13. 𝑉𝑒𝑟𝑤𝑖𝑐𝑘𝑙𝑢𝑛𝑔𝑒𝑛

Die dunklen, mandelförmigen Augen des sechzigjährigen Mannes waren ausdruckslos. Ohne jegliche Regung im Gesicht hörte er Sam zu, der ihm ganz ausführlich von Night Runners letztem Raubzug auf Daniel Parks Residenz berichtete.

Dai Higa, der wohl einflussreichste und vermögendste Mann der Stadt, saß in seinem bequemen Sessel und stützte den schweren Kopf auf drei Finger seiner Hand. Er war nicht erfreut über den Bericht. Dieser vermaledeite Dieb ging ihm schon eine ganze Weile auf die Nerven. Nun hatte er einem wichtigen Fürsprecher und Freund von ihm sein ganzes Geld genommen. Nicht nur, dass er trotz Polizei in sein Haus eingestiegen war, sondern er hatte auch sein ganzes Konto geräumt.

Higa würde die Bank noch verklagen, so viel stand fest und was diesen unfähigen Inspektor anging, da würde er auch noch etwas unternehmen. War er denn nur von Taugenichtsen umgeben? Wann gelang es der Polizei endlich Night Runner festzunehmen? Es konnte doch nicht sein, dass ein junger Mann sämtliche Beamten zum Narren hielt.

Seine geballte Faust haute in regelmäßigen Abständen leicht auf die Armlehne.
„Genug jetzt", meinte er brummig und brachte Sam augenblicklich zum Schweigen. Dieser hielt krampfhaft die Arme neben seinem Körper und den Oberkörper leicht geneigt. Er wagte es nicht seinem Herren in die Augen zu sehen. Nicht wenn er schlechte Neuigkeiten brachte.

„Sir, was ist mit den Singers?"
„Sind sie raus?", fragte Higa knurrig und richtete sich etwas auf. Der Rücken tat ihm weh, genauso wie sein Kopf. Alles war so kompliziert, wenn man unfähiges Personal hatte. Gut wäre es, wenn Night Runner für ihn arbeiten würde, aber er hatte bisher jegliche Anfragen der HKS Group abgelehnt. Mittlerweile wusste Higa auch, dass der Typ eine persönliche Abneigung gegen die Sicherheitsfirma hatte. Nur den Grund wusste er noch nicht.

Sam schüttelte unterwürfig den Kopf.
„Warum gehen sie nicht? War ein Angriff auf die Tochter nicht genug für Charlie Singer?"
„Was sollen wir tun?"
„Ist mir egal. Ich wünsche, dass du dich diesmal selbst darum kümmerst."
Mit einer knappen Handbewegung winkte er Sam hinaus. Dieser lächelte verschmitzt, bevor er sich höflich zurück zog.

Kaum war er fort, griff Higa nach dem Telefonhörer und wählte schnell die bekannte Nummer.
„Hallo? Haben sie es?"
„Noch nicht", antwortete die rauchige leise Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Ich muss das Gelände sichern. Es dürfen absolut keine Hinweise zurück bleiben."
„Seien Sie unbesorgt Mr. Higa, ich kümmere mich um das Haus. Sorgen Sie nur dafür, dass die Leute raus sind, bevor die Bulldozer anrollen."
Higa antwortete nur mit einem Brummen und beendete anschließend das Gespräch.

Es war ein Wagnis das Haus mit Gewalt zu räumen, aber die Zeit drängte. Je schneller es verschwand, desto besser. Higa würde diesen Charlie Singer schon zum Umziehen bewegen, selbst wenn er dafür Knochen brechen müsste. Das letzte Mal kam Night Runner dazwischen, ansonsten hätte  Chalies vorlaute und übereifrige Tochter ein paar blaue Flecken davongetragen.
Higa schimpfte schon wieder über diesen Nachtdieb. Der Typ war ein einziges Ärgernis.



~



Die Frau war älter als Naomi angenommen hatte. Sie starrte sie überrascht an, als sie die Studentin zu sich an den Tisch winkte.
Ihre braunen Augen waren aufgeweckt und gleichzeitig verbargen sie etwas. Die langen dunklen Haare fielen ihr glatt über die Schulter und an ihrer linken Hand glänzte ein goldener Ring.
„Hallo!", grüßte Naomi freundlich und stellte sich vor.
„Freut mich, mein Name ist Susanne Dickens."
„Ehrlich gesagt bin ich überrascht."
„Sie hatten angenommen, dass ich jünger sei, nicht wahr?", mutmaßte Susanne richtig.

Naomi nickte etwas versteift.
„Das kann ich verstehen. Nun ich bin es nicht minder. Sie sehen nicht gerade wie eine Journalistin aus."
Naomi lachte verlegen.
„In erster Linie bin ich ein Fan von Night Runner. Ich habe viel über ihn recherchiert und versucht ein Muster hinter seinen Raubzügen zu erkennen. Leider bisher ohne Erfolg."
„Es gibt auch keines. Night Runner stiehlt nicht, um sich zu bereichern oder um des Ruhmes Willen. Er scheint aus persönlichen Gründen zu handeln."

Naomi war verblüfft. Sie starrte die Mitte Fünfzigjährige Frau an, die nervös mit ihren Fingern spielte. Immer wieder griff sie zu dem Glas Orangensaft vor sich auf dem Tisch und nippte daran.
„Woher wissen Sie das?"
„Wenn man mal seine bisherigen Opfer vergleicht, stellt man fest, dass sie alle eine gemeinsame Verbindung haben..."
Sie nippte wieder am Glas und Naomi hing gespannt an ihren Lippen.
„...die Higa & Kent Sicherheitsfirma. Er nimmt auffallend viele Aufträge an, die dieser Organisation schaden. Glauben Sie mir, ich beschäftige mich schon lange mit dem Nachtdieb. Ich war nämlich auch einmal Journalistin, bis mir diese Leute der HKS in die Quere kamen."

„Was ist passiert?", wollte Naomi neugierig wissen.
„Sie haben meinen Ruf geschädigt, Wahrheiten als Lüge dargestellt und andersrum. Mir wurde bei meinem Fernsehsender gekündigt und mein Ruf nachhaltig so sehr geschädigt, dass ich als Journalistin nie wieder einen Job bekommen habe. Niemand stellt einen Wisleblower ein. So stellte man mich jedenfalls dar."

Naomi wusste was ein Wistleblower war. Jemand, der selbst in der eigenen Firma Korruption und Ähnliches entdeckte und an die Öffentlichkeit verriet.
„Das nur, weil ich es gewagt hatte die HKS Group schlecht darzustellen."
Susanne verdrehte hochmütig, aber gekränkt die Augen und trank ihr Glas leer.

Schon wieder fiel dieser Name. Ständig war die HKS Group involviert. Naomi tat besser daran diesen Leuten aus dem Weg zu gehen. Doch was war mit Charlie? Er hatte sie an der Backe und sie drängten ihn dazu, umgehend aus dem Haus zu ziehen. Nur wohin mit seinem Lokal? Sowas brauchte Zeit und konnte nicht so schnell entschieden werden.

Susanne stellte laut das Glas ab und schnalzte frustriert mit der Zunge.
„Am liebsten hätte ich Night Runner dazu genutzt Rache zu nehmen, aber das Erbstück war mir wichtiger. Meine Familie war immer schon habgierig, aber sie durften nicht alles haben."
„Wie haben Sie mit ihm kommuniziert?"
„Ach da gab es keine Kommunikation. Ich sagte ihm, was ich mir wünsche und innerhalb von einer Woche hatte ich es. Es gab keine Fragen und auch keine Informationen. Ich war nur überrascht darüber, wie schnell es ging."

„Und die Polizei hat auch keine Fragen gestellt?"
Sie sah Naomi mit einem spöttischen Grinsen an.
„Oh natürlich haben sie das raus bekommen und Fragen gestellt. Allerdings konnte ich ihnen nicht viel sagen. Ich hatte schon damit gerechnet, dass sie mich ins Gefängnis stecken, aber sie haben mich nur mit einer hohen Geldstrafe verwarnt."

Naomi staunte.
„Wie haben sie das herausgefunden? Ich dachte in dem Forum sind alle anonym."
Sie lachte wieder verächtlich.
„Sie haben meine ID herausgefunden. Night Runner kennt sich besser mit der Technik aus und blieb wie immer unbehelligt. Doch ich bin kein Computergenie. Die Polizei farmte regelmäßig die Kunden ab, mit denen Night Runner Kontakt hatte. Sie hacken sich einfach ins Portal und angeln sich die öffentlichen Server heraus. Bei den Privaten haben sie wohl etwas mehr zu knacken", erklärte Susanne.

Dafür, dass sie sich sonst mit IT und ähnlichem nicht auskannte, wusste sie erstaunlich viel. Anscheinend hatte sie sich im Nachhinein schlau gemacht.
Die Frau verengte die Augen und musterte Naomi auf einmal neugierig von der Seite. Sie schlug die Beine übereinander und lehnte sich auf dem Stuhl zurück.

„Haben Sie jemals Kontakt zu Night Runner aufgenommen?"
Naomi schüttelte bedauernd den Kopf.
„Aber ich habe ihn gesehen."
Susanne versuchte ihre schillernde Neugier zu verbergen, aber Naomi erkannte sie in ihren großen Augen, die auf einmal wie Weihnachtssterne leuchteten.

„Wann?", fragte sie nur knapp.
„Es ist nicht lange her. Er bewahrte mich davor von üblen Schurken überfallen zu werden. Ich glaube,  er war nur zufällig in der Nähe, aber es war mein Glück."
Susanne wollte natürlich mehr hören und so erzählte Naomi ihr die kurze Geschichte in allen Einzelheiten. Die Frau lauschte aufmerksam und beneidete das Mädchen um diese Chance.
Allerdings glaubte sie auch nicht an Zufälle und an Glück schon gar nicht.

„Ich habe noch nie gehört, dass sich dieser Dieb in Straßenschlägereien eingemischt hätte. Er stiehlt und kämpft nur, wenn's drauf ankommt."
„Er scheint jedoch ein guter Mensch zu sein, sonst hätte er es nicht gemacht."
„Kindchen, sie können wohl eher davon ausgehen eine Verbindung zu ihm zu haben. Vielleicht ist er jemand, den Sie kennen."

Zack! Damit hatte Susanne einen unmöglichen und absolut verrückten Gedanken in Naomi gepflanzt, den sie so schnell nicht wieder loswurde. Natürlich konnte Night Runner jeder sein. Er konnte sogar zu ihrer Uni gehen und - so unglaublich das auch klang - den selben Kurs besuchen. Oder er lebte in der Nachbarschaft, oder, oder, oder.

Ein lautes Pling ihres Handys forderte ihre Aufmerksamkeit. Auch Susanne griff in ihre Tasche. Die wenigen Besucher im Café holten ebenfalls ihre Handys hervor, als ein diffuses Klingeln durch den gesamten Raum ging.
Das allein war schon merkwürdig genug, doch als Naomi die Nachrichten auf ihrem Display las, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.

Stahlfabrik geht in die Luft. Liegen Sicherheitsmängel vor?

So lautete der Titel der Internetzeitung Daily News.
Fieberhaft las Naomi den Artikel und schluckte.
Kurz nach dem Auftritt des berüchtigten Diebes Night Runner war das gesamte Gelände mit Azetylen-Flaschen explodiert. Angeblich war das hochgefährliche Zeug nicht ausreichend gesichert und für jeden zugänglich gewesen. Die Medien vermuteten Night Runner dahinter, obwohl es gar nicht in sein übliches Schema passte.
Zum Glück gab es keine Verletzten. Noch immer  versuchte die Feuerwehr den Brand unter Kontrolle zu bringen, während die Polizei das umliegende Gebiet evakuierte.

Naomi hob den Kopf. Ihr entsetzter Blick traf den von Susanne.
„Er war das nicht", protestierte diese sofort. „Was auch immer dort geschehen ist, es war nicht Night Runner. Er bringt keine Menschen in Lebensgefahr. Absolut nicht!", rief sie überzeugt und steckte ihr Handy zurück in die lederne Handtasche. Dann erhob sie sich eilig und verabschiedete sich mit einem „Sorry, i-ich muss gehen."
Naomi nickte nur verständnisvoll und kam nicht zu einem weiteren Wort, denn die Frau hatte sich schon umgedreht und verschwand aus dem Café.

Mit einem unguten Gefühl bezahlte Naomi die Rechnung und machte sich ebenfalls auf den Heimweg.
Was war nur letzte Nacht geschehen?



~



Fred fühlte sich schlecht. Es lag nicht an seinem schlechten Gewissen. Wohl eher an dem giftigen Rauch, den er eingeatmet hatte. Er sah den Bericht in den Nachrichten und wollte kotzen. Warum konnte dieser verfluchte Dieb nicht einfach in den Flammen drauf gehen? Leider konnte er sich das Versagen der Zündung auf seine eigene Kappe schreiben. Das Feuer war viel zu spät ausgebrochen. Night Runner war schon längst in Sicherheit gewesen und die Polizei war nur mit einem Schreck davon gekommen.

Dafür würde er sich später wieder etwas anhören dürfen. Sein Auftraggeber mochte keine Fehler. Wenn er noch einmal versagte, würde man ihn gleich im Abwasserkanal versenken.
Fred war es egal, ob er jemanden umbrachte. Er tat alles für Geld und das brauchte er dringend.

Er hatte keinen Bock auf diese ganze Scheiße. Er fluchte auf seinen toten Vater, der ihm nichts als Schulden und ein verrottendes Haus hinterlassen hatte.
Darum erledigte er nun für andere Leute die Drecksarbeit. Ronny hatte ihn in dieses Geschäft gebracht, bevor er irgendwann verschwunden war.

Vielleicht verrottete er auch irgendwo unter einem Gully. Fred war es egal. Er hatte sich ihm gegenüber nie verbunden gefühlt. Ronny war ein Mistkerl gewesen, schlimmer noch als er selbst.
Er war einfach in dieses Leben gerutscht, ohne eine Wahl zu haben. Jetzt kam er da nicht mehr heraus.

Doch das Geld stimmte und es war eine Menge Geld. Wenn er sich klug anstellte, konnte er sich einen guten Ruf in der Unterwelt machen und sich bei den mächtigen Menschen beliebt machen. Das war besser als sein Leben lang zu Kreuze zu kriechen. So wie die arme Naomi und ihr Vater. Sie tat ihm leid. Fred wollte ihr nicht schaden.

Vor allem, weil sie mal Freunde gewesen waren. Er wünschte, die Freundschaft ehrlich wieder aufleben lassen zu können, aber dafür war es zu spät. Wenn sie jemals sein wahres Gesicht sehen würde, dann würde sie ihn hassen. Er nutzte sie aus, spielte ihr den charmanten und coolen Sportler vor, weil er in ihrer Nähe bleiben musste.

Das war gar nicht so einfach, denn sie war nicht bloß ein Niemand. Sie war mal seine Freundin gewesen. Ihre offene Art und ihr leichtes Gemüt hatten sich in den letzten Jahren nicht verändert. Er hatte das stets an ihr gemocht.

Er mochte sie immer noch. Oh und wie er sie mochte. Er wollte mit ihr ausgehen und sie für sich gewinnen. Er wollte sie nicht ausspionieren und betrügen. Leider wurde genau das von ihm erwartet.

Er schaltete den Fernseher aus und machte sich auf der durchgesessenen Couch lang, die schon den ein oder anderen Flicken hatte. Das Wohnzimmer war nur spartanisch eingerichtet und staubte fröhlich vor sich hin. Auf dem Couchtisch stand ein proppenvoller Aschenbecher und einige Bierdosen.

Der leere Pizzakarton drohte gleich auf den fransigen, mit Flecken übersäten Teppich seiner Mutter zu fallen und aus dem ersten Stock ballerte die nervige Techno-Musik seiner jüngeren Schwester Madelene. Genervt hielt er sich die Ohren zu und schloss die Augen. Irgendwann würde er einfach abhauen. Ganz egal wohin. Er würde einfach loslaufen und erst einige tausend Kilometer weiter stehen bleiben. Hauptsache weit weg von diesem Rattenloch.

Das war doch kein Leben. Das war eine Zumutung. Leider hatte sich nach Vaters Tod auch seine Mutter aus dem Staub gemacht und Madelene kümmerte sich kein Stück um ihn. Das war schon immer so. Wenn er die Beziehung zu seiner Schwester beschreiben sollte, würde er es wohl mit Feuer und Wasser vergleichen. 

Es würde ihn nicht wundern wenn einer von ihnen,oder beide, in naher Zukunft einen Absturz erleiden würden. Sie war drogensüchtig und eine absolute Schlampe und Fred hatte definitiv Umgang mit den falschen Leuten.

Es kotzte ihn selber an, nur was sollte er machen? Er wollte leben und hoffte immer noch auf einen Ausweg.
Sein Ausweg sollte Naomi sein.
Ja genau, darauf musste er sich konzentrieren. Nur so kam er an das nötige Geld und dafür musste er noch einige Aufträge erledigen.
Seufzend schloss er die Augen und blendete den Krach aus.

Er würde nicht aufgeben. Oh nein! Er machte solange weiter, bis er umfiel. Er würde leben und irgendwann ein besseres Leben bekommen. Musste er dafür über Leichen gehen, dann sei es nun mal so. Er hatte etwas besseres verdient, als dieses gottverdammte Drecksloch.

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