26. Oktober: Kastanienfiguren
Seit Mo vor mir stand, kennen meine Gedanken kein anderes Thema mehr als ihn. Mittlerweile sind schon einige Tage vergangen, in denen ich mich von unserem Garten fern gehalten habe. Heute ist das aber nicht mehr möglich. Man sieht vor lauter Laub kaum noch den Rasen auf unserem Grundstück. Meinen Eltern fiel das natürlich auch auf und haben mich schon heute Morgen unnötigerweise darauf aufmerksam gemacht. Es ist immerhin nicht zu übersehen. Jedoch habe ich Angst, dass ich Mo wiedersehe, wenn ich auch nur den Garten betrete. Allerdings kann ich es nicht länger hinauszögern. Also mache ich mich an die Arbeit. Nach einer Viertelstunde werde ich jedoch durch einen Pfiff unterbrochen. Ich wirbele herum und meine Befürchtung bestätigt sich.
„Hey, Lil. Heute mal kein Tanz?", begrüßt mich Mo.
Mein Blick verfinstert sich augenblicklich.
„Was willst du?", frage ich und schaue ihn an.
„Keine Ahnung. Wie wäre es mit Reden? Immerhin war ich ein ganzes Jahr lang weg", antwortet er.
Mit dem Rechen in der Hand gehe ich auf ihn zu, bis ich schließlich direkt vor dem Zaun stehen bleibe.
„Exakt. Du warst ein Jahr lang nicht hier. Du weißt überhaupt nichts. Lass mich einfach in Ruhe, okay?" Ohne auf eine Reaktion zu warten, drehe ich mich wieder um und kehre weiter die Blätter zusammen. Als ich nach ein paar Minuten einen Blick auf die andere Seite des Zauns wage, stelle ich fest, dass er noch immer da steht. Meine Laune sinkt auf den Tiefpunkt. Schlimm genug, dass ich auf unserem Grundstück das Laub harken muss, jetzt werde ich auch noch von meinem Exfreund dabei belästigt. Warum kann er mich nicht endlich in Ruhe lassen? Reicht es ihm nicht, dass er mir vor einem Jahr schon das Herz gebrochen hat? Muss er mich mit seiner Anwesenheit ständig aufs Neue daran erinnern?
Erneut gehe ich auf ihn zu.
„Warum bist du noch hier? Ich habe gesagt, du sollst gehen", verleihe ich meiner Aussage Nachdruck.
„Interessiert es dich denn gar nicht, warum ich zurück bin?", erwidert er.
Ich stocke kurz, bevor ich ihm eine Antwort gebe.
„Nein", lüge ich. Natürlich wollte ich das wissen, aber das würde ich vor ihm doch nicht zugeben. Denn so sehr ich mir auch einrede über ihn hinweg zu sein, wenn er vor mir steht, merke ich, wie wichtig er mir noch ist, obwohl ich das nicht möchte.
„Das glaube ich dir nicht. Warum gehen wir nicht kurz spazieren und ich erzähle es dir?", schlägt er vor.
Leichte Panik steigt in mir auf. Selbst wenn ich wollen würde, könnte ich es nicht. Das Ding an meinem rechten Fuß würde sofort Alarm auslösen. Außerdem möchte ich nicht, dass die alte Wunde wieder aufreißt. Kann er nicht sein Leben ohne mich leben und mich mit den Details verschonen?
„Ich habe keine Zeit. Du siehst doch, dass ich beschäftigt bin", sage ich.
„Bitte. Ein paar Minuten wirst du doch wohl entbehren können", versucht er mich zu überreden.
„Wie oft soll ich es dir noch sagen, Mo? Lass mich in Ruhe. Verschwinde!" Die Wut und Trauer übernehmen die Kontrolle über mich. Schnell wende ich mich von ihm ab, damit er die glitzernden Tränen in meinen Augen nicht bemerkt.
„Lil, ich..." Er bricht ab.
Ich verharre noch einige Sekunden in dieser Position ehe ich meine Tränen unter Kontrolle bringe und mich wieder umdrehe. Gerade noch rechtzeitig um zu sehen, wie Mo mit gesenktem Kopf zurück ins Haus trottet.
Nachdem ich endlich für heute mit der Arbeit fertig bin, verschanze ich mich wieder in meinem Zimmer. Ich möchte niemanden sehen und mit meinen Gefühle und Gedanken alleine sein. Mos ständiges Auftauchen auf der anderen Seite des Gartenzauns beschäftigt mich. Das war nun schon das zweite Mal. Warum versucht er immer wieder mit mir zu reden? Trotz meiner Gefühle für ihn, kann ich es nicht ertragen ihn immer wieder zu sehen und an Vergebung ist erst recht nicht zu denken. Er hat ohne jeglichen Grund den Kontakt zu mir abgebrochen und jetzt ist es zu spät. Zu viel Zeit ist vergangen.
Traurig lasse ich mich auf mein Bett fallen und starre an die Decke. Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit schießen mir durch den Kopf.
„Der Herbst ist wirklich die schönste Jahreszeit von allen", hatte ich bei einem unserer Spaziergänge lächelnd gesagt.
„Weißt du noch, wie wir früher immer Figuren mit den Kastanien gebastelt haben?" Lachend sah er mich an.
„Was denkst du denn von mir? Als könnte ich das vergessen", hatte ich gespielt empört erwidert.
„Das war echt witzig gewesen. Du hast immer die verrücktesten Tiere kreiert, die es eigentlich gar nicht gibt", meinte er.
„Sag bloß nichts gegen meine Fabelwesen. Die waren besser als deine, die immer so realistisch wie möglich sein mussten", verteidigte ich mich.
„Bei mir konnte man zumindest erkennen, was die Figuren darstellen sollten."
Eine Weile genossen wir die Natur um uns herum und gingen schweigend den durch die fallenden Blätter buntgefärbten Waldweg entlang, bis wir schließlich zu einem ganz bestimmten Kastanienbaum kamen.
„Mo, weißt du noch?", strahlte ich ihn an.
„Natürlich. Hier haben wir früher immer unsere Kastanien gesammelt und uns zum ersten Mal geküsst", erwiderte er und gab mir einen leidenschaftlichen Kuss. Meine Knie wurden wie bei unserem ersten Kuss wieder weich. Dieser Moment war perfekt gewesen.
„Warum haben wir damit eigentlich aufgehört?", fragte ich kurz darauf.
„Womit? Mit dem Küssen? Das können wir ganz einfach nachholen." Schelmisch zwinkerte er mir zu, bevor er sich zu mir runter beugte und mich erneut küsste.
„Scherzkeks. Ich meine Figuren aus Kastanien zu basteln", antwortete ich lächelnd.
„Keine Ahnung. Wir sind eben älter geworden", hatte er schulterzuckend erwidert.
Der Herbst war früher immer meine Lieblingsjahreszeit gewesen. Das Rascheln der Blätter unter den Füßen, die letzten Sonnenstrahlen auf der Haut, die vielen verschiedenen Farben, Kastanien... und die Küsse.
Seufzend stehe ich wieder auf und laufe in meinem Zimmer unruhig auf und ab, während meine Gedanken nur um eine Person kreisen können. Mein Kopf hofft inständig, dass Mo mich jetzt endgültig in Ruhe lassen wird, obwohl mein Herz das Gegenteil möchte. Aber er tut mir nicht gut. Langsam weiß ich auch nicht, wie ich ihm gegenüber noch länger so abweisend sein soll. Mit jedem Tag der vergeht, wird es schwieriger. Mein so gut aufgebauter Schutzwall fängt schon an zu bröckeln und ich bin mir nicht sicher, wie viel nur noch notwendig ist, um ihn komplett zum Einsturz zu bringen.
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