Bei Großvater
Das Leben bei Großvater ist arbeitsreich und körperlich anstrengend, vor allem, wenn man nebenbei studiert und in der Bücherei jobbt. Aber hier fühle ich mich wohler und vor allem willkommener als an jedem anderen Ort, an dem ich jemals gelebt habe. Und das sind viele gewesen.
Ich bin viel umhergeschleift worden, erst von meinen Eltern, dann von Rick und es sind zumeist teure, mondäne, beliebte Stätten gewesen, von denen der Großteil der Menschheit lediglich träumen kann. Ich bin nie gefragt worden, ob ich dort verweilen will. Und wo immer ich auch gewesen bin, habe ich doch stets von Großvaters Anwesen geträumt.
Meine Eltern haben mir viele Wünsche erfüllt, die ich niemals gehegt habe und viele Forderungen an mich gestellt, damit ich Träume wahr mache, die niemals die meinen gewesen sind. Ich habe Dinge bekommen, um die mich andere Kinder beneidet haben, aber es waren immer Sachen, die gerade modern und allgemein gefragt gewesen sind und nicht das, was ich wirklich gewollt habe.
Meine Gabentische sind immer reich gedeckt gewesen, aber Großvater ist bis heute der einzige, der mich Wunschzettel hat schreiben lassen und sich dann ein Teil daraus ausgesucht hat. Meine Eltern haben nie verstanden, warum mich seine kleinen, preisgünstigen Geschenke, seine Glückwunschkarten mit den kitschigen Motiven und vor allem die lieben Worte darauf mehr erfreut haben als der ganze teure Kram, den die Sekretärin meines Vater für mich eingekauft hat.
Auch dass ich die vier freien Wochen im Jahr lieber in Großvaters kleinem Häuschen verbracht habe als in einem angesagtem Ferienort, haben sie nie wirklich begriffen. Großvater hat sich diesen Monat ausbedungen im Tausch für das übergebene Land und den Abbruch aller weiteren Kontakte. Tatsächlich sind sie sogar gerne darauf eingegangen, denn dieser Handel bedeutete vier Wochen jedes Jahr, die sie einander widmen konnten, ohne sich um mich kümmern zu müssen. Zu ihrem Erstaunen bin ich von diesen Wochen aber nicht erleichtert in den gewohnten Luxus zurückgekehrt, sondern habe es jedes Mal bedauert, Großvater und den Rest dessen, was ihm von dem riesigen Grundbesitz seiner Vorfahren geblieben ist, verlassen zu müssen.
Wie hätten sie es auch verstehen sollen? Für mich ist der Herbst seit jeher eine Zeit gewesen, in der ich Liebe, Geborgenheit, aber auch Freiheit erfahren habe. Großvaters Hühner hat es nie gekümmert, ob ich ihnen die genau richtige Anzahl Körner an die vorgeschriebenen Orte hinstreue. Die Schafe haben nie darauf geachtet, wie exakt meine Schritte gewesen sind, wenn ich sie in den Stall gebracht habe. Die beiden Ziegen sind auch dann auf meine Lockrufe gekommen, wenn ich den Ton nicht genau getroffen habe. Die Äpfel haben auch dann geschmeckt, wenn ich sie krumm und eckig geschält habe. Die Obstbäume hat es nie geschert, wie trendig meine Schuhe waren, in denen ich auf ihren Ästen gelaufen bin. Die Buche, unter die ich mich oft geflüchtet habe, wenn ich wieder abgeholt werden sollte, hat mich stets mit ihren Zweigen umfangenund nie gefragt, ob ich nun alle meine Aufgaben erledigt hatte. Und die Menschen, die in den kleinen Hofladen kamen, haben sich mit mir unterhalten, weil sie mich nett und freundlich fanden und nicht, weil ich „die Tochter von ..." bin.
Auch Großvater hat sich um all diese Dinge nie gekümmert. Für ihn bin ich niemals eine Maschine gewesen, die funktionieren musste, sondern einfach ein kleiner, wachsender Mensch, der so angenommen wird, wie er ist, geliebt, gehegt und beschützt wird und später nur noch sacht unterstützt, wenn er flügge wird.
Wie er auch seine Obstbäume nur in Notfällen beschneidet, hat er auch mir keine unvernünftigen Grenzen gesetzt. Und die viele Arbeit auf dem kleinen Gehöft – nun, Großvater hat mir niemals befohlen, ihm zu helfen. Er hat einfach gemacht, mich ab und zu um kleine Hilfsdienste wie Tür öffnen oder Kartoffelsack aufhalten gebeten und sich selbst dafür dann herzlich bedankt. Erst recht, wenn ich ihm dann freiwillig noch mehr geholfen habe.
Und das habe ich mit wachsender Begeisterung getan, allein schon deshalb, damit ich von ihm angelächelt werde. Großvater hat das gleiche schiefe Lächeln wie ich, welches meine Lehrer stets getadelt haben, weil ich nicht genug perfekt gepflegte und zahnärztlich korrigierte Zähne zeige. Er liebt mein Lächeln und ich liebe seines. Das seelenlose Zähnefletschen meiner Eltern ist mir immer unheimlich gewesen, zumal es niemals Freude oder Zuneigung ausdrückt.
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