EmiShiroi | Tag der Dämonen

EmiShiroi

1. Rita

Azazel lief nachdenklich durch das alte, verfallene Gebäude. Letztes Jahr hatten die anderen ihn hierher eingeladen, um gemeinsam den Tag der Dämonen zu feiern, aber er hatte abgelehnt.
Dieses Jahr schien niemand außer ihm hier zu sein.

Wenn er ehrlich war, hatte er mehr vom Gebäude erwartet. Es war lediglich groß und alt. Für menschliche Verhältnisse. Nicht aber für ihn, einen gefallenen Engel, der schon vor tausenden vor Jahren auf dieser Welt gelebt hatte. Warum hatte er sich eigentlich die Mühe gemacht, hier her zu kommen?
Er zischte abfällig und wollte wieder gehen, als er etwas aufblitzen sah.

Durch ein Fenster, das mittlerweile weder Glas noch Rahmen besaß, schien Mondlicht hinein und reflektierte auf einer glänzenden Oberflächte.
Skeptisch trat Azazel näher. Es war ein Spiegel. Beeindruckend sauber in Anbetracht des Zustandes des restlichen Hauses. Er konnte seine eigene Gestalt problemlos erkennen.

Die schneeweißen Haare und Haut, die violetten Augen, das kleine Mal auf seiner einen Wange. Seine rabenschwarzen Hörner glänzten ebenfalls leicht. Seit er nicht mehr täglich um sein Überleben kämpfen musste, hatte er die Gelegenheit dazu, sein Äußeres wieder mehr zu pflegen.
Sogar seine schwarzen Federn glänzten, doch gerade verschwammen seine Flügel mit der Dunkelheit des Raumes.

Azazel wollte sich bereits wieder abwenden, als ihm etwas auffiel. Sein Spiegelbild trug einen schwarzen Anzug und Mantel mit hohem Kragen und roten Akzenten. Doch als er an sich selbst hinunterblickte trug er seine üblichte schwarze Lederkleidung.
Er machte noch einen Schritt auf die spiegelnde Oberfläche zu. Kurz blendete ihn das Mondlicht, als er in einem bestimmten Winkel davorstand. Als er seinen Kopf leicht neigte, damit ihm das Licht nicht mehr in die Augen schien, stockte sein Atem.

Sein Spiegelbild war nun nicht mehr allein.

An seiner Seite stand ein kleiner Junge, etwa acht Jahre alt. Seine schwarzen, kinnlangen Haare verdeckten sein linktes Auge. Das rechte, ganz blau, blickte vertrauensvoll zu ihm hinauf. Ein sanftes Lächeln lag auf seinen Lippen.
Genau wie Azazels Spiegelbild trug auch er einen rot-schwarzen Mantel und einen Hut. Genau genommen Azazels Hut.
Der Teufel erinnerte sich daran, als er Mugaro seinen Hut gegeben hatte, damit er weniger auffiel. Das war bereits zwei Jahre her. Für ihn nur ein Wimpernschlag, aber dennoch waren diese zwei Jahre unglaublich lange.

In diesem Augenblick hörte er leise Schritte hinter sich und fuhr herum, eine Hand ausgestreckt, bereit sofort anzugreifen.

„Ich bin’s nur“, ertönte eine weibliche, monotone Stimme.
„Zombie Mädchen!“, rief Azazel erstaunt, als er die kleine Gestalt erkannte.
Blassviolette Haut, schwarze Haare unter einem kleinen Hut, ein schwarzes Kleid, das die vielen Narben und Nähte auf ihren Gliedmaßen nicht verbarg und mintgrüne Augen, die ihn desinteressiert anstarrten.
In ihrer Hand hielt sie wie immer ihren Regenschirm mit einem kleinen Schädel als Griff.

„Was machst du hier, Rita?“, erkundigte Azazel sich nun höflicher.
Die Nekromantin gehörte zu den wenigen Lebewesen, denen er Respekt zeigte. Sie war auch eine der wenigen, die ihn verdienten.

„Ich wollte mir diesen Spiegel genauer ansehen“, erklärte sie und deutete mit dem Griff ihres Schirms hinter Azazel.

Ihre Stimme war hoch, wie man es von einer Zwölfjährigen erwarten würde, doch ihr Tonfall sprach vom Gegenteil. Sie klang gelangweilt, nahezu apathisch. Die zweihundert Jahre, die sie als Nekromantin mit ihren toten Eltern verbracht hatte, welche sie letztendlich selbst zu einem Zombie gemacht hatten, waren an ihr nicht spurlos vorübergegangen.

Auf ihrer Schulter saß wie üblich Rocky, eine Hand, welche durch ihre Magie ein Eigenleben entwickelt hatte, und ihr als Assistent zur Seite stand.
Er winkte Azazel zu und verbeugte sich leicht.

„Was ist das für ein Spiegel?“, erkundigte sich Azazel und ließ Rita vorbei.

„Das versuche ich ja herauszufinden. Die anderen trauen sich nicht mehr her, weil sie nicht damit umgehen können, daher bin ich diesmal allein.“

„Mit was nicht umgehen können?“
Rita fixierte den Teufel mit scharfem Blick.

„Mit dem, was sie sehen.“
Azazel schwieg, blickte aber nicht weg.
Letztendlich seufzte Rita gelangweilt und wandte den Blick ab.

„Was siehst du im Spiegel? Gibt es irgendein Muster?“, erkundigte sich Azazel nun neugierig und stellte sich neben sie.
Obwohl sie ebenfalls zu sehen sein müsste, befanden sich nur er selbst und Mugaro auf der spiegelnden Oberfläche.

„Das geht dich nichts an“, erwiderte Rita und wandte sich demonstrativ von ihm ab. „Aber jeder sieht jemand anderen, den er verloren hat. Einen Geliebten, einen Freund, seine Familie, und so weiter. Wahrscheinlich Trauer oder Reue.“
Azazel starrte den kleinen Jungen an seiner Seite an. Auch jetzt lächelte er weiter und nickte ihm leicht zu.

„Wen siehst du denn?“, fragte Rita und wandte sich wieder zu ihm um.
Der Teufel blickte sie an und seine Augen wurden dunkel. „Das geht dich ebenfalls nichts an.“
Im nächsten Moment wurde Ritas Blick weicher und die Teilnahmslosigkeit verschwand.
„Verstehe.“
Azazel richtete seine Aufmerksamkeit wieder in den Spiegel.

Rita wusste, wen er sah. Er wusste auch, naja vermutete, wen sie dort sehen konnte.
Die Nekromantin war dabei gewesen, als es passiert war. Als Mugaro gestorben war. Sie war die Ärztin gewesen, die alles getan hatte, um den Jungen zu retten. Aber es war ihr nicht gelungen.
Azazel gab ihr keine Schuld. Rita hatte auch ihn selbst schon unzählige Male gerettet, damals, als er noch jede Nacht aufgebrochen war, um für sein Volk zu kämpfen. Er war jedes Mal voller Blut, oft auch voller Wunden zurückgekehrt und Rita hatte ihn versorgt.
Daher respektierte er das Zombie-Mädchen.

„Interessant ist, dass der Spiegel nur am Tag der Dämonen verflucht ist. Zu jedem anderen Zeitpunkt ist es ein normaler Spiegel“, sprach Rita nun weiter und lief im Raum auf und ab.
„Hat jemand ihn schon davor gefunden? Bevor es diesen verdammten Tag gab?“

Eigentlich interessierte der Spiegel ihn nicht. Aber dass er Mugaro zeigte, so wie er sich an ihn erinnerte, löste etwas in ihm aus. Dieser Spiegel konnte in ihn hineinblicken. Wusste Dinge über ihn, die er niemandem erzählen würde. Schließlich war er Azazel, neben Lucifer der oberste Teufel und Herrscher über die Dämonen.
Wenn jemand erfahren würde, dass er einen kleinen Jungen liebgewonnen und aufgezogen hatte … Nichtmal seinem Bruder Lucifer hatte er davon erzählt.

„Nein, das ist das Problem. Ich hatte eigentlich vor, ganz viele Menschen hineinschauen zu lassen, am besten auch Kinder, um herauszufinden, wie er funktioniert. Was ist, wenn jemand niemanden verloren hat? Zeigt er einfach nur etwas Trauriges? Etwas möglichst emotionales? Vielleicht sehen manche sogar etwas Positives, wer weiß.“
Rita seufzte und zuckte mit den Schultern.

„Aber letztes Jahr hat das Ding die komplette Stimmung runtergezogen und alle weigern sich, nochmal reinzuschauen. Verstehen kann ich es ja, ist bestimmt traurig. Aber so kann ich auch nichts herausfinden. Vielleicht nächstes Jahr wieder.“

So teilnahmslos wie Rita darüber sprach, was sie im Spiegel sah, konnte sie nicht allzu emotional getroffen sein. Zwar ließ sie sich selten etwas anmerken, aber gelegentlich brachen ihre Gefühle doch aus ihr heraus.
Azazel sah sich dadurch in seiner Vermutung bestätigt, wen sie sah. Kaisar, einen Mann, den sie liebte und den er versehentlich ermordet hatte. Es war mehr Selbstmord von Kaisars Seite aus gewesen, als wirklich Azazels Schuld, aber letztendlich machte es keinen Unterschied, da Rita ihn als Zombie wiedererweckt hatte, nachdem der erste Schrecken vorbei war.
Sie trauerte also nicht, da sie ihn nun wieder an ihrer Seite hatte.

Azazel nickte nur und wandte sich zum Ausgang. Warum sich die anderen so verhielten, verstand er nicht, schließlich waren sie auch in der Lage über ihre Verluste zu sprechen. Aber es waren Menschen. Von ihnen hatte er noch nie viel erwartet.

„Sollen wir irgendwo was trinken?“, schlug er vor und wunderte sich selbst ein wenig über seine soziale Art. Wahrscheinlich hatte die Erinnerung an Mugaro das alles zurückgeholt. Erinnerungen an die Zeit, als sie gemeinsam gegessen und gelebt hatten. Manchmal sogar gelacht.
„Warum nicht.“ Rita klang genauso gelangweilt wie immer, als sie ihm nach draußen und durch die dunklen Straßen folgte.

Sie machten einen Bogen um die Festzüge und großen Feuer, die überall in der Stadt errichtet wurden. Ohne sich abzusprechen liefen sie auf direktem Weg ins Armenviertel, wo sie bis vor zwei Jahren noch gelebt hatten.
Dort angekommen bemerkte Azazel, dass Ritas Zuhause noch immer ordentlich gepflegt war. Sie kam wohl oft noch hierher zurück. Nicht so wie er selbst.

Während Rita Rocky Tee kochen ließ und Azazel die Hand fasziniert beobachtete, setzten sie sich an einen Tisch.

„Die anderen sind alle auf dem Fest?“, erkundigte sich Azazel und Rita nickte.
„Kaisar ist mit Favaro verabredet und Nina ist wie immer bei Chris. Sogar Bacchus ist diesmal mit Sofiel unterwegs.“ Sie überlegte einen Moment. „Nur von Jeanne weiß ich nichts. Wahrscheinlich wird sie an einer der Paraden teilnehmen.“
Azazel nickte. Obwohl er an keinem der Genannten sonderlich Interesse zeigte, war es doch gut zu hören, dass sie alle normal ihr Leben lebten.

„Warum drückst du dich eigentlich allein irgendwo herum? Keine Dämonen-Freunde, die mit dir das Fest verbringen wollen?“
Rita grinste kurz und Azazel zischte genervt. „Ich werde an diesem Fest niemals feiern.“
Das Zombie-Mädchen seufzte. „Versteh ich ja.“

Den Tag der Dämonen gab es erst seit zwei Jahren. Seit der Krieg zwischen Menschen, Engeln und Dämonen endlich geendet hatte. Auf Drängen von Nina, der Geliebten des Königs Charioce XVII, hatte dieser einen Feiertag erlassen, zu Ehren der Dämonen, vor allem der gefallenen.

Azazel verzog das Gesicht. In Gedenken an alle Dämonen, die der König selbst hatte ermorden und versklaven lassen. Nur sein Augenlicht zu verlieren war zu wenig einer Bestrafung, um all das Leid wieder gut zu machen, dass er über die Welt gebracht hatte.

Der Tag, welchen er auserkoren hatte, war genau der gewesen, an dem er die Hauptstadt der Dämonen Cocytus überrannt und erobert hatte, unzählige Dämonen versklavt und den Rest vertrieben hatte. Immerhin ersetzte der Tag der Dämonen nun den Festzug, den der König während Kriegszeiten veranstaltet hatte, um zu feiern, dass die Menschheit den Dämonen endlich überlegen war.

Eine ziemlich scharfe Wendung, die dennoch nicht genügte, damit Azazel all das Leid seines Volkes und seiner Untergebenen vergeben würde.

Rocky riss ihn aus seinen Gedanken, als er mit einem lauten Scheppern eine Porzellantasse vor ihm abstellte.
Rita seufzte und stand schnell auf, um die Teekanne selbst zu holen, denn Rocke fehlte Verständnis für die Zerbrechlichkeit von Gegenständen. Er würde auch versuchen, mit einer vollen Teekanne durch den Raum zu hüpfen und dabei die heiße Flüssigkeit überall zu verteilen.
„Genau wie sein Vater“, murmelte Rita kopfschüttelnd.

Azazel fand es noch immer etwas widerwärtig, dass Rita Kaisar als Rockys Vater bezeichnete. Zugegeben, es war seine Hand, die bei einem Kampf abgeschlagen wurde, aber es erschien ihm dann doch etwas abstoßend.

Immerhin war der Tee ganz gut, stellte er nach einem kleinen Schluck fest. Rita nahm ebenfalls einen Schluck, obwohl das Getränk noch viel zu heiß war.
Dem Teufel, der tausende Jahre in einem Vulkan gelebt hatte, und einem Zombie ohne Nerven, machten das allerdings wenig aus.

2. Jeanne

Im nächsten Augenblick klopfte es an der Tür. Rita nickte Rocky zu, der eilig vom Tisch sprang und dann auf die Tür zulief. Mit absurder Schnelligkeit, stützte sich die Hand auf ihre Finger und sprang ab, gerade hoch genug, um sich an der Klinge festzuhalten.

„Vielen Dank“, richtete sich eine tiefe Frauenstimme an die Hand und hob sie hoch.
Erstaunt blickten Azazel und Rita die blonde Frau an, die hereintrat.
Jeanne D’Arc, Mugaros Mutter und ehemaliger Heiliger Ritter, nickte ihnen zu und schloss die Tür wieder hinter sich.

„Ich habe Licht brennen sehen und würde mich über ein wenig Gesellschaft freuen“, erklärte sie.
Rita deutete lediglich auf einen Stuhl, der an der Wand stand.

Jeanne lächelte kurz und setzte sich dann zu ihnen. Ihre blonden Haare waren wie üblich zusammengebunden und ihre magentafarbenen Augen leuchteten leicht im Kerzenlicht.
Lediglich ihre schwarze Kutte zeigte, dass sie auf dem Fest gewesen war.

„Wie kommt es, dass genau ihr beiden hier Tee trinkt?“, erkundigte sie sich und bedankte sich bei Rocky, der ihr ebenfalls eine Tasse gebracht hatte.
„Kaisar ist mit Favaro trinken und ich habe ihn bei der alten Villa gefunden“, erklärte Rita und zuckte mit den Schultern.

Azazel blickte Jeanne nur kurz an und nahm dann einen weiteren Schluck seines Tees. Die Frau pustete einige Male, bevor sie vorsichtig an ihrer Tasse nippte und sich wohl verbrannte, denn sie stelle sie hastig wieder weg.

Zwischen den beiden herrschte ein merkwürdiges Verhältnis. Jeanne war Mugaros Mutter, hatte ihn allerdings nur ein paar Jahre aufziehen können, bis sie ihn in die Sklaverei verkaufen musste, um ihn zu verstecken. Als Heilige Ritterin und von den Göttern erwählt, hatte König Charioce sie einsperren lassen, nachdem er Krieg gegen die Engel führte.
Azazel hatte Mugaro dann aus der Gefangenschaft befreit und sich um ihn gekümmert, unwissend, dass er einen Halbengel aufzog.

Die Feindschaft zwischen den beiden, die durch den ewigen Kampf zwischen Engeln und Dämonen enstanden war, hatte mit Mugaros Tod allerdings ein Ende gefunden. Denn dieser Schlag hatte sie im Kampf gegen die Menschen vereint.
Und auch wenn dieser Krieg jetzt vorüber war, war es auch ihre Feindseligkeit.

Mehr als die Trauer über Mugaro verband die beiden allerdings auch nicht, weswegen sie in keinerlei Kontakt standen.

„Warum denn die alte Villa?“ Jeanne musterte erst Azazel und dann Rita. Wenn die beiden sich dafür interessierten, hieß das in der Regel nichts Positives.
„Dort gibt es einen magischen Spiegel. Ich will herausfinden, wie er funktioniert. Und auch warum er es tut.“
Jeanne forderte sie interessiert dazu auf, weiter auszuführen.

Azazel schweifte mit den Gedanken ab. Sollte er heute vielleicht doch zu seinem Volk zurückkehren und sich zumindest einmal zeigen? In ihrer neuen Hauptstadt war die Stimmung gedrückt, genau wie er selbst wollte niemand den heutigen Tag feiern. Vielleicht sollte er einmal in Erscheinung treten und zeigen, dass auch er die Toten respektierte und in Erinnerung behalten würde, was sie alles durchgemacht hatten.

Die Dämonen in der Hauptstadt freuten sich über den Feiertag, der ihnen und ihren gefallenen Freunden gewidmet war. Sie entzündeten große Feuer und Laternen, tranken und unterhielten sich über die Toten. Der Großteil des Alkohohls, der in dieser Nacht floss, kam aus der Tasche des Königs, weswegen ihm zumindest in dieser Nacht verziehen wurde. Tagsüber trat er auch ein paar Mal in Erscheinung und hielt ein paar Reden, um sich bei den Dämonen zu entschuldigen.

Wer durch dieses Fest am meisten hatte, waren die Kinder. Egal welcher Rasse sie angehörten, sie verkleideten sich als Dämonen und liefen alle gemeinsam durch die Stadt, wo sie von den Erwachsenen mit Süßigkeiten beschenkt wurden. So würden sie die Schrecken der letzten Jahre hoffentlich schnell vergessen und sich daran gewöhnen, ohne Feindschaften oder Unterdrückung zusammen zu leben. Und das würden sie hoffentlich auch in den nächsten Jahren behalten, um weitere Konflikte zu verhindern.

„Ich würde diesen Spiegel gerne sehen, würdet ihr mich begleiten?“, bat Jeanne und trank ihre Tasse leer.
Rita zuckte mit den Schultern. „Wie du willst, ich habe eh nichts zu tun. Was ist mit dir, Azazel?“
Der Teufel trank noch einen Schluck Tee und nickte dann. „Meinetwegen.“

Er wollte wissen, ob auch Jeanne Mugaro sah. Wahrscheinlich. Aber er wollte dennoch wissen, ob sie nicht doch etwas anderes sehen würde. Vielleicht Mugaros Vater.

Also machten sie sich kurze Zeit später alle wieder auf den Weg zur alten Villa und Rita ging voraus in den Raum mit dem Spiegel. Der Mond war mittlerweile weitergewandert und das Licht fiel nicht mehr durch das Fenster. Aber wenn man vor den Spiegel trat, zeigte er dennoch etwas, denn die Dunkelheit des Raumes interessierte ihn nicht.

Azazel musterte Jeanne, während sie in den Spiegel blickte. Sie näherte sich vorsichtig und zuckte dann zurück. Mit einer Hand krallte sie sich in den Stoff über ihrem Herzen und der Teufel konnte den Schmerz in ihren Augen erkennen. Einen kurzen Moment meinte er, Tränen glitzern zu sehen, aber Jeanne war stark und hatte durch ihre langjährige Erfahrung als Ritterin gelernt, ihre Gefühle nicht zu zeigen.
Sie atmete ein paar mal tief durch und faltete dann ihre Hände zu einem stummen Gebet.

Ihre Handlungen sagten Azazel, dass sie nicht Mugaro sah. Sie trauerte um ihn, vielleicht genauso sehr, wie er selbst es hatte. Aber dieser Schmerz stammte von etas anderem.

Es war also wirklich Mugaros Vater. Der heilige Engel Michael, der durch Jeannes eigene Hand gefallen war. Er hatte sich für sie geopfert und daher keine Sekunde gezögert, in ihre Klinge zu fliegen. Durch ihn hatte Jeanne den Titel als Heilige Ritterin erhalten, aber auch wieder verloren.

Lediglich Mugaro hatte sie immer an ihren Segen erinnert, bis sie sich schließlich auch von ihm hatte trennen müssen.

Dann hielt Jeanne inne und untersuchte mit zusammengekniffenen Augen den Rand des Spiegels.
„Könntet ihr Licht machen?“, bat sie mit belegter Stimme.
Rita hielt direkt den Griff ihres Regenschirms hoch und die Augen des Totenschädels begannen zu glühen.
Jeanne musterte den Regenschirm einen Moment befremdlicht, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den vergoldeten Rand des Spiegels.

„Er gehört nicht hierher“, meinte sie schließlich und drehte sich zu Azazel und Rita um.
„Wie meinen?“ Im Gesicht des Zombie-Mädchens zeichnete sich zum ersten Mal in dieser Nacht Erstaunen ab.
„Diese Verzierungen und das Siegel sind die des Königshauses. Nur sein Besitz darf dieses Wappen tragen. Dadurch lässt sich auch bei einem Diebstahl alles ihm zuordnen.“

Azazel runzelte die Stirn. Das klang nach unnötigem Geiz der Menschen, aber König Charioce traute er dieses Verhalten ohne Zweifel zu.
„Bist du dir sicher?“, erkundigte sich Rita und trat nun ebenfalls näher.
Jeanne nickte. „Ich habe viele Jahre unter mehreren Königen gedient und kenne dieses Wappen. Woher genaus aus dem Schloss der Spiegel stammt, kann ich euch allerdings nicht sagen.“
Rita seufzte enttäuscht.

„Dann werde ich das Rätsel dieses Jahr wohl nicht mehr lösen können. Naja, das eine weitere Jahr macht auch keinen Unterschied mehr. Danke für die Hilfe, Jeanne.“

Die ehemalige Ritterin nickte lächelnd. Als sie den Raum verließen, warf sie einen letzten Blick auf den Spiegel und erschauderte.

Skeptisch blickte Azazel ihr nach und trat erneut vor den Spiegel. Seltsam. Selbst wenn die Frau Mugaros Vater gesehen hatte, den sie auf tragische Weise verloren hatte, sollte der Spiegel ihr doch nichts so Schreckliches zeigen. Genauso, wie allen anderen Menschen, oder nicht?

Er musterte Mugaro und lächelte leicht. Er sah so friedlich aus, so glücklich. Als wäre er genau dort, wo er sein wollte. Azazel wünschte, dass Mugaro wirklich genau bei ihm hatte sein wollen und es nicht nur getan hatte, da er ihm Schutz bot.

Dann lächelte er leicht. Er wusste es doch eigentlich. Natürlich hatte Mugaro bei ihm sein wollen. Er hatte genug Jahre Zeit gehabt, um das zu erfahren.

Ihm ging erneut Ritas Erzählung durch den Kopf, als er sich vom Spiegel abwandte. Die anderen hatten sich nicht mehr hierher getraut, aus Angst davor, was sie im Spiegel sehen würden. Sie alle hatten wichtige Menschen verloren. Favaro hatte seine Geliebte geopfert, um die Welt zu retten, eine Tat die Nina mit ihrem Chris nicht geschafft hatte. Azazel zischte.

Zu gerne hätte er gesehen, wie dieses Monster von König sterben würde, um immerhin die Welt zu retten.

Aber niemand von ihnen sollte etwas so Schlimmes und Furchteinflössendes sehen. Er selbst sah schließlich auch Mugaro, aber als eine schöne, wenn auch traurige Erinnerung.

„Azazel, wo bleibst du?“, rief Rita ihm genervt zu und er verließ eilig den Raum.

Zurück in Ritas Heim wartete Kaisar auf sie. Favaro war noch immer trinken, allerdings vertrieb er sich mittlerweile die Zeit mit einigen Frauen. Für Kaisar war das der Zeitpunkt der Flucht gewesen.
Als Rita allen voran eintrat, stand der stattliche Zombie erfreut auf. Seine langen Haare waren wie immer vornehm frisiert, statt seiner weißen, simplen Rüstung trug er heute allerdings einen schwarzen Anzug.

„Schön euch zu sehen. Wart ihr ebenfalls auf dem Fest?“

Während er Jeanne und Azazel musterte, die dem Zombie-Mädchen folgten, schien er zu merken, dass etwas daran nicht zusammenpasste. Die drei sah man eher selten zusammen, schon gar nicht auf einer festlichen Angelegenheit.
Außerdem nahm Azazel nicht an den Feierlichkeiten teil, das hatte sogar der sonst etwas begriffsstutzige Kaisar verstanden.

„Wir haben uns die alte Villa und den Spiegel nochmal angesehen. Jeanne meinte, er würde aus dem Schloss stammen. Also muss ihn jemand dorthin gebracht haben, vielleicht gerade wegen seinem Zauber.“
Rita stellte die Teekanne erneut auf den Herd und setzte sich auf einen Stuhl neben Kaisar. Rocky hüpfte von ihrer Schulter und machte es sich auf der seines ursprünglichen Besitzers bequem.
Jeanne nahm sich den anderen Stuhl und setzte sich ebenfalls an den Tisch. Lediglich Azazel blieb mit verschränkten Armen an der Wand stehen.

Nachdem sie eine Tasse Tee getrunken hatte, verabschiedete sich Jeanne, denn sie wollte noch vor Anbruch des Morgens wieder in ihrem Haus auf den Feldern sein und ein klein wenig schlafen, da sie am nächsten Tag Arbeit vor sich hatte.

Azazel ergriff das als Gelegenheit, ebenfalls zu gehen. Er sollte wohl tatsächlich noch einmal in seiner Hauptstadt erscheinen und vor den Dämonen auftreten, da Lucifer sich wahrscheinlich mit einem Buch in sein Zimmer zurückgezogen hatte.

Der Teufel begleitete die ehemalige Ritterin noch bis zu ihrer Hütte, allerdings nicht aus Sorge oder Geselligkeit, sondern weil dort auch das Grab ihres Sohnes stand.

Jeanne ließ ihn allein und er stand ein paar Augenblicke schweigend davor. Er spürte, wie etwas seine Kehle zuschnürte und atmete tief durch. Die Tränen in seinen Augen wollte er nicht. Er hatte früher gedacht, solche Gefühle als gefallener Engel hinter sich gelassen zu haben, aber als er mitansehen musste, wie sein Volk, seine Untergebenen und letztendlich Mugaro starben, war ihm klar geworden, dass sie nicht menschlich waren. Weder Tränen noch Gefühle waren menschlich. Sie gehörten zu jedem Lebewesen, egal wie weit er auch über den Menschen stand.

Er schluckte, um die Enge in seinem Hals zu vertreiben, dann stieß er sich vom Boden ab und flog davon. Erstaunt stellte er fest, dass ihm nun tatsächlich Tränen über die Wangen strömten. Hoch oben an der kalten Luft glühten sie so heiß wie Lava.

3. Lucifer

Nachdem er eine Weile geflogen war, versiegten seine Tränen wieder und er hielt Kurs auf ein kleines Gebirge. Um bis in seine Hauptstadt zu fliegen, würde er mehrer Tage brauchen, allerdings gab es ein Portal, mit dem er sich die Strecke sparen konnte.

Er musste ein wenig suchen, bis er den Höhleneingang entdeckte, in dem das Portal aufgespannt war. Als er hindurchtrat fühlte es sich an, als würde er in eisiges Wasser springen.

Die Hauptstadt befand sich weit im Norden, in einem weiteren Gebirge, in welchem ewiger Winter herrschte. Die Schneeflocken stoben durch die Luft und stachen auf seiner Haut. Auch wenn er sehr temperaturresistent war, beeilte er sich, auf den Eingang zuzufliegen.
Wie ein riesiger Dorn ragte die Stadt über ihm auf, vollkommen in die unförmigen Felsen gehauen.

Wie erwartet war die Stimmung gedrückt. Bis hier hatte sich der Feiertag der Menschen nicht ausgebreitet. Es war kein Fest zu Ehren der gefallenen Dämonen, sondern nur ein Trauertag über das Schicksal, das sie alle hatten erleiden müssen.

Dennoch freuten sich viele, ihn zu sehen. Er war derjenige gewesen, der damals in die Stadt der Menschen aufgebrochen war, um für sie zu kämpfen und sie zu rächen. Selbst wenn er nur bedingt erfolgreich gewesen war, war es diese Entschlossenheit, die für die Dämonen zählte.

Lucifer dagegen hatte sich mit seinen Büchern zurückgezogen. Natürlich hatte er damit weitere Konflikte verhindert und war ganz am Schluss doch in eine erfolgreiche Schlacht gezogen, aber nicht jeder war mit seiner Untätigkeit zufrieden gewesen. Allen voran Azazel selbst nicht.
Doch auch das änderte nichts an dem Respekt, dem jeder dem Herrscher ihres Volkes zollte.

Nachdem Azazel ein wenig umhergeflogen war und mit einigen Bekannten gesprochen hatte, machte er sich auf den Weg zu Lucifer. Der gefallene Engel saß wie erwartet in seinem Zimmer, auf seinem riesigen Thron, umgeben von Büchern.
Seine hellblauen Augen funkelte, während sein Blick über die alten Seiten flog. Er raschelte leicht mit seinen weißen Flügeln und seine goldene Rüstung schimmerte im dämmrigen Kerzenlicht.

Obwohl er der Herrscher der Dämonen war, sah er den übrigen Engeln zum Verwechseln ähnlich. Noch immer umgab ihn sanftes, goldenes Licht, welches eigentlich den Göttern vorbehalten war.

Erst als Azazel ein Geräusch machte, blickte Lucifer auf. Für einen kurzen Moment huschte ein Lächeln über sein Gesicht.

„Wie schön, dass du dich mal wieder hier blicken lässt“, grüßte er seine rechte Hand und legte sein Buch beiseite. Eine Handlung, die man bei ihm lediglich in Azazels Gegenwart beobachten konnte.
Azazel nickte ihm respektvoll zu und hielt einige Meter Abstand, bis Lucifer ihn zu sich winkte. Auf einen weiteren Wink seiner Hand, bewegte sich ein Sessel auf sie zu und er bedeutete Azazel, Platz zu nehmen.

„War dein Aufenthalt in der Menschenstadt wenigstens unterhaltsam?“ Lucifer warf ihm einen amüsierten Blick zu. Azazel zischte leicht.

„Eher weniger. Allerdings gab es heute doch etwas Interessantes. Eine Nekromantin und ich haben einen … verfluchten Spiegel gefunden und versucht, etwas darüber herauszufinden. Leider ohne Erfolg. Die meisten Menschen halten Abstand davon, da sie wohl schreckliche Dinge sehen, wenn sie in der heutigen Nacht hineinblicken.“

Azazel erwartete nicht, dass Lucifer etwas darüber wusste. Der Spiegel machte einen noch recht neuen Anschein. Selbst wenn der Herrscher der Dämonen über solche Artefakte belesen war, so war der Spiegel noch nicht alt genug, um in einem seiner Bücher zu stehen.

Doch zu seinem Erstaunen begann Lucifer zu Lachen. Es war ein Geräuscht, welches Azazel noch nie zuvor gehört hatte. Es war nur leise und verstummte schnell, Lucifer war eine gefasste Persönlichkeit, die selten emotionale Regungen zeigte. Aber in seinem Gelächter konnte man hören, dass er früher ein Engel gewesen sein musste, denn das Geräusch war klar und sanft.

„Doch nicht etwa diese Spiegel, welchen ich dem Menschenkönig habe zukommen lassen?“, fragte er belustigt. Azazel runzelte die Stirn.
„Er stammt tatsächlich aus dem Schloss“, gab er zu.

„Dann lass mich das Rätsel auflösen. Den Spiegel habe ich verzaubert und dem König zukommen lassen. Jedes Jahr, an dem Tag, an dem er unsere geliebte Hauptstadt zerstört und unser Volk versklavt hat, wird ein Mensch darin seine schlimmsten Erinnerungen und Albträume erkennen. Da der König den Spiegel nicht zerstören konnte, wird er ihn wohl an einen anderen Ort gebracht haben.“

Azazel starrte Lucifer verdutzt an. Er hatte … was getan? Wieso hatte er ihm nie davon erzählt?

„Bei Dämonen funktioniert er nicht, sie sehen lediglich die Person, die ihnen am meisten bedeutet hat. Was er bei Göttern bewirkt, weiß ich selbst nicht. Wahrscheinlich rein gar nichts“, fuhr Lucifer fort.

„Das kannst du dieser Nekromantin ja ausrichten, wenn du in die Menschenstadt zurückkehrst.“
Azazel nickte.

„Werde ich machen. Danke für die Informationen.“ Er neigte den Kopf, aber Lucifer winkte ab und griff wieder nach seinem Buch.

„Hast du noch etwas Interessantes zu berichten? Wenn nicht, kannst du gehen, wohin du möchtest.“
Azazel erhob sich und verneigte sich kurz.

Er war gerade am Ausgang, als Lucifer ihm nachrief: „Aber komm nächstes Mal früher wieder vorbei und nicht erst nach ein paar Jahren!“
Azazel nickte schnell und sah, wie sich Lucifers Mundwinkel leicht anhoben, bevor er sich wieder auf sein Buch konzentrierte.

Während der Teufel ein weiteres Mal durch die Stadt flog, rätselte er darüber, warum Rita von dem Spiegel so unbeeindruckt gewesen war. Sie war früher ein Mensch gewesen und Zombies galten nicht als Dämonen. Also was war wohl der schlimmste Albtraum der Nekromantin, wenn sie so gelassen damit umging?

Im nächsten Moment hielt er mitten in der Luft inne. Natürlich. Kaisars Tod. Allerdings hatte sie ihn kurze Zeit später in einen Zombie verwandelt, also sollte sie davon nicht allzu schockiert sein.

Nachdem das Rätsel nun gelöst war, könnte er den Spiegel ja vielleicht mitnehmen, schoss es ihm durch den Kopf. Rita würde ihn nicht brauchen und die anderen machten alle einen Bogen darum. Für ihn dagegen war es eine Möglichkeit, Mugaro zu sehen.
Je länger er darüber nachdachte, gefiel ihm die Idee. Vielleicht würde er so den heutigen Tag ja doch in einem positiveren Licht sehen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top