blieben ihre rötlich blonden Haare an der Lehne kleben.
„Was machen wir, wenn sie uns rauswerfen?"
Charlie gab ihr nicht sofort eine Antwort.
„Irgendwas müssen wir doch tun können? Du hast so viele Jahre in diesem Restaurant gearbeitet und alles hineingesteckt. Du hast sogar seit Mamas Tod auf Urlaub verzichtet. Das können sie dir nicht einfach antun."

„Du kennst die HKS Group nicht. Sie haben Macht und Einfluss im Lande, das kannst du dir nicht vorstellen."
„A-Aber es gibt doch Gesetze zum Mieterschutz."
„Ich weiß. Ich bin bereits mit meinem Anwalt im Gespräch, aber diese Leute haben einfach mehr Macht, als gewöhnliche Leute wie wir. Wenn sie uns dort raus haben wollen, dann finden sie einen Weg über kurz oder lang."

Warum auf einmal? Naomis kleine Welt war nie etwas besonderes gewesen, aber sie schien ihr zu genügen. Sie war glücklich, trotz des Verlustes ihrer Mutter. Sie hatte einen so liebevollen Vater und die besten Freunde auf der Welt. Wieso musste die HKS Group auf einmal alles zerstören? Das Restaurant war Charlies Lebenswerk. Und das ihrer Mutter.

„Sorge dich nicht, Kind. Wir finden schon eine Lösung. Vielleicht kann ich ja noch rechtzeitig umziehen."
Ein Umzug dürfte aber nur in der unmittelbaren Umgebung geschehen, ansonsten würde Charlie zu viele Stammgäste verlieren. Es war immer ein Risiko etwas neues aufzubauen. Es sei denn er fand ein Gebäude in der Nachbarschaft. Doch das war höchst unwahrscheinlich - zumindest innerhalb kürzester Zeit. Laut des Schreibens gab man Charlie nur noch ein paar Monate. Dann würden sie kommen und das Gebäude niederreissen.

Etwas Neues und Modernes sollte entstehen. Keiner interessierte sich heutzutage noch für Altbau. Zugegeben das Haus war schon leicht marode und konnte dringend eine Sanierung gebrauchen. Da war es wahrscheinlich billiger und auch einfacher es abzureißen und neu aufzubauen. Früher war es mal ein schönes Haus gewesen, nun hatte es die besten Zeiten hinter sich.

Naomi legte den Brief auf den Tisch und starrte wütend den leckeren Pflaumenkuchen an.
„Willst du was essen?"
Sie schüttelte den Kopf.
„Mir ist der Appetit vergangen. Ich gehe lernen."
Auch dazu hatte Naomi eigentlich keine Lust. Doch hier herumsitzen und ihrem Vater das Stehaufmännchen vorzuspielen, war auch nicht ihr Ding.

Also verschwand Naomi im ersten Stock in ihrem lilafarbenen Zimmer und fiel sogleich auf die bestickte Tagesdecke auf ihrem Bett. Das hatte Charlie noch für sie gemacht. Naomi konnte sich nicht daran erinnern, heute morgen ihr Bett gemacht zu haben. Er kümmerte sich so lieb um sie, war ihr stets Vater und Mutter zugleich. Wie schaffte er das bei all den Sorgen?

Naomi zückte ihr Handy aus der Hosentasche und rief Diana an. Eine Stunde lang redete sie mit ihrer besten Freundin und suchte Trost bei ihr. Das half zumindest etwas, doch auch Diana konnte dieses Problem nicht weghexen.
Irgendwann rief Charlie aus der Diele, dass er nun ins Restaurant gehen würde. Es war kurz vor Fünf. Naomi wollte sich auch umziehen und helfen.

Meistens verdrängte Naomi Kummer und Ähnliches wenn sie dort arbeitete. Sie liebte es die Gäste zu bedienen. Im Restaurant konnte sie ihr lebhaftes Wesen ausleben, ohne dass es jemand komisch fand. Sie strotzte trotz schlechter Nachrichten vor Energie und zeigte ihr schönstes Lächeln den Gästen gegenüber. Mit den bekannten Stammgästen hielt sie stets ein Pläuschchen und gewann mit ihrer offenen Art neue dazu.

Zwischendurch stellte Charlie ihr einen herrlich duftenden Teller Nudeln auf den kleinen Tisch in der Küche. Seine beiden Köche Ricko und David wuselten tüchtig umher. Das störte Naomi nicht. Sie gönnte sich die kleine Pause. Derweil brachte Charlie das Essen zu Tisch.

Naomi schaufelte sich hungrig die Nudeln in den Mund und sah auf ihr Nachrichtenprofil. Natürlich interessierte sie sich nur für wenige Dinge. Dazu gehörten James, ihre Freunde Diana und Hannes und selbstverständlich die neuesten Gerüchte über einen gewissen Dieb. Night Runner brauchte sich um solche Sachen nicht zu sorgen. Der Junge war teuer und schwamm vermutlich im Geld. Gerade bei seiner Erfolgsquote.

Hannes hatte ihr netter Weise das Bild aus dem Bericht geschickt. Naomi quiekte vergnügt und vergrößerte es. Wenn sie doch nur mehr erkennen würde.
„Schade dass es so unscharf ist", murmelte sie leise.
„Was ist unscharf?", fragte David und hielt schon den Pfeffer in der Hand.
„Willst du es schärfer haben?"
Schnell schüttelte sie ablehnend die Hände.
„Nein, nein. Ich meinte das Bild."
„Ah okay."

David stellte den Pfeffer weg und kam um den Tisch herum.
„Night Runner? Sag nicht du bist auch eine heimliche Bewunderin."
„Warum denn nicht?"
„Du weißt schon, dass der Typ gefährlich ist. Ich hoffe niemand bezahlt ihn jemals, um mich auszurauben."
Naomi lachte.

David gehörte nicht zu den Leuten, die heimlich einen Schatz im Keller hatten. Sie kannte seine kleine Einzimmerwohnung und da sie regelmäßig die Lohnabrechnungen verteilte, kannte sie auch sein Einkommen. Die Wahrscheinlichkeit Night Runners Opfer zu werden, war also relativ gering - wenn er nicht gerade jemanden verärgerte. Night Runner stahl schließlich nicht nur wertvolle Dinge.

„Nao ich könnte deine Hilfe gebrauchen", rief Charlie vorne von der Theke. Sofort war sie auf den Beinen. Es war einer der Tage, an denen das Restaurant gut besucht war. Da konnte Naomi nicht lange faulenzen.
Sie hatte alle Hände voll zu tun und kam erst weit nach Mitternacht nach Hause.

Das konnte sie natürlich nicht jeden Tag machen. Schließlich musste sie auch mal lernen zwischendurch. Doch an solchen Tagen brauchte Charlie ihre Hilfe. Dafür bekam Naomi auch etwas Taschengeld. Nicht viel, weil sie eh schon bei ihm wohnte und zu Essen bekam. Doch er ließ es sich nicht nehmen ihr ein paar Mäuse zuzustecken.

Müde fiel sie ins Bett, streckte ihre schmerzenden Füße aus und zog sich die Decke über die Ohren. Sie wollte nicht an den Brief denken. Heute nicht mehr. Also stellte sich Naomi das hübsche Gesicht von James vor. Er lächelte sie an und streckte die Hand aus. Das würde er vermutlich niemals tun, aber man durfte doch noch träumen, nicht wahr?
Lächelnd und mit den süßesten Träumen schlief sie sehr schnell ein.

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