23. Oktober: Moritz' Rückkehr
Der Wind wirbelt die Blätter von meinem eben sorgfältig zusammengeharkten Haufen in der Luft herum und verteilt sie wieder auf dem Rasen in unserem Garten.
Na toll, denke ich. Jetzt kann ich wieder von vorne anfangen.
Mittlerweile ist es Ende Oktober. Der Herbst ist plötzlich da gewesen und der Sommer vorbei. Die Blätter haben die schönsten Rot-, Orange- und Gelbtöne angenommen und auch das Wetter spielt dieses Jahr mit. Die Sonne verwandelt diesen Herbst in eine goldene Jahreszeit. Alles ist in Ordnung gewesen. Bis meine Eltern auf die Idee gekommen sind, dass ich mal aus meinem Zimmer herauskommen soll und mich nützlich machen könnte, wenn ich die Blätter auf unserem Grundstück zusammenkehren würde. Dabei möchte ich nur meine Ruhe haben und warten bis ich dieses verdammte Ding um mein rechtes Fußgelenk endlich los bin. Das raubt mir noch den letzten Nerv, obwohl ich es mir eigentlich selbst zuzuschreiben haben. Niemand hat mich dazu gezwungen diese Dummheiten zu begehen, die mich letztendlich vor Gericht und zu dieser Strafe gebracht haben. Ganz so einfach ist es jedoch dann auch wieder nicht. Es gibt immer einen Grund, warum Menschen gewisse Dinge tun. Bei mir sind es der Weggang und die damit später einhergehende Trennung von meinem damaligen Freund gewesen. Daraufhin war meine Welt zusammengebrochen und ich habe einige Sachen getan, die ich besser gelassen hätte. Doch ich kann es nicht mehr ändern und muss abwarten, bis ich meine Strafe verbüßt habe. Solange darf ich unser Grundstück nicht verlassen.
Meine Eltern haben es zunächst toleriert, dass ich mich auf meinem Zimmer verkrochen habe, aber jetzt meinen sie, es reicht ihnen. Da alles Jammern und Diskutieren nichts gebracht haben, sitze ich diesen Nachmittag solange in unserem Garten fest, bis ich alle Blätter zusammengekehrt habe. Mit einem Rechen sowie meinem Handy samt Kopfhörern bewaffnet, habe ich angefangen. Aber der Herbstwind erschwert mir zunehmend die Arbeit.
Seufzend kehre ich die aufgewirbelten Blätter erneut zusammen, als die ersten Töne meines Lieblingssongs erklingen. Bei „OMG What's Happening" von Ava Max kann ich nicht anders: Ein kleines Lächeln bahnt sich den Weg auf meine Lippen und mit dem Rechen in der Hand fange ich an zu tanzen ehe der Refrain ertönt und ich textsicher anfange mitzusingen. Allerdings bin ich nicht wie anfangs alleine, sondern werde beobachtet, was ich jedoch leider viel zu spät bemerke. Als ich mich in einer Tanzbewegung drehe, bleibe ich abrupt stehen. Auf der anderen Seite des Zauns, der unseren Garten von dem der Nachbarn trennt, steht er. Moritz Parker, genannt Mo und von dem ich dachte, dass er meine große Liebe sei. Gutaussehend wie noch vor einem Jahr, mit leicht verschränkten Armen und einem verschmitzten Lächeln schaut er mich an.
„An deiner Choreographie solltest du lieber noch arbeiten", sagt er.
Im ersten Moment bin ich sprachlos. Seit wann ist er wieder da? Warum ist er überhaupt zurück?
„Freust du dich gar nicht mich zu sehen?", grinst er unverschämt. Dieses Grinsen lässt meine zuvor noch aufkommende gute Laune einfrieren.
Wortlos starre ich ihn an, wie er auf der anderen Seite des Zauns in seinem grauen Pullover, seiner schwarzen Jeans und weißen Sneakers steht und mich angrinst.
Was soll ich dazu sagen? Er war es, der mich verlassen hat. Ich war hier, während er über ein Jahr in Australien auf die Schule gegangen ist. Mo hatte mich glücklich gemacht und mir dann das Herz gebrochen. Es besteht nur noch aus vielen, kleinen Splittern. Wegen ihm muss ich dieses verdammte Ding an meinem Fußgelenk tragen, was ich vor ihm natürlich niemals zugeben würde.
„Du hättest in Australien bleiben sollen", entgegne ich und wende mich wieder dem Laub zu.
„Jetzt bin ich aber echt enttäuscht", meint er. Sein Blick ruht noch immer auf mir, das spüre ich.
Er ist enttäuscht?! Was ist mit mir? Wut kocht in mir hoch. Was bildet er sich ein? Ich kralle meine Finger um das Holz des Rechens und versuche ihn zu ignorieren, in der Hoffnung, dass er dann einfach wieder verschwindet. Das kann er doch sonst auch so gut.
„Komm schon, Lil. Freust du dich denn so gar nicht? Nicht mal ein bisschen?", versucht er erneut meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Diesmal reicht es mir. Ich kann ihn nicht länger wie Luft behandeln.
„Nein. Es wäre für alle besser gewesen, wenn du gar nicht erst zurückgekommen wärst", antworte ich und starre ihm direkt in seine haselnussbraunen Augen, in denen ich kurz meine so etwas wie Enttäuschung aufblitzen zu sehen. Aber wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein.
„Okay, dann gehe ich wohl mal besser", erwidert er und geht tatsächlich durch den Garten zurück zum Haus.
„Genau. Das kannst du nämlich am besten", murmele ich und mache mich wieder an die Arbeit auch den Rest der gefallenen Blätter zusammenzukehren. Doch meine Gedanken kreisen immer wieder um Mo und seine Rückkehr in unsere Stadt. Warum ist er wieder da? Warum gerade jetzt?
Ich erinnere mich noch ganz genau an die Tage vor Mos Abreise. Eigentlich wollten wir zusammen die elfte Klasse in Brisbane an der Schule absolvieren. Doch dann kam, wie so oft im Leben, alles anders. Immer, wenn du anfängst Plane zu schmieden, kommt das Leben dazwischen. In meinem Fall waren das meine Eltern, die beschlossen hatten eine Trennung sei das Beste für sie. Wenige Tage bevor Mo und ich fliegen wollten, offenbarten sie meinem Bruder und mir diese Nachricht. Was blieb mir da anderes übrig, als hier zu bleiben? Ich konnte doch meinen kleinen Bruder mit dem Ganzen nicht alleine lassen.
„Ich bin schon so gespannt auf unser gemeinsames Schuljahr in Brisbane. Das ist echt eine unglaubliche Gelegenheit", hatte Mo sich gefreut, als ich mich mit ihm getroffen hatte, um ihm zu erzählen, was bei mir gerade los war.
„Ich muss dir etwas sagen", hatte ich angefangen.
„Klar, schieß los", strahlte er mich mit einem freudigen Funkeln in seinen Augen an.
„Ich komme nicht mit", sagte ich leise.
„Was?" Mo sah mich entgeistert an.
„Meine Eltern wollen sich trennen. Ich kann jetzt nicht gehen", erzählte ich ihm.
„Das verstehe ich nicht so ganz. Sei doch lieber froh, dass du die Möglichkeit hast gerade jetzt von hier zu verschwinden. Dann musst du den ganzen Stress nicht mitbekommen", meinte er.
„Spinnst du? Ich kann doch meinen kleinen Bruder nicht einfach damit alleine lassen. Genau in solchen Situationen müssen wir zusammen halten", erklärte ich und konnte sehen, wie in seinen Augen das Funkeln erlosch.
„Deine Entscheidung steht fest? Ich kann dich nicht noch vom Gegenteil überzeugen?", harkte er nach.
„Ja, ich habe mich entschieden. Es geht nicht anders", bestätigte ich.
„Das stimmt nicht, dass es nicht anders geht. Du könntest trotzdem mit mir kommen, hättest Abstand davon und dazu noch eine tolle Zeit", fing er erneut an.
„Mo, versteh mich doch bitte. Versuch es zumindest. Ich werde hier gebraucht." Fest entschlossen sah ich ihm in die Augen.
„Okay. Wenn du meinst, dass das die richtige Entscheidung ist, unterstütze ich dich dabei." Er schenkte mir ein kurzes Lächeln.
„Danke. Wir werden für die Zeit einfach eine Fernbeziehung führen. Es ist nur ein Jahr. Das schaffen wir schon", lächelte ich zurück.
„Natürlich. Das zwischen uns ist etwas ganz Besonderes", stimmte er mir zu und gab mir einen leidenschaftlichen Kuss.
Von wegen etwas Besonderes. Am Anfang lief es wirklich gut. Wir haben oft miteinander telefoniert und uns Nachrichten geschickt, aber nach einigen Wochen hat Mo sich nicht mehr bei mir gemeldet. Auf meine Anrufe hat er nicht reagiert und ich konnte ihn auch anderweitig nicht erreichen. Es herrschte komplette Funkstille, was mich wahnsinnig gemacht hat. Ich bin durchgedreht. In meinem Kopf spielten sich die wildesten Fantasien ab, warum er den Kontakt zu mir abgebrochen hat. Daraufhin habe ich einiges versucht, um nach Brisbane zu kommen und ihn persönlich zur Rede zu stellen. Aber leider hat mir das nichts mehr als Ärger eingehandelt. Um das Chaos perfekt zu machen, beschlossen meine Eltern es doch noch einmal miteinander zu versuchen und besuchen jetzt jede Woche eine Paartherapie. Ich hätte mich freuen sollen, aber stattdessen war ich fassungslos. Genauso wie jetzt. Ich kann es nicht fassen, dass Mo wieder da ist. Nach allem, was passiert ist, tut er so, als sei nichts gewesen und alles noch wie vor einem Jahr. Doch seit seiner Abreise sind viele Monate vergangen und es hat sich alles geändert.
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