19. 𝑁𝑎𝑜𝑚𝑖𝑠 𝐻𝑒𝑟𝑧
Es war merkwürdig. Dieses Mal nahm er nicht gleich die Beine in die Hand und er blieb auch nicht auf Abstand. Ihre Hand kribbelte immer noch. Zu ihrer Überraschung waren seine Hände auch nicht rau. Sie waren warm und weich.
„Bitte sag mir: Steckt wirklich die HKS Group hinter den Überfällen auf Charlie und mich?"
Er nickte langsam.
Naomi seufzte und ließ den Kopf hängen.
„Warum? Was ist so besonders an diesem Haus oder dem Grundstück?"
Auch Night Runner konnte ihr darauf keine Antwort geben - zumindest noch nicht.
Naomi war wütend. Diese Leute konnten nicht einfach tun und lassen was sie wollten. Sie vermochten die Behörden zu kontrollieren, aber sie ließ sich nicht einschüchtern. Sie ballte die Fäuste neben ihrem Körper und schaute ihn wieder an.
„Ich werde mit ihnen reden", sagte sie entschlossen.
Er sagte nichts darauf noch regte er sich.
Vermutlich hielt er sie für übergeschnappt.
„Ich werde zu diesem Mr. Higa gehen und ihn direkt fragen. Er soll mir gefälligst eine Antwort geben."
So einfach würde es vermutlich nicht werden. Selbst wenn sie in Higas Nähe gelangen würde, würde er ihr trotzdem keine ehrliche Antwort geben. Doch irgendetwas musste an dem Gebäude nicht stimmen.
Sie blieb dabei. Sie würde diesen mächtigen Leuten schon einheizen. Natürlich war das dumm und impulsiv. Doch wer hat behauptet, dass sie klug war?
Würde Night Runner ihr beistehen? Naomi wartete immer noch auf irgend eine Reaktion von ihm, doch er stand nur da und schaute sie schweigend an.
Auch wenn er sich durch seine Stimme nicht verraten wollte, so konnte er wenigstens ein bisschen Reaktion zeigen. Doch gerade diese geheimnisvolle Art zog Naomi magisch zu ihm hin. Er war etwas ganz besonderes und sie würde gerne mehr über ihn wissen.
Doch dieser Wunsch blieb vorerst unerfüllt. Er senkte das Haupt und zog sich langsam in die Dunkelheit zurück. Sie wollte nicht, dass er ging. Nicht einfach so. Er musste irgendetwas dazu sagen. Andererseits war jedes Wort ein Risiko für ihn. Was sollte er auch sagen? Dass er es bestimmt bescheuert fand, konnte Naomi sich denken.
Kaum war er verschwunden, fühlte sie sich nicht mehr so mutig. Doch was konnte sie schon groß tun, außer das Gespräch mit der HKS Group zu suchen und an die Vernunft zu appellieren?
Alles war kompliziert, wenn man keine Macht hatte. Manchmal beneidete sie Night Runner. Er konnte gehen wohin er wollte, konnte tun was er wollte. Er war frei und er war stark. Niemand machte ihm Vorschriften. Gesetze waren ihm egal.
Währenddessen steckte sie in dieser Misere fest und konnte nichts weiter tun. Dabei wollte sie so gerne etwas tun. Sie sollte ihre Stimme und ihre Ausbildung dazu nutzen Mr. Higa und Mr. Kent in die Enge zu treiben.
Naomi dachte noch die kommenden Tage darüber nach. Zunächst benötigte sie einen Termin. Egal bei wem, Hauptsache sie kam in den HKS Tower in der City. Als wäre er ein Markenzeichen, ragte er über sämtliche Hochhäuser hinweg und bot gleichzeitig erstklassige Sicherheitsmaßnahmen. Das Ding war eine moderne Festung. Sie glaubte, nicht einmal Night Runner würde es schaffen, dort hinein zu kommen.
Genau darüber machte sie sich Sorgen. Alleine würde sie bestimmt nicht den Mut aufbringen mit diesen Leuten zu reden. Doch er hatte ihr nicht gesagt, ob er ihr helfen würde. Er hatte sich einfach zurückgezogen und in den letzten zwei Tagen nicht einmal Kontakt aufgenommen. Was er wohl gerade machte?
Es war Naos Aufgabe das Schwimmbad aufzuräumen und auch den Geräteraum.
Dabei konnte man gut nachdenken und Pläne schmieden. Während ihre Gedanken immer wieder zum Nachtdieb wanderten, schob sie den Wagen mit den Gummimatten am Becken entlang und tat eine nach der anderen dort hinein.
Fast alle waren schon gegangen. Nur Mr. Einzelgänger Alec nicht. Als ob man ihn dazu verdonnert hätte, half er ihr teilweise beim Aufräumen. Er musste wohl einen guten Tag haben. Es war komisch in seiner Nähe zu sein. Seit Tagen hatten sie kein Wort gewechselt und auch jetzt lehnte er jegliche Unterhaltung ab, indem er sich seine gigantischen Kopfhörer aufsetzte.
Würde er gleich wieder in die Sporthalle gehen und tanzen? Naomi würde ihm zu gerne dabei zusehen.
Er fischte ungeschickt die Ketten aus dem Wasser und rollte sie auf. Naomi war dankbar, das nicht machen zu müssen. Obwohl die Ketten nicht schwer waren, es war eine mühselige Arbeit.
„Naaaaaaooooommmmiiii!", rief jemand plötzlich ihren Namen. Naomi drehte sich zu Fred, der langsam vom anderen Ende des Schwimmbeckens zu ihr herüber kam. Er strahlte wie immer fröhlich und winkte ihr zu.
„Fred? Was führt dich denn hier her? Willst du Basketball aufgeben und zu den Schwimmern wechseln?"
Er schüttelte grinsend den Kopf.
„Ach Quatsch. Ich habe dich gesucht und mir gedacht, dass ich dich hier finden würde. Da der Club schon beendet ist, darf ich auch wieder ins Schwimmbad."
„Achso."
Fred ließ kurz seine Augen durch die Halle schweifen, erkannte das halbe Chaos und verzog auf einmal das Gesicht, als er Alec entdeckte.
„Ich dachte du wärst alleine", murmelte er leise.
Warum wollte er, dass sie alleine war?
„Egal, kann ich dir beim Aufräumen helfen? Dann kann Alec Feierabend machen."
Er wollte Alec unbedingt loswerden, aber Naomi war ganz froh, dass er noch da war. Er kümmerte sich zwar nicht um die beiden, trotzdem graute es Naomi davor mit Fred alleine zu sein. Warum wusste sie selbst nicht.
Doch Alec verschwand nicht und damit musste sich Fred abfinden. Er half Naomi dabei die Schwimmhalle zu putzen und das Chaos im Geräteraum zu beseitigen. Dort war offensichtlich eine Bombe explodiert. Warum konnten selbst erwachsene Menschen keine Ordnung halten, fragte sie sich und schüttelte verständnislos den Kopf. Dabei war sie selbst manchmal auch ein kleiner Schlunz.
Fred hockte sich ihr gegenüber und räumte die Gummiringe zusammen, während Naomi die Kegel zusammenpackte.
„Warte mal, ich will mal was ausprobieren", meinte er herausfordernd und deutete ihr an einen Kegel übrig zu lassen. Fred hob den Ring, zielte und warf ihn genau über den Kegel.
Sie applaudierte nur wenig beeindruckt. Das war wohl nicht die eigentliche Aufgabe für die Kegel.
„Super, aber schaffst du das auch von weiter weg?", forderte sie ihn heraus und fand sogar Spaß an dem Unsinn.
„Sicher", prahlte er und startete einen neuen Versuch.
Sie hatten viel zu viel Spaß, dafür dass sie eigentlich aufräumen sollten. Er traf natürlich auch beim zweiten Mal. Seine Reflexe und sein Fingerspitzengefühl waren phänomenal.
„Kann ich dich was fragen, Nao?"
„Klar, schieß los", antwortete sie immer noch lachend und probierte selbst ein paar Würfe.
„Bist du immer noch nach James verrückt?"
Die Frage kam zu plötzlich, deshalb warf sie daneben.
Sie ließ sich einen Moment Zeit mit der Antwort und überlegte.
„Ich finde ihn immer noch toll", gab sie nach einem langen Moment zurück. „Das bleibt wohl noch eine Weile so."
Fred nickte verständnisvoll und räumte weiter auf.
„Aber...", fuhr Naomi fort und er schenkte ihr wieder seine volle Aufmerksamkeit.
Sie wollte ihn nicht anlügen, deshalb musste sie ihm mit offenen Karten entgegen treten. Obwohl sie ahnte, dass er an ihr interessiert war.
„...er ist nicht mehr meine Nummer Eins."
„Tatsächlich. Und wer steht dann bei dir auf dem ersten Platz?", fragte er so beiläufig wie möglich.
„Es gibt da jemand Neues in meinem Leben. Wenn ich es dir sage, lachst du mich bestimmt aus."
Fred schüttelte den Kopf.
„Es ist niemals gut, sich über die Gefühle einer anderen Person lustig zu machen."
Welch reife Antwort von ihm. Ob er das auch so meinte?
„Also...eigentlich weiß ich nicht viel über ihn", meinte sie zögerlich und versuchte dabei nicht wie ein kleines Kind zu grinsen.
„Na sag schon! Wer ist es?"
„Er ist ein Dieb."
Fred starrte sie ungläubig an. Er wusste natürlich von wem sie sprach.
Dann krachte etwas nicht weit von ihnen entfernt. Beide sahen zu Alec, den sie vollkommen ausgeblendet hatten. Wie schaffte er es immer wieder unsichtbar zu werden?
Ihm war der Korb mit sämtlichen Wasserbällen aus den Händen gerutscht, die jetzt schön verteilt über den grauen Vinylboden kullerten. Er grinste verlegen und hob entschuldigend die Hand.
„Sorry, Leute. Kümmert euch gar nicht um mich."
„Das ist ja wieder typisch für ihn", sagte Fred kopfschüttelnd. „Er muss sich ständig in den Mittelpunkt drängen."
Naomi war es etwas peinlich über Night Runner gesprochen zu haben. Ausgerechnet vor Alec und Fred. Jetzt hielten die beiden sie bestimmt für bescheuert.
„Sag mal Nao, kannst du dich denn nicht mal in jemanden verlieben, der erreichbar für dich ist?"
Naomi zuckte mit den Schultern.
„Das Herz sucht sich nicht aus in wen es sich verliebt."
„Was findest du an dem Typ? Er hat dir vielleicht mal die Haut gerettet, aber das heißt noch lange nicht, dass du ihn kennst und ihm vertrauen solltest."
„Aber dir kann sie vertrauen?", fragte Alec, der mittlerweile die Bälle wieder im Korb verstaut hatte und ihn zum Schrank schob. Seine Kopfhörer hatte er sich auch locker um den Hals gehängt.
Fred brachte ihn mit einem mörderischen Blick zum Schweigen.
„Ich meine es ernst, Nao", sagte er wieder zu ihr und wirkte dabei unglaublich ernst. „Ich mag dich. Seit einer ganzen Weile schon dreht sich meine Welt nur um dich. Ich hoffe du kannst das endlich anerkennen."
Naomis Augen wurden groß. Sie war sprachlos aufgrund dieses offenen Geständnisses.
„Anstelle diesen Taugenichtsen nachzulaufen solltest du mich sehen. Ich gebe dir alles, was du von ihnen nicht bekommst."
Sie wusste nichts darauf zu sagen. Sie hatte es ja schon geahnt, doch seine direkte Art überrumpelte sie jetzt doch.
„Ich glaub's nicht", sagte jemand von der Tür aus.
Naomi sah Simon dort stehen, der gerade die Kiste mit kleinen Surfbrettern brachte.
„Du glaubst wohl, sie ist so dumm sich mit einem Blödmann wie dir abzugeben", motzte er gleich drauf los.
Hatte sie etwas nicht mitbekommen? War Simon etwa eifersüchtig?
„Wer ist hier der Blödmann, Brillenschlange?", konterte Fred und baute sich vor Simon auf. Er war ein ganzes Stück größer und kräftiger als der eher schmächtige Simon. Dieser rümpfte die Nase und stellte die Kiste ab. Dann rückte er mit einem Finger seine kantige rote Brille zurecht und stellte sich Fred entgegen.
„Sie hat was besseres als dich verdient."
So ging das hin und her. Die Beiden stritten sich tatsächlich um sie und Naomi konnte nur fassungslos dabei zusehen, solange bis sie ein leises Lachen aus der Ecke hörte.
Ihr Blick wanderte zu Alec, der sich mit verschränkten Armen gemütlich an die Wand lehnte und sich königlich über das Schauspiel amüsierte.
Es war das erste Mal, dass sie ihn derart lachen hörte. Dieses monotone aber anziehende Geräusch gab ihr eine Gänsehaut.
Selbst die beiden Streithähne waren irritiert.
„Du halt mal schön die Klappe, Alec."
„Ich sag doch gar nichts. Ich finde euch beide nur ziemlich blöd. Sie hat doch vorhin gesagt, dass sie was für Night Runner übrig hat, also warum streitet ihr euch noch?"
Mit anderen Worten wollte er ihnen sagen, dass sie eh keine Chance hatten.
Immer noch breit grinsend machte er sich wieder ans Aufräumen. Naomi tat es ihm gleich und ignorierte Simon und Fred, die sich langsam wieder beruhigten. Simon brachte die Kiste unter und verschwand schnaubend dort wo er hergekommen war. Warum war er überhaupt aufgetaucht?
Fred hingegen half auch wieder beim Aufräumen, allerdings sagte er nichts mehr. Naomi war erleichtert, ihm nicht sofort eine Antwort geben zu müssen. Bevor die Situation noch unangenehmer wurde, zog er es wohl vor zu schweigen.
Nachdem alles ordentlich war, gingen alle nach Hause. Fred begleitete Naomi wie so oft. Er hoffte wahrscheinlich auf eine rasche Antwort von ihr. Dabei wusste Naomi überhaupt nicht, was sie ihm sagen sollte. Er war ihr irgendwie fremd geworden. Die kurze Zeit, in der ihre Freundschaft wieder auflebte, konnte man kaum ernst nehmen. Fred war ein guter Junge, doch Naomi konnte nicht behaupten Herzklopfen in seiner Nähe zu bekommen. So wie bei James und...und bei Night Runner. Wenn man jahrelang in jemanden verliebt ist, weiß man, wie es sich anfühlt jemanden zu mögen.
Außerdem hatte sie dafür momentan keinen Kopf. Sie musste endlich über James hinweg kommen und irgendwie ihrem Vater helfen.
Fred verabschiedete sich etwas verhalten an dem Tag und verschwand zügig hinter der nächsten Ecke. Naomi ging heim und machte für Charlie und sich etwas zu Essen. Anschließend ging sie auf ihr Zimmer und holte die unsichtbare Nachricht von Night Runner aus der Schublade ihres Schreibtisches. Sie huschte ins Bad und hielt eine Weile den Fön auf das Papier. Sie hatte gerade keine Kerze zur Hand und es unter die warme Lampe zu halten dauerte ihr zu lange. Ein hoch auf die moderne Technik.
Schon nach kurzer Zeit tauchten unförmige Linien auf dem hellen Hintergrund auf. Verblüfft starrte sie darauf und wartete bis sie einen Sinn ergaben.
„Ich werde herausfinden warum die HKS Group Charlie bedroht. Bleib geduldig und stell nichts Dummes an", las sie leise. Tja, das mit dem nichts Dummes anstellen war zu spät. Sie hatte versucht Night Runner nachzuspionieren und sie wollte in die Höhle des Löwen gehen. Viel dümmer ging es nicht. Naomi legte das Papier zurück in den Umschlag und diesen versteckte sie wieder in der Schreibtischschublade.
Sie bereute es, dem Mädchen nachgegangen zu sein. Sie sollte Night Runner nicht bedrängen, sondern ihm vertrauen. Er riskierte viel dabei ihr zu helfen und das ohne Geld dafür zu bekommen. Naomi sah an die leere Stelle an ihrem Finger, wo zuvor noch der silberne Ring geglänzt hatte. Kaum ein angemessener Preis.
Es klopfte an die Tür und zwei Sekunden später schob Charlie seinen Kopf zur Tür hinein.
„Hey Schatz, bist du am lernen?"
Naomi schüttelte reumütig den Kopf. Sie musste wirklich was für die Uni tun.
„Ich werde noch etwas im Restaurant aufräumen."
„Soll ich dir helfen?"
„Brauchst du nicht, ich bleibe nicht lange, da es schon spät ist."
„Pass bitte auf dich auf, Papa."
Er nickte und ließ sie wieder alleine.
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