violetcrow_ | Die Nacht, in der ich mich in den Dunklen Ritter verliebte

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„Stef, das ist mir eindeutig zu unheimlich. Sorry.“
„Was genau?“ Mein bester Freund betrachtete mich mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Hallo, das da!“ Ich schwenkte die mysteriöse Einladungskarte, die vor drei Stunden auf meiner Fußmatte vor der Haustür gelegen hatte, vor seinem Gesicht hin und her. „Ich weiß echt nicht, ob es eine gute Idee ist, dorthin zu gehen. Bleiben wir besser daheim.“

Stefan nahm mir die Karte breit grinsend aus der Hand, las die Zeilen, welche ich schon hunderte Male durchgegangen war, erneut laut vor. Augenrollend hörte ich ihm zu.

„Raus die Masken und Kostüme, gebt euch heut' so richtig Mühe.

In der berühmten Gruselnacht, sind die Monsterchen erwacht.

Hörst du schon die Hexen lachen? Die lassen es nämlich mächtig krachen.

Menschen schreien, Geister fluchen. Du darfst unsren Standort suchen.

Wähle einen guten Freund aus, und geh' mit ihm aus deinem Haus.

Wasser plätschert, Kiesel knirschen. Katzen, die sich nachts anpirschen.

Musik hört ihr von Weitem dröhnen, vielleicht sogar Gespenster stöhnen.

Kommt um zwanzig Uhr im Mondenschein, denn nur dann lassen wir euch herein.

Tanzt auf unserem Maskenball, dann habt ihr Spaß, auf jeden Fall.

Wir verbleiben mit schaurigen Grüßen, und hoffen, wir dürfen euch Halloween versüßen.“

Stef hob seinen Kopf und schaute mich erneut an. „Wir müssen da hin“, gab er zum gefühlt hundertsten Mal von sich. Leider wusste ich genau, dass ihm diese Einladung nur zu gut gefiel. Er mochte das Abenteuer, ich hingegen war von ruhiger Natur, und könnte mir einen Halloweenabend auf dem Sofa durchaus vorstellen. So, wie wir es ursprünglich vorgehabt hatten.

„Müssen tun wir mal gar nichts“, lautete meine mickrige Antwort.

„Liara! Bitte!“ Flehend schaute er mich mit seinen braunen Dackelaugen an. „Diese Einladung klingt wie die beste Nacht unseres Lebens.“

„Stef, du übertreibst.“ Seufzend nahm ich ihm die schwarze Karte mit den goldenen Verzierungen aus der Hand, schaute sie mir erneut gründlich an. Kein Absender, nichts. Ich hatte absolut keine Ahnung, von wem ich diese Einladung bekommen hatte.

„Ist doch egal, von wem sie ist“, antwortete Stefan, als könnte er meine Gedanken lesen. Da er schon seit Kindheitstagen an meiner Seite war, könnte dies also gut möglich sein. Schließlich wusste auch ich meistens, was in seinem Köpfchen vor sich ging.

„Was, wenn sie von einem Serienmörder stammt? Oder sich jemand einfach einen blöden Scherz erlaubt? Meine Wohnung ausrauben will?“

„Liara“, lachte Stef. „Du denkst viel zu pessimistisch. Außerdem gibt Devil schon auf deine Wohnung acht, niemand vergeht sich an deinen Wertsachen, ohne angefaucht und gebissen zu werden.“

„Angel. Mein Kater heißt Angel.“ Anklagend schaute ich meinen besten Freund an.

„Wenn schon, dann mit einem B vorne. Ein Engel ist er nämlich echt nicht. Kleines Teufelchen würde da schon eher passen.“

„Ihr seid einfach noch nicht wirklich warm geworden. Angel kann der liebste Kater sein, wenn er will“, verteidigte ich meine schwarz-weiße Samtpfote.

Stef hob eine Augenbraue, was ich jedoch nur kichernd mit einem Augenrollen quittierte.

„Also, was sagst du?“, nahm er das eigentliche Gespräch wieder auf. „Gehen wir hin?“

◦◊◦

Ich konnte es nicht glauben, aber ich stand tatsächlich neben einem schief grinsenden Joker direkt vor dem Beginn eines Feldweges, von dem Stefan und ich uns ziemlich sicher waren, dass er uns zum Ziel führen würde.

„Wenn das ein Reinfall ist, dann schuldest du mir einen Serienmarathon.“

„Und wenn es die beste Nacht deines Lebens wird, dann will ich dreißig verschiedene Plätzchensorten in der Weihnachtszeit von dir.“

„Dreißig!“, rief ich entrüstet aus. „Sag mal, spinnst du? Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte.“

„Angst, es könnte doch die beste Nacht deines Lebens werden?“

„Quatsch! Dann also dreißig, von mir aus. Dafür guckst du schnulzige Liebesgeschichten mit mir, ohne abfällige Bemerkungen.“

„Uff, schwierig. Reicht es dir, wenn ich zustimme, mein Bestes zu geben?“

„Nein.“

„Na schön, dann verspreche ich dir hiermit hoch und heilig, dass ich ...“

„Ich will deine Hände sehen“, unterbrach ich ihn.

„Kein Vertrauen?“ Stef hielt mir lachend seine Hände entgegen.

„Mit gekreuzten Fingern hast du dich schon oft genug hinaus geredet. Heute gehe ich lediglich auf Nummer sicher.“

„Na gut. Also, ich verspreche hoch und heilig, kitschige Liebesschnulzen mit dir zu sehen, und dabei vollends begeistert zu sein.“

„Du Esel“, murrte ich, woraufhin er nur noch lauter lachte. Das passte übrigens hervorragend zu seinem Gesamtbild als Joker, was ihn in der mondbeschienenen Nacht tatsächlich ziemlich gruselig wirken ließ.

„Komm schon, hübsche Quinny, lass' uns die Party suchen gehen.“

Da ich mich als Harley Quinn verkleidet hatte, passten wir perfekt zusammen. Wir beide hatten an solchen Tagen wie heute meistens Matching Outfits. Das hatte sich seit unserer Kindheit nicht geändert, selbst dann nicht, als einer von uns in einer festen Beziehung gewesen war.

Links neben uns befand sich eine kleine Waldzeile, darunter ein fließender Bach. Rechts von uns wuchsen viele Maispflanzen empor. Ich fand Maisfelder ohnehin schon ein klitzekleines bisschen gruselig, und wenn ich dann auch noch mitten in der Nacht daneben vorbei gehen musste, machte es meine Angst diesbezüglich nicht sonderlich besser.

Wir ließen die Wohnsiedlung hinter uns, kamen dafür der hölzernen Hütte, die ich während meiner Laufrunden schon immer absolut unheimlich fand, immer näher. Rund um die Hütte befanden sich nämlich nichts als Wald und Felder. Zu Jahreszeiten wie dieser schossen oftmals Sonnenblumen oder Maispflanzen aus der Erde, weshalb die Hütte ziemlich versteckt lag.

Erneut jagten Bilder eines Massenmörders durch meinen Kopf. Verdammt, war es wirklich eine gute Idee, alleine durch die dunkle Nacht zu stampfen? Genau solche Nächte wie Halloween wirkte perfekt für eine Attentat wie ein solches, das sich in meinen Gehirnzellen festsaugte.

„Liara, ich kann dich denken hören“, schmunzelte der Clownprinz des Verbrechens neben mir. „Du hast ja  mich an deiner Seite, der Joker würde niemals zulassen, dass seiner Geliebten etwas passiert“, feixte er und legte mir seinen starken Arm um die Schultern.

„Nur bist du Stefan und nicht wirklich der Joker“, erinnerte ich ihn. Er zog mich daraufhin noch näher an sicher heran, weshalb ich ihn grinsen hören konnte.

Heute Nacht war es frisch, doch das hatte der Herbst so an sich. Ein angenehmer Duft nach feuchtem Laub, Pilzen und Kastanien lag in der Luft und unter unseren Schuhsohlen knirschten die kleinen Steinchen auf dem Feldweg.

Ich hatte mich für Harley Quinn aus den DC Comics entschieden und nicht für die neuere Version aus Suicide Squad. Meine kupferroten Haare waren demnach unter dieser schwarz-roten Narrenmütze gut versteckt. Da ich mein Outfit nicht ruinieren hatte wollen, hatte ich mich gegen eine Jacke entschieden, was ich im Moment jedoch bereute. Ja, mein Ganzkörperkostüm hielt mich einigermaßen warm, doch nachts im Oktober sollte ich in Zukunft wirklich nicht auf eine Jacke verzichten.

„Hörst du das?“, fragte Stefan unvermittelt und blieb stehen. Ich lauschte ebenfalls in die Nacht hinein. Neben uns plätscherte der Bach munter vor sich hin, während in der Ferne Musik auszumachen war. Zumindest konnten wir den Bass bis hierher vernehmen.

„Ja“, antwortete ich meinem besten Freund leise.

Wir schauten uns an. Mit einem Mal kam richtige Vorfreude auf diesen Maskenball in mir auf, sie ließ sich nicht mehr stoppen. Vielleicht würde ich mich heute tatsächlich amüsieren? Mit Stefan an meiner Seite war das jedoch unumgänglich, weshalb ich mich plötzlich sehr auf diese Gruselnacht-Party freute.
Bereits einige Meter vor der verlassenen Holzhütte hatten wir Stimmen vernehmen können. Mittlerweile waren wir ebenfalls schon bei der Hütte angekommen, die wohlgemerkt kein Dach besaß. Viele junge Erwachsene tummelten sich hier, alle gut verkleidet und voller Vorfreude, was sie auf dem Maskenball erwarten würde.

Inzwischen hatte mich die Euphorie der Menschen komplett angesteckt, und meine Gedanken an Mörder, Räuber und andere Verbrecher waren wie eine Seifenblase zerplatzt. Vor allem, da ich Batman unter der Menge ausmachen konnte, und er ließ doch sowieso nie zu, dass uns Menschen etwas passierte. Richtig?

Es wurde gute Musik gespielt, die uns das Warten etwas verkürzen sollte. Als ich einen Blick auf mein Handy warf, war es zwei Minuten vor zwanzig Uhr. Meine Aufregung stieg ins Unermessliche, denn jetzt fragte auch ich mich, wie die Nacht wohl werden würde? Und das, obwohl ich normalerweise kein Partymensch war.

Dann war es endlich soweit. Die knarrende Tür öffnete sich, und zum Vorschein kam ein ekelhaft gruseliger Clown. So schnell konnte Stef gar nicht schauen, klammerte ich mich schon an seinen Arm und versteckte mich halb hinter seinem Körper. Das entlockte ihm lediglich ein leises Lachen.

„Entspann' dich, Liara. Darunter ist auch nur ein Mensch.“

Ich grummelte meinem besten Freund eine unverständliche Antwort entgegen.

„Happy Halloween!“, rief der Clown in die Runde. Hatten sich einige soeben noch unterhalten, war es mit einem Mal mucksmäuschenstill. Jetzt schienen auch die Letzten sein Erscheinen bemerkt zu haben. „Es freut mich, dass ihr so zahlreich erschienen seid. Vielleicht fragt sich der ein oder andere, weshalb genau ihr die Einladung erhalten habt, was ich euch gerne vorneweg erklären kann. Ich habe einfach nach jungen Leuten in der Umgebung Ausschau gehalten, um den Maskenball so richtig krachen lassen zu können. Hier in der Hütte“ er zeigte hinter sich „wird in einer halben Stunde die Band Die Steirer Madln spielen. Getränke und Snacks findet ihr ebenso hier drinnen. Ansonsten könnt ihr euch gerne auch ausbreiten, und den Wald um uns ausnutzen. Eine Schnitzeljagd wurde ebenso vorbereitet. Es gibt fünf Stationen, mit schaurigen Preisen. Also dann, haut rein!“

Der Clown drehte sich um und spazierte in die Hütte hinein. Die Musik, die während seiner Rede kurz leise gedreht worden war, spielte erneut in voller Lautstärke.

„Komm.“ Stef zog mich am Handgelenk vorwärts, denn er wollte ins Innere der Hütte. Gemeinsam mit ihm noch viele andere junge Leute, nur meine Vorfreude war in Unbehagen umgeschwungen. Ehrlich, Halloween war wohl doch nicht wirklich etwas für mich. Ich gruselte mich ohnehin viel zu schnell, und so ein Clown machte es dann echt nicht besser.

In der heruntergekommenen Hütte war alles herbstlich und schaurig dekoriert worden. Es waren einige Stehtische, ebenso wie Bierbänke und Tische aufgebaut. Hier hatten sich die Veranstalter richtig ins Zeug gelegt. Es gab sogar eine Nebelmaschine, die zusätzlich ein beklemmendes Gefühl in mir auslöste. Ich hätte einfach in meiner Wohnung auf meiner Couch bleiben sollen. Angel hätte sich über meine Anwesenheit sicherlich gefreut.

Irgendwann drückte mir Stefan ein Getränk in die Hand, unterbrach meine Gedanken an Zuhause und schmunzelte sichtlich über mich. Nachdem wir uns gut umgeschaut und beschlossen hatten, an der Schnitzeljagd nicht teilzunehmen, weil ich ein zu großer Angsthase war, war es endlich soweit und die Frauenband begann zu spielen. Ich hatte noch nie etwas von ihnen gehört, aber sie waren nicht schlecht, sondern sogar richtig gut. Solange ich mich auf die Band konzentrierte, stellten sich meine Ängste ganz hinten an. Ich war natürlich keine fünf mehr, das wusste ich, und trotzdem fand ich so einen mysteriösen Maskenball dann doch mehr als nur unheimlich. Ob es heute also die beste Nacht meines Lebens werden würde? Ich bezweifelte es stark.

„Stef!“, rief ich kopfschüttelnd. Doch mein bester Freund ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen, kletterte geschickt auf einen der Biertische und tanzte dort ungeniert zur Musik. Ja, das war Stefan, wie er leibte und lebte. So wie ich ihn kannte, tanzte er dort oben so lange, bis er erste Sternchen sah.

„Ich wusste gar nicht, dass der Joker einen so guten Hüftschwung hat.“

Überrascht drehte ich mich zu der tiefen, männlichen Stimme neben mir. Mit großen Augen starrte ich den Mann an, dessen Blick weiterhin auf meinem besten Freund haftete.

„Ja, uhm ... er tanzt für sein Leben gerne. Soll ich euch bekannt machen? So wie ich ihn kenne, verguckt er sich schnell mal in den Dunklen Ritter mit der sexy Stimme.“ Scheiße, hatte ich das soeben laut gesagt? Augenblicklich färbten sich meine Wangen rot, doch das konnte man durch mein gut aufgetragenes Make-Up nicht erkennen. Ebensowenig wie meine große Narbe, die sich unter meinem rechten Ohr befand.

Der Mann, der sich als Batman verkleidet hatte, drehte seinen Oberkörper nun zu mir und musterte mich ausführlich. Sein Blick ließ meinen Körper sofort in Flammen stehen. Die Luft zwischen uns knisterte plötzlich. Eigentlich glaubte ich nicht an Liebe auf den ersten Blick, schon gar nicht, wenn man komplett verkleidet war, doch die Anziehungskraft zwischen uns war beinahe greifbar.

„Was, wenn sich Batman eher in Harley Quinn verguckt, als in den Joker?“, wollte er mit rauer Stimme wissen.

Meine Kehle fühlte sich staubtrocken an, ich wagte nicht einmal zu schlucken. Dafür polterte mein Herz umso stärker gegen meinen Brustkorb. Flirtete Batman etwa mit mir?

Bei dem wenigen Licht in dieser Hütte konnte ich nicht viel erkennen, doch seine Augen zogen mich absolut in den Bann. Keine Ahnung, ob sie tatsächlich diese seltene Farbe besaßen, oder dies einfach den Lichtverhältnissen zu verdanken war. Fakt war, dieses Augenpaar war so einzigartig, dass ich für einen Moment alles um mich herum ausblendete.

Seine Iriden erinnerten mich an den letzten warmen Sonnenstrahl, der zwischen den Wolken hindurch blitzte, bevor die Dunkelheit der Nacht hereinbrach. Schwer schluckend konnte ich erst einmal gar nichts mehr sagen, weil mich seine Augen so einnahmen, bis ich mich schließlich räusperte.

„Was, wenn Harley Quinn von der großen Fledermaus auch nicht abgeneigt wäre?“, flüsterte ich.

„Dann wäre die große Fledermaus bestimmt sehr glücklich, wenn die hübsche Verrückte mit ihm an die Bar gehen würde.“

Ich biss mir auf die Unterlippe und nickte. „Das würde ich sehr gerne. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle nur erwähnen, dass ich im Normalfall eigentlich alles andere außer verrückt bin. Ich wollte ja nicht einmal zu diesem Ball, aber mein bester Freund mit dem super Hüftschwung dort vorne hat mich überreden können.“

„Ich glaube, jeder hat einen Funken Verrücktheit in sich. Obwohl es bei mir vielleicht ein komplettes Feuerwerk ist.“ Er grinste mich hinter seiner Maske frech an. „Aber ich kann sogar verstehen, was du meinst. Meine Schwester war es, die mich mitgeschleppt hat. Momentan rockt sie mit ihren beiden Freundinnen die Party. Ich hätte heute einfach nur kleine Kinder erschreckt, die jetzt vergeblich an meiner Tür klingeln.“

Mr. sexy Stimme entlockte mir ein leises Kichern. „Eigentlich bin ich nicht so“, gab ich verlegen zu.

„Wie?“

„So ... offen?“ Ich biss mir auf die Unterlippe. „Vielleicht macht das die Verkleidung. Sie versteckt auch meine Narbe.“

„Diese hier?“ Federleicht berührten seine Finger die Narbe unter meinem Ohr. So zärtlich seine Berührung auch war, so stark fuhr diese von meinem Gesicht bis hin zur letzten Zehenspitze.

„Ja“, hauchte ich, blinzelte ihn erstaunt an. Auf meinen Armen bildete sich eine Gänsehaut, was mein Körper sofort mit einem leichten Beben untermalte. Mir war nicht nur kalt, sondern plötzlich war ich auch unglaublich nervös. Was machte dieser Fremde bloß mit mir?

„Du frierst“, stellte er fest. Ohne, dass ich etwas darauf erwiderte, schwang er seinen Umhang von seinen Schultern und legte ihn mir über die meinen.

„Danke.“ Meine Stimme glich kaum einem Flüstern. Dieser Mann brachte mich vollkommen durcheinander. Wir kannten uns nicht, dennoch war er so zuvorkommend und absolut sympathisch. Ich hatte nicht den geringsten Schimmer wie er aussah, aber komischerweise war mir diese Tatsache komplett egal.

„Ein weiser Mann sagte einst: 'Wer eine Klinge nur nach ihrer äußeren Schönheit beurteilt, ist ein Narr. Einzig der Stahl, aus dem sie gemacht ist, entscheidet über ihre Qualität'. Ich denke, das trifft es ganz gut.“

„Wer hat das gesagt?“, wollte ich mit einem leichten Lächeln von ihm wissen. Meine Wangen hielten weiterhin bestimmt den rötlichen Schimmer aufrecht.

„Meine Schwester liebt Bücher und dieses Zitat hat sie auf ihre Tür geklebt. Als ich noch zuhause gelebt habe, habe ich es täglich gesehen, wenn ich daran vorbeiging.“ Er lachte leise in sich hinein. „Ich habe demnach keine Ahnung, wer es gesagt hat, aber ich weiß, dass es ein Mann gewesen sein muss. Und wegen deiner Narbe: Wir alle haben welche. Die einen sind ersichtlich, die anderen nicht, trotzdem musst du sie niemals verstecken.“

Mein Herzschlag beruhigte sich gar nicht mehr. Wieso fand dieser Mann genau die Worte, die ich hören wollte? Die ich mir so sehr herbeisehnte? Im Moment fühlte ich mich mit meiner Narbe nicht einmal hässlich, sondern seltsam normal. So hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt, und doch hatte er es mit wenigen Worten geschafft.

Kurz darauf begleitete ich Batman zur Bar. Dort quatschen wir ausgelassen über dies und jenes, denn zum Glück taute ich in seiner Gegenwart langsam auf. Ich erzählte ihm, in welchem Café ich angestellt war, dafür offenbarte er mir, dass er in Wirklichkeit keine Menschenleben in Gotham City rettete, sondern als Automechaniker sein Geld verdiente.

Mit ihm zu reden fühlte sich beinahe so an, als würde ich ihn schon ewig kennen. Wir waren einfach auf einer Wellenlänge, dabei wusste ich noch nicht einmal seinen Namen. Das war dann allerdings auch das nächste, was ich ihn fragte, nachdem er mir schon mein zweites Getränk spendierte.

„Wie heißt du eigentlich?“

„Marco.“ Er lächelte mich breit an und hielt mir zusätzlich seine Hand entgegen. Lachend nahm ich diese an.

„Ich heiße Liara.“

„Was für ein schöner Name. Woher kommt er?“

„Meine Mama ist Irin und ja, meine Haare sind tatsächlich rot.“

Marco hob eine Augenbraue. Ich mochte es, dass er gut einen Kopf größer war als ich. „Interessant. Ich würde dich gerne einmal ohne diese Verkleidung kennenlernen. Wollen wir uns mal nach Halloween irgendwo treffen?“

Mein Herz flatterte aufgeregt, zeitgleich erhoben sich tausende kleine Schmetterlinge in meiner Magengegend, weshalb es angenehm darin kribbelte.

Lächelnd setzte ich zu einer Antwort an, wurde leider aber von einem blutigen Häschen unterbrochen, welches zu ihm lief und die Arme um seinen Hals warf. „Es fängt zu regnen an!“, quietschte das verkleidete Häschen.

„Lisa“, lachte mein Batman und schüttelte den Kopf. Gleich darauf standen auch noch zwei weitere kostümierte Mädchen neben uns. Eine gruselige Nonne und eine tot wirkende Krankenschwester lächelten mir freundlich zu.

„Liara, hier bist du“, stieß plötzlich auch noch Stefan zu uns. Was war denn jetzt auf einmal los? „Oh hey, so sieht man sich wieder, Batman“, begrüßte er Marco, als seien sie alte Freunde.

„Joker.“ Marco nickte ihm knapp zu, konnte aber das Grinsen nicht verstecken.

„Ich habe erste Tropfen gespürt“, sprach nun auch mein bester Freund an mich gewandt.

„Wir müssen nach Hause. Ich will nicht komplett nass werden“, redete diese Lisa auf meine Fledermaus ein. Ich nahm an, dass sie seine Schwester war, von der er heute gesprochen hatte.

Wir schauten uns ein letztes Mal in dieser Nacht in die Augen. Verdammt, hätte ich gewusst, dass ich Marco gleich in der Menschenmenge verlieren würde, hätte ich ihn davor noch um seine Handynummer gebeten. Doch wie es das Schicksal so wollte, trennten sich unsere Wege.

◦◊◦

Es schüttete aus Eimern. Obwohl Stef und ich, im Gegensatz zu sehr vielen anderen Gästen, den Maskenball relativ rasch verlassen hatten, waren wir mittlerweile pitschepatschenass.
„Ich kann es nicht glauben, dass ich nicht einmal seine Handynummer habe“, jammerte ich zum gefühlt hundertsten Mal, während Stef und ich den kompletten Feldweg entlang zurück zu meiner Wohnung rannten.
Es gab exakt drei Feldwege, die zur Hütte führten, und da mein Batman mit seinen drei gruseligen Begleitungen den unseren nicht entlang lief, musste er über einen anderen Weg gekommen sein.

„Was zusammen gehört, findet sich wieder. Ich bin mir fast sicher, dass ihr euch wieder sehen werdet, schließlich ist unser Kaff ja nicht so groß.“

„Ich habe aber fast keine Anhaltspunkte“, murrte ich.
Endlich kamen wir der Straße näher. Laternen beleuchteten die Finsternis der Nacht, und begleiteten uns innerhalb der nächsten fünf Minuten zu dem Wohnblock, in welchem ich lebte. Angel wartete dort bestimmt schon sehnsüchtig auf mich. Bei meinem Kater würde ich mich später noch lange genug ausheulen, er war einfach der beste Zuhörer. Aber ich bezahlte auch sein Futter, also hatte er absolut keine andere Wahl, als sich die Geschichte über meinen mysteriösen Batman anzuhören.

◦◊◦

Ich war richtig deprimiert. Es verging keine Stunde an diesem verregneten Wochenende, in der ich nicht an Marco dachte.

Da ich die Wette mehr oder weniger verloren hatte, beziehungsweise die Halloweennacht aufgrund des Regens ein Reinfall, gleichzeitig wegen meiner neuen Bekanntschaft aber auch zu so etwas wie der besten Nacht meines Lebens geworden war, hatten Stef und ich uns dazu entschieden, meine Lieblingsserie mit einigen meiner selbstgemachten Plätzchen zu genießen. Deshalb war ich momentan fleißig am Backen und versuchte mich somit ein klein wenig abzulenken.

Trotz allem dominierte Batman meine Gedanken. Es ließ sich einfach nicht stoppen, so sehr ich es auch versuchte.
Mittlerweile war ich nämlich auch schon so verzweifelt, dass ich alle Autohäuser in der Umgebung abklappern wollte. Als Vorwand würde ich Marcos Umhang nutzen, da ich ihm das Kleidungsstück gerne zurückgeben wollte. Bereits Montagnachmittag würde ich mit meinem Vorhaben beginnen, gleich nach der Arbeit. Ja, genau so nahm ich es mir vor.

◦◊◦

An einem Montagmorgen war in dem Café, in welchem ich arbeitete, meistens wenig los. So wie heute eben auch. Meine Chefin hatte gerade erst vor zehn Minuten aufgesperrt, doch es saß nur ein älteres Pärchen an einem Tisch und genoss das Frühstück.
Meine kupferroten Haare hatte ich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, sodass man deutlich erkennen konnte, wie lang meine Haare waren. Sie reichten mir fast bis zur Hüfte.

Auf den ersten Blick hin schien es wie ein normaler Montag zu werden. Doch dann erklang das Türglöckchen und ein gutaussehender, junger Mann trat herein. Seine kastanienbraunen Haare standen wirr in alle Richtungen, was vermutlich auch dem heutigen windigen Tag zu verschulden war.

Ich glaubte, ich war ihm bei meinen Laufrunden schon das ein oder andere Mal begegnet, sein Gesicht kam mir auf jeden Fall sehr bekannt vor.
Unsere Augen trafen aufeinander, doch aus der Ferne konnte ich nicht sagen, welche Augenfarbe er hatte. Mit großen Schritten ging er auf die schmale Eckbank zu, setzte sich hin und studierte die Karte. Sein Oberkörper war lang, doch ich vermutete, dass er nur höchstens einen Kopf größer sein mochte, als ich.

Nachdem ich ihm lange genug Zeit gelassen hatte, trat ich an seinen Tisch und setzte mein freundliches Lächeln auf. „Guten Morgen, was darf es denn sein?“

„Guten Morgen.“ Huch, diese Stimme! Sie kam mir so vertraut vor. Ich dachte an Halloween, doch verwarf meinen Gedanken gleich wieder. Obwohl ... Meine Augen wanderten zu meinem Notizblock, keine Sekunde später schlug ich meine Wimpern erneut zu ihm nieder und lächelte ihn zaghaft an.
„Normalerweise macht mir Regen nichts aus, aber an Halloween hat dieser eine nächtliche Regenschauer mein Gespräch mit einer unglaublich interessanten Person unterbrochen“, hörte ich ihn sagen.

Ich stülpte meine Lippen ineinander, grinste nur noch breiter. „Dieser Schauer hatte es echt in sich“, erwiderte ich leise grinsend. „Der Joker und Harley Quinn kamen vollkommen durchtränkt zuhause an.“

„Batman und seinem Häschen ging es nicht anders.“
Ich lachte aufgrund seiner Wortwahl auf, konnte es gleichzeitig aber einfach nicht fassen.

Marco war hier!

Er sah so verdammt gut aus, dass ich ihn am liebsten von Kopf bis Fuß betrachten wollte, doch meine Nervosität verbot es mir. Was ich dafür wahrnahm war, dass er in seinem dunkelbraunen Hoodie verboten gut aussah. Seine Haare luden absolut dazu ein, sie zu berühren, sein angenehm herber Duft wehte zu mir herüber und seine langen Finger ließen Fantasien in meinem Kopf erwachen, die momentan total unangebracht waren.
„Ich dachte mir schon fast, dass du es bist. Also, weil wir uns beim Laufen öfter begegnen“, holte er mich aus meinen Gedanken.

„Stimmt.“ Ich war ihm also auch aufgefallen? Diese Tatsache ließ mein Herz gleich nochmal doppelt so schnell schlagen. „Vielleicht gehen wir ja einmal zusammen laufen?“

„Das würde mich sehr freuen.“
„Dann kann ich dir deinen Umhang wieder geben.“

Marco lachte leise in sich hinein. „Meine Schwester hat mich schon gefragt, wo er abgeblieben ist und ob ich ihn etwa der mega cool geschminkten Harley Quinn gegeben habe. Ihre Worte.“

Er brachte mich zum wiederholten Mal zum Lachen. „Schön, dass du hier bist“, sprach ich ehrlich aus, biss mir jedoch keinen Wimpernschlag später verlegen auf die Unterlippe.

„Da du mir gesagt hast, wo du arbeitest, musste ich einfach herkommen. Obwohl wir uns bestimmt auch beim Laufen wieder begegnet wären.“

„Ich hätte dich aber niemals dem Batman vom Maskenball zuordnen können.“
„Deine Haare und deine Narbe haben dich verraten.“

Ich schluckte, schaute ihm intensiv in die Augen. Erneut schaffte er es, dass ich meine Umgebung komplett ausblendete. Lediglich seine Augen zählten. Er zählte.
„Also, Liara. Zurück zu meiner letzten Frage: Möchtest du dich mit mir irgendwo irgendwann einmal treffen? Vielleicht zum Laufen, wie du eben vorgeschlagen hast, vielleicht aber auch zum Essen?“

„Ja, sehr gerne.“ Als wäre mein breites Grinsen nicht schon Antwort genug.
Wir tauschten unsere Handynummern aus, verabredeten uns für diesen Freitag, während ich die ganze Zeit so glücklich wie ein Kleinkind war, welches seinen Willen durchsetzen hatte können.
Marco bestellte sich einen Coffee to go, da er gleich in die Arbeit musste. Dass er davor noch bei mir vorbeigeschaut hatte, ließ die Schmetterlinge in meinem Bauch sofort erneut wild flattern.

Den ganzen Tag dachte ich über ihn nach. Schon beim Maskenball hatte er gewusst, wer ich war, ich jedoch hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt.
Stef hatte Recht behalten. Diese Nacht war tatsächlich zu einer der besten in meinem Leben geworden. Dafür, dass mich mein bester Freund zu meinem Glück überreden hatte können, war ich ihm im Stillen unglaublich dankbar.

- Ende -

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