18. 𝐺𝑒ℎ𝑒𝑖𝑚𝑛𝑖𝑠𝑠𝑣𝑜𝑙𝑙

Als Naomi die ruhige Straße der Vorstadtsiedlung entlanglief, spürte sie die Aufregung in sich. Genau wie zuvor, als sie ihn hatte übers Dach laufen sehen, fühlte sie sich innerlich nervös. Er war schon besonders. Warum bewunderte sie ihn so sehr? Er war ein Verbrecher und kein Volksheld. Doch vielleicht, nur vielleicht, könnte er zu ihrem ganz persönlichen Held werden.

Sie stoppte an der Ampel und grinste in sich hinein.
Sie blickte aufgeregt in die Gegend und entdeckte plötzlich ein bekanntes Gesicht. Fred lief schnellen Schrittes auf der anderen Straßenseite. Er sah sie nicht. Warum guckte er nur so ernst? Er blickte andauernd hinter sich, als ob ihn jemand verfolgen würde. Doch da war niemand. Naomi kam das sehr seltsam vor. Die Ampel schlug auf grün um und sie beeilte sich ihm nachzulaufen.

Doch als sie den Gehweg erreichte, war von Fred nichts mehr zu sehen. Er war einfach verschwunden. Da waren nur ein paar andere Passanten, aber kein Fred.
Naomi schüttelte verwirrt den Kopf und ging ihres Weges. Sie nahm den Bus in die Stadt und kam eine halb Stunde später beim Hotel De Luna an.
Die Lobby war riesig. Überall hingen funkelnde Kronleuchter und die Möbel waren mit feinstem Samt überzogen. Sie wollte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wieviel eine Nacht in dem Hotel kosten würde.

An der Rezeption begrüßte sie eine junge Frau mit strengen Zopf und einem so eng sitzendem Kostüm, dass sie darin unmöglich atmen konnte.
„Willkommen Miss, kann ich Ihnen weiterhelfen?"
„Ja. Mein Name ist Naomi Singer. Hat vielleicht jemand eine Nachricht für mich hinterlassen?"
Die Dame schaute nach und verschwand kurz. Als sie zurückkam, hielt sie einen großen Umschlag in den Händen.

„Hat das ein Gast hinterlegt?"
Sie nickte ohne etwas zu sagen.
„Was für ein Gast? War es ein Mann oder eine Frau?"
Sie guckte Naomi irritiert an. Eigentlich sollte der Empfänger wissen, von wem er eine Nachricht bekam. Doch in diesem Fall ging es ja um einen Dieb.
„Tut mir leid, ich darf Ihnen keine Informationen über unsere Gäste geben."

Enttäuscht nahm Naomi den Umschlag und entfernte sich von der Rezeption.
Sie setzte sich in eine leere Sitzecke und öffnete den Umschlag.
Darin befand sich ein leeres Blatt Papier. Naomi guckte erneut in den Umschlag. Nein, außer dem leeren Zettel befand sich dort nichts mehr. War das ein Missverständnis? Hatte man ihr versehentlich den falschen Umschlag gegeben?  Sie ging wieder nach Hause und schmiss den halb offenen Umschlag auf ihren Schreibtisch. Das war ein sehr komischer Tag. Erst sah sie Fred, der sich so seltsam verhielt und dann diese komische Nachricht.

Was wollte ihr Night Runner bloß mitteilen? Wenn es eine verschlüsselte Nachricht war, dann sollte er ihr doch wenigstens einen Hinweis darauf geben, wie sie das lösen konnte. Sie sprach sich selbst Mut zu. Immerhin wollte sie Journalistin werden. Wenn sie nicht einmal so etwas lösen konnte, würde sie ihren Job wohl aufgeben müssen.

Sie nahm erneut den Zettel aus dem Umschlag und untersuchte ihn genauer. Sie befeuchtete das Papier und hielt es nahe an die Schreibtischlampe, doch er enthüllte sein Geheimnis nicht. Naomi wusste nicht weiter. Also packte sie den Umschlag zusammen und ging zurück zum Hotel. Es konnte sich nur um ein Missverständnis handeln.

Wieder lächelte die Dame an der Rezeption freundlich und versicherte ihr, das nicht viele Nachrichten hinterlassen wurden und ein Irrtum ausgeschlossen war.
„Wer hat das hinterlassen? Wieso steht nichts auf dem Papier?"
„Tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen."
Die Dame war verschwiegen. So würde Naomi nicht an Informationen gelangen.

Sie schimpfte innerlich auf den Nachtdieb. Warum nur gab er ihr ein leeres Blatt Papier?
Was hatte er vor?
Naomi drehte sich wieder zu der lächelnden Dame um.
„Sie wissen doch wer das hinterlassen hat."
Sie nickte.
„Kann ich dann ebenfalls eine Nachricht hinterlassen?"
Wieder ein Nicken von ihr. Naomi bat sie um einen weiteren Zettel und einen Stift.

Ich verstehe deine Nachricht nicht

Schrieb sie gut leserlich auf das Papier und übergab ihn der Dame. Sie versicherte ihr, die Nachricht sicher zu verwahren und an den Absender zu übergeben.
Naomi bedankte sich und suchte Abstand. Sie blieb außer Sichtweite der Rezeption, aber so nahe dran, dass sie selbst alles gut überblicken konnte. Dort setzte sie sich auf einen bequemen Sessel und wartete. Sie beobachtete, wie die Dame den Hörer in die Hand nahm und jemanden anrief. Natürlich konnte Naomi sie nicht verstehen, aber das bedeutete, das bald jemand auftauchen würde.

Vielleicht würde sich Night Runner sogar persönlich zeigen. Natürlich nicht mit Maske.
Naomi wartete eine Ewigkeit. Charlie fragte sich bestimmt, ob sie verschollen war. Nach all den Angriffen sollte sie nicht so lange draußen bleiben, doch hier im Hotel würde ihr schon keiner was tun.
Sie war kurz davor einzunicken, als ein junges Mädchen die Lobby betrat und zielstrebig auf die Rezeption zuging. Es waren schon ein paar Leute mit der Dame in Kontakt gekommen, aber niemandem hatte sie Naomis Nachricht übergeben. Ausgerechnet diesem jungen Mädchen drückte sie letztendlich den Zettel in die Hand.

Naomi setzte sich kerzengerade auf und wagte einen genaueren Blick. Sie war höchstens ein Teenager. Sie hatte unauffällige Kleidung an und wirkte nicht wie ein Nachdieb. Naomi war sich auch ganz sicher, dass Night Runner ein Mann war. Doch warum kam das Mädchen her? Arbeitete sie für ihn? Oder hatte sie eine engere Verbindung zu ihm?

Sie steckte der Dame an der Rezeption einen Geldschein in die Hand, ließ den Zettel in ihrer Jeanstasche verschwinden und verließ dann das Hotel wieder. Sie war also kein Gast und suchte auch keinen auf.

Naomi folgte ihr mit großem Abstand. Wenn sie Glück hatte würde das Mädchen sie direkt zu Night Runner führen.
Mit klopfendem Herzen lief sie ihr nach. Draußen wurde es dunkel. Die stark befahrenen Straßen waren laut. Es roch nach Abgasen und von den Imbissständen wehte ein starker Curry-Geruch herüber. Naomi hatte Hunger, aber das Mädchen blieb nicht stehen. Sie musste ihr weiter folgen. Unterwegs traf sie einen Bekannten in ungefähr ihrem Alter. Doch nach zwei Sätzen ging sie schon weiter. Ihm hatte sie die Nachricht nicht gegeben.

Sie stieg zwei Straßen weiter in einen Bus ein und fuhr stadtauswärts. Erst nach fünfzehn Minuten verließ sie den Bus wieder und lief Richtung Hafen. Dort war nichts außer maroden Industriegebäuden und leere Lagerhallen. Also wenn sich hier ein Dieb verstecken würde, konnte Naomi das gut nachvollziehen. Dort war es einsam und dunkel, eigentlich kein Ort für ein junges Mädchen. Doch sie schien keine Angst zu haben. Mutig bog sie um die Ecke und trat schnellen Schrittes voran. Vor einem alten Lagerhaus blieb sie stehen. Dort stand ein rostiger roter Briefkasten. An dem Gebäude gab es keinerlei Spuren auf Lebewesen. Also dort lebte Night Runner bestimmt nicht.

Das dunkelhaarige Mädchen blickte sich prüfend um und Naomi versteckte sich schnell hinter einem Lastwagen. Der schien auch schon länger abgestellt zu sein. Sie sah, wie das Mädchen Naomis Zettel hervor holte und ihn in den Briefkasten steckte. Dabei sah sie sich wieder nervös um.

Anschließend ging sie weg. Naomi überlegte, ob sie warten oder ihr folgen sollte. Nein, sie hatte keine Lust mehr zu warten. Es konnten wieder Stunden vergehen, bis jemand kam und die Wahrscheinlichkeit, dass es Night Runner war, war relativ gering.
Kurzum folgte sie wieder dem Mädchen, die auf einem anderen Weg zu Stadt zurück ging.

Naomi musste sich dieses Mal etwas beeilen, sie ging plötzlich viel schneller. Hatte das Mädchen sie bemerkt?
Naomi beschloss sich zu offenbaren. Sie musste sie einfach ansprechen und sie befragen.
„Hey!"
Naomi kam gar nicht dazu mehr zu fragen. Das Mädchen rannte plötzlich weg.
„Shit!", fluchte Naomi und rannte hinterher. Sie hätte damit rechnen müssen.

„Warte doch!"
Als ob sie darauf hören würde.
Naomi lief hinter ihr her über die schwach beleuchtete Straße. Das Mädchen hoffte ihre Verfolgerin zwischen den ganzen Containern und den dunklen Gebäuden abzuhängen. Hier am Hafen konnte man sich unheimlich gut verstecken.

Für einen Moment verlor Naomi sie aus den Augen. Sie hörte auf zu rennen und lauschte auf ein Geräusch. Es war totenstill. Sie sah ihren eigenen Atem vor sich, aber sie fror, dank das kleinen Sprints nicht.
„Ich will nur kurz mit dir reden", sagte sie und hoffte, das Mädchen könnte sie hören. „Du hast meine Nachricht für unseren gemeinsamen Freund abgeholt. Weißt du, wer er ist? Kannst du mir sagen, wo ich ihn finde? In dem Schrotthaufen wohl nicht."
Naomi lachte unsicher.

Natürlich würde sie nicht so einfach herausfinden wo Night Runner wohnte. Dazu war er viel zu vorsichtig. Auch wenn sie selbst ihn nicht verraten wollte, würde sie es nicht so einfach herausfinden.
„Geh weg!", rief eine helle Stimme aus der Dunkelheit. Naomi schätzte die Richtung und schlich voran.

„Bezahlt er dich dafür? Macht er das mit den Nachrichten immer so mit seinen Klienten?"
„Sie haben doch gar keine Ahnung worauf Sie sich einlassen."
„Das mag sein", gab Naomi zu und ging so leise wie möglich weiter. Durch das Gespräch hoffte sie das Mädchen zu finden.
„Hör zu, ich gebe dir auch Geld, wenn du mir Informationen gibst."
„Das können Sie vergessen", schimpfte sie und Naomi glaubte sie in einem der Container zu finden.

Sie schlich noch ein paar Schritte weiter, antwortete absichtlich nicht und riss an der Containertür. Fehlanzeige. In diesem war sie nicht. Auf zum nächsten.
„Du scheinst ihm loyal zu sein, oder bezahlt er dir so viel?"
„Pft! Viel? Er hat Unmengen an Kohle. Ich sehe nicht einmal ein Prozent davon."
Hatte sie ihr Versteck gewechselt? Wo zur Hölle steckte sie nur?
„Sie könnten dafür echt Ärger bekommen. Gehen Sie weg!"
Naomi dachte gar nicht daran wegzugehen. Sie war kurz davor das Mädchen zu finden, da war sie sich ganz sicher.

Sie blickte in jede Nische, jede dunkle Ecke. Dann blieb sie stehen und überlegte. Egal wo sie auch immer gewesen war, die Stimme war niemals näher oder weiter entfernt gewesen. Das konnte nur eines bedeuten...
Naomi sah nach oben. Über ihr war ein orangefarbener Kran. Naomi wusste nicht, wie sie dort hoch gekommen war, aber anscheinend konnte sie gut klettern. Fast so gut wie Night Runner.
„Da bist du ja."

„Mist!", fluchte sie enttäuscht und verzog das Gesicht.
„Komm runter, ich tu dir nichts."
„Aber ich dir vielleicht", warnte das Mädchen schnippisch. Auf einmal war ihr die höfliche Anrede egal.
Naomi schüttelte lächelnd den Kopf.
„Also ich habe Zeit, wie sieht's bei dir aus?"
Das Argument brachte das Mädchen letztendlich doch dazu wiederwillig nach unten zu klettern. Mit sicherem Abstand blieb sie Naomi gegenüber stehen.

Diese war schon froh, dass sie nicht wieder weglief. Sie hatte keine Lust mehr zu rennen. Sicherheitshalber positionierte sie sich so, dass eine Flucht für das Mädchen schwieriger wäre.
„Schön dass du doch noch herunter gekommen bist."
„Was willst du denn?"
„Ich will wissen, wer Night Runner ist."

Sie lachte spöttisch.
„Das wüsste ich auch gerne. Selbst wenn ich es wüsste, würde ich es nicht sagen."
„Du weißt es nicht, obwohl du für ihn arbeitest?"
„Ich bin bloß sein Botenmädchen. Dafür bekomme ich gutes Geld. Doch wir sind keine Freunde oder sowas. Das hat er nie zugelassen."

Naomi nickte verständnisvoll.
„Und was hat es mit dem Briefkasten auf sich?"
„Glaub ja nicht, dass das seine Adresse ist. Ich tu bloß die Nachrichten dort hinein. Ich habe keine Ahnung wo sein Versteck ist."
So bedauerlich es auch war, Naomi glaubte ihr. Er wäre nicht seit Jahren ein erfolgreicher Dieb, wenn er leichtfertig seine Adresse hinterlassen würde.
„Tut mir leid. Ich wollte dir nichts. Es war ein Versuch wert."
Das Mädchen sah sie nur grimmig an.

„War das alles?", fragte sie gereizt und kämmte sich mit leicht zitternden Händen die langen Strähnen aus dem Gesicht.
Es hatte keinen Sinn sie noch mehr zu fragen. Sie würde Naomi eh keine vernünftigen Antworten geben. So würde sie keine Geheimnisse über Night Runner lüften.
„Ach warte...", rief Naomi plötzlich und hielt sie noch einmal auf, „...wie kann ich die Nachrichten von ihm entschlüsseln?"
„Woher soll ich das wissen?", kam die zickige Antwort und im nächsten Moment lief sie davon. Nicht einmal das wollte sie Naomi sagen.

Enttäuscht ging sie nach Hause. Es war schon gegen Acht, als sie wieder einmal ein bekanntes Gesicht auf der Straße sah. Doch dieses Mal lief Fred nicht weg, er bemerkte sie relativ schnell und wartete.
„Hey Nao, wo kommst du denn her?"
„Äh...ich war in der Bibliothek", log sie schnell.

Er legte zwar den Kopf schief, schien ihr das aber abzukaufen.
„Und du?", fragte sie neugierig.
„Ich war bei Charlie im Restaurant und habe ihm dabei geholfen die Möbel zu reparieren. Naja, zumindest ein Stück weit. Doch wir sind noch lange nicht fertig."

„Ach Mist ich wollte doch helfen."
Das schlechte Gewissen nagte an ihr.
„Schon gut, kümmere dich erstmal um deine schlechten Noten."
Sie grummelte leise.
Sie war schon zweimal durch die Prüfung gefallen. Das erklärte auch, warum sie mit fast dreiundzwanzig eine der älteren Studenten in ihrem Kurs war.
Selbst Diana und Hannes waren jünger, als sie.
Zum Glück sah man es ihr Dank des zierlichen Körpers nicht an.

„Wann gehen wir denn jetzt endlich mal essen?"
Naomi hatte nicht so schnell die richtige Antwort parat und druckste herum.
„Ich...äh...also..."
„Schon gut, irgendwann entführe ich dich einfach."
Sie verdrehte die Augen. Hoffentlich tat er das nicht.
„Also dann..."
Er umarmte sie überraschender Weise zum Abschied und drückte ihr mit seinen kräftigen Armen fast die Luft ab.

„Bis dann", sagte sie zum Abschied und holte Luft.
Sie sah ihm schmunzelnd nach und schüttelte den Kopf. Er war schon nett. Warum sollte sie eigentlich nicht mit ihm ausgehen? Er zeigte jedenfalls Interesse. Ganz im Gegenteil zu einem gewissen James. Naomis Herz blutete noch immer beim Gedanken an ihn. Viel schöner wäre es da sich in jemand anderes zu verlieben. Vielleicht sogar in einen Nachtdieb?

Naomi schüttelte den unrealistischen und absolut verrückten Gedanken ab und ging nach Hause. Wieso kamen ihr in letzter Zeit so unrealistische Gedanken? Sie tat auch Dinge, die sie früher nie getan hätte. Sie war überrascht über sich selbst.
Sie hörte ihre Schuhe auf dem Asphalt, so still war es. Eher ungewöhnlich diese Ruhe und seit wann war es so dunkel in diesem Viertel? Sie wurde langsamer und bemerkte mehrere nicht funktionierende Straßenlaternen.

Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, legte sich eine kalte Hand auf ihren Mund und sie wurde von der Straße gezerrt. Sie wollte erschrocken aufschreien, aber die Hand auf ihrem Mund hinderte sie daran. Kurz darauf fand sie sich in einer dunklen Nische zwischen zwei Grundstücksmauern wieder. Jemand hielt sie von hinten fest. So sehr sie auch versuchte sich ängstlich gegen die grobe Behandlung zu wehren, sie hatte keine Chance.

„Shht", zischte es hinter ihr. Allein aus Angst wagte sie nicht mehr sich zu bewegen. Andere Mädchen wären vielleicht mutiger und hätten etwas versucht, doch sie wollte nicht hinterher aufgeschlitzt auf der Straße liegen.
„Stell nie wieder Nachforschungen über mich an", flüsterte jemand an ihr Ohr. Sie verstand erst nicht, was das sollte.
„Wenn du dem Mädchen noch einmal folgst, werde ich aufhören dir zu helfen."
Bei dem Satz ging ihr ein Licht auf.
„Verstanden?"

Sie nickte fleißig und versuchte ihre zitternden Hände zu verbergen.
Night Runner ließ sie los und trat einen Schritt zurück.
Naomi drehte sich zu ihm um und schaute reumütig in sein halb verdecktes Gesicht. Er hatte wohl hier auf sie gewartet. Dabei war sie doch gerade erst aus der Nordstadt zurück gekommen.

Zum ersten Mal erkannte sie trotz der Dunkelheit seine hellen Augen, die sie nur grimmig anstarrten. Welche Farbe sie hatten, konnte sie leider nicht erkennen. Nur die paar Fransen seiner Haare lugten unter der Kappe hervor.

Er war ihr noch nie so nahe wie jetzt und irgendwie verspürte sie trotz seiner Warnung keine Angst vor ihm. Er war etwas einschüchternd, aber mehr auch nicht. Er würde ihr nichts antun, doch Naomi war auf seine Hilfe angewiesen.
Gerade als er sich umdrehen und verschwinden wollte, packte sie ihn am Arm und hielt ihn auf.
„Es tut mir leid!", sagte sie leicht panisch. „Ich gebe dir mein Wort, dass ich es nie wieder mache. Bitte, ich brauche dich."



~



Er drehte sich wieder zu ihr um und erkannte aufrichtige Reue in ihren Augen. Er verstand ihre Neugier, aber sie durfte einfach nicht wissen wer er war. Das könnte sie noch mehr in Gefahr bringen, als sie ohnehin schon war. Es fiel ihm schwer sie einzuschüchtern und zu erschrecken.

Erst recht, wenn sie solche Worte zu ihm sagte. Noch nie hatte ihm jemand gesagt, dass er ihn brauchte. Wieso verurteilte dieses Mädchen ihn nicht? Er war ein verdammter Dieb - ohne Gewissen und ohne Gefühle. Doch gerade in diesem Moment bekam die Eismauer um sein Herz einen Riss.

„Bitte sag mir wie ich deine Nachricht entschlüsseln kann. Ich habe das Papier vors Licht gehalten. Ich habe es angefeuchtet...ich weiß nicht mehr weiter. Du hast mir keinen Hinweis hinterlassen."
Er schmunzelte. Leider konnte sie es nicht sehen. Also kicherte er so leise wie möglich. Daraufhin starrte sie ihn irritiert an. Oder war sie fasziniert? Er konnte es nicht genau einordnen.

Während sie weiter auf ihn einredete, überlegte er, wie er ihre Frage beantworten konnte, ohne dass er sprach. Er sah auf ihre Hand, die immer noch auf seinem Arm ruhte. Er nahm sie vorsichtig und hielt den Handrücken nach oben. Dann schrieb er langsam große Buchstaben darauf.

Sie flüsterte die Buchstaben jedes Mal mit. Als er aufhörte, dauerte es einen Moment, bis sie ihn erstaunt ansah. Dann schlug sie sich vor den Kopf.
„Hitze! Na klar!"
Er nickte und ließ ihre Hand los.
„Ich sollte mehr Kriminalfilme sehen. Trotzdem hättest du mir einen Hinweis geben können. Ich bin Amateurin", sagte sie vorwurfsvoll.

Er bereute es nicht, ihr keinen Hinweis gegeben zu haben. So hatte er das Vergnügen sich ein wenig über sie zu amüsieren.
„Mach dich nicht über mich lustig. Du machst sowas alltäglich", schimpfte sie mit einem unterdrückten Schmunzeln.

Er musste echt an sich halten, um sich nicht mit einem lauten Lachen zu verraten. Dieses Mädchen war zu komisch. Es war lange her, dass er Spaß bei einem Auftrag gehabt hatte. Dankbar und gut gelaunt legte er seine Hand auf ihren Kopf. Eine Geste nicht nur, um sie zu beruhigen, sondern auch um ihr Vertrauen entgegen zu bringen und zu zeigen, dass er nicht mehr böse mit ihr war.

Normalerweise legte er Wert darauf, so wenig Körperkontakt wie möglich herzustellen. Doch schließlich stand keine Fremde vor ihm. Es war Naomi. Er sah sie jeden Tag an der Uni. Er kannte ihre Eigenarten und ihre Vorlieben. Er wusste, was sie gerne aß und dass sie ein unglaublicher Fan von ihm war. Deshalb vergaß er sich in diesem Moment.

Er hatte sich seit der Schmach von Kelly jegliche Gefühle untersagt und ließ auch außer Maurice niemanden an sich heran. Warum genoss er es dann so sehr in ihrer Nähe zu sein?

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