»Das Teegedicht« von norafelane

„Möchten Sie eintreten, meine Liebe?", riss mich eine Stimme aus den Gedanken. Ich blickte auf und sah einer mittelgroßen, älteren Dame in die Augen, die mit einem einladenden Lächeln die Ladentür offenhielt, vor der ich unbewusst zum Stehen gekommen war.

Ich schaute mich nach dem Schaufenster und Ladenschild um. Ich entzifferte die in goldener Schrift verfasste Aufschrift auf dem Ladenschild als 'Teeparadies'. Es handelte sich bei dem Geschäft um einen hübschen Teeladen in einem altanmutenden Gebäude, an dem ich schon öfter vorbeigelaufen war.

Das kleine Schaufenster war heimelig eingerichtet und stellte mir bekannte aber auch unbekannte Teesorten zur Schau. Manche bunt verpackt, andere edel. Zu sehen waren außerdem zwei wunderschöne Teeausstattungen, eine exotische und die zweite sehr schlicht und elegant. Was ich sah, weckte mein Interesse, jedoch waren es der angenehme Duft und das warme Licht an diesem regnerischen Tag, die mich letztlich in den Laden lockten.

„Sehr gerne. Ich bin jedoch ganz schön durchnässt", erwiderte ich mit Blick auf meine nassen Schuhe und tropfende Bekleidung. Der regnerische Herbsttag hatte mich unvorbereitet getroffen, so hatte ich auch keinen Regenschirm dabei.

Vor kurzem war noch Spätsommer gewesen. Ich erinnerte mich noch an die warmen Tagen im Garten unter wolkenlosem Himmel mit Wassermelone in der Hand. Ich fühlte mich noch nicht bereit für die kältere Jahreszeit. „Vielleicht könnte das ein guter, wärmender Tee ändern...?", murmelte ich beim Eintreten leise vor mich hin.

Die Dame blickte neugierig auf und lächelte vielsagend. „Tee hat schon so manche unverhoffte Wendungen gebracht. Dürfte ich Ihnen einen Tee zur Kostprobe anbieten?", fragte die Dame, während ich bereits angefangen hatte in den zahlreichen Regalen des Ladens zu stöbern.

„Das klingt fantastisch. Welchen Tee können Sie mir denn empfehlen?", fragte ich interessiert. Die Dame führte mich tiefer in den Laden und blieb vor einer filigranen, recht großen Teedose stehen, die mehrere Fächer hatte.

„In dieser Dose befinden sich verschiedene herbstliche Teesorten - ich lade sie dazu ein ihrem Bauchgefühl und Geschmack folgend einen Tee auszuwählen. Riechen Sie auch gerne an den Verpackungen."

Ich nickte zustimmend und nahm den goldenen Deckel der Dose ab, während die ältere Dame sich entferne um den Wasserkocher vorzubereiten.

Im Inneren war die Dose weinrot und sah sehr edel aus. Vor dem Hintergrund kamen die verschiedenfarbigen Teebeutel schön zur Geltung. Besonders vielversprechende Verpackungen sah ich mir genauer an und genoss die exotischen, oftmals wärmenden Aromen.

Tee erinnerte mich an meine Kindheit zurück. Als ich noch zur Schule gegangen war, begrüßte mich jeden Morgen beim Frühstück eine frische Kanne Tee, die meine Mutter für mich vorbereitet hatte.

Ich musste lächeln, denn ich hatte schon eine ganze Weile nicht mehr an diese Zeit zurückgedacht. Eine sorglose Zeit, in der sich mein Leben wie eine heile, fast magische Welt angefühlt hatte.

Plötzlich ertasten meine Finger ganz unten in der Dose etwas, das sich anfühlte wie gefaltetes Papier. Langsam zog ich den sorgfältig gefalteten Zettel hervor und bewunderte die elegante Handschrift, mit der 'Einladung' auf das Papier geschrieben stand.

Ich sah mich im Raum um, aber ich war weit und breit die einzige Kundin. Niemand schien diesen Zettel zu vermissen und die Neugierde hatte mich gepackt. Ich faltet das Papier auf und hielt unwillkürlich den Atem an als ich begann die ersten Zeilen zu lesen:

Mein Herz, es ist wieder an der Zeit,
Der Ball der Bälle nähert sich.
An Halloween sei bereit,
Eine magische Nacht erwartet dich.

Nach den ersten Zeilen erkannte ich: Es handelte sich hier um ein Gedicht! Und es wurde in einer edlen Kalligraphie-Schrift verfasst.

Bevor ich weiterlesen konnte, hörte ich, wie sich Schritte näherten. Ich versteckte den Zettel schnell wieder in der Dose und nahm den naheliegendsten Teebeutel heraus.

Die Dame des Ladens blieb zu meiner Rechten stehen. „Haben sie sich bereits für einen Tee entschieden?", fragte sie sanft. Ich nickte und reichte ihr den Tee.

„Gute Wahl!", meinte sie nach einem kurzen Blick nickend. „Sie werden sehen, dass dieser Rooibostee sie in eine andere Welt zaubern wird", ergänzte sie mit einem vielsagenden Lächeln.

Ich wurde das Gefühl nicht los, sie wollte mir damit mehr sagen als auf den ersten Blick ersichtlich. Bevor ich sie jedoch darauf ansprechen konnte, war sie bereits mit dem Tee auf dem Weg in Richtung Teeküche, um diesen aufzubereiten.

Ich würde mich wohl noch etwas gedulden müssen. Da ich wieder alleine war, griff ich erneut in die Dose und zog den gefalteten Zettel hervor, um weiterzulesen, was es mit der Einladung und dem Ball auf sich hatte.

Diese Zeilen waren wohl an eine Person gerichtet, die dem Verfasser oder der Verfasserin wichtig war, wie die Einleitung mit 'Mein Herz' schließen ließ.

Ich entfaltete den Zettel ein zweites Mal, und in dem Moment fiel etwas von der Rückseite des Papiers ab. Ich bückte mich auf den Boden und hob es auf. Ich erkannte, dass es ein getrocknetes, rotes Laubblatt war.

Da sich die Blätter dieses Jahr noch nicht verfärbt hatten, musste diese Einladung schon älter sein - mindestens ein Jahr alt. Oder jemand hatte dieses Laubblatt vor längerer Zeit gesammelt und für diesen Zweck aufbewahrt. Dann könnte die Einladung aktuell sein. Ich las weiter:

In herbstlichen Farben
Sei der Festsaal geschmückt,
Überdeckend alle schmerzenden Narben
Sei mit goldener Maske bestückt.

Ich vermisse dich, mein Herz,
So lange waren wir getrennt,
Er währet ewig, der Schmerz,
Obwohl die Zeit rennt.

Ich hielt inne und konnte mich nicht dazu bringen weiterzulesen. Ich hatte das Gefühl einen sehr persönlichen Brief zu lesen, statt einer sachlichen Einladung. Das schlechte Gewissen nagte an mir, doch die Neugierde überwog, verzaubert von den berührenden Worten.

Wer hatte dieses Gedicht verfasst und an wen war er adressiert? Was hatte es mit dem mysteriösen Halloween-Maskenball auf sich?

Fragen über Fragen. Ich gab mir einen Ruck und entschied mich, nun auch die verbleibenden drei Strophen zu lesen.

Mein Herz, dies ist die letzte Nachricht,
Denn die Stunden, sie sind schwer,
Finde mich, bevor es zerbricht,
Unseren Ort gibt es bald nicht mehr.

Der Regen brachte uns einst zusammen,
So gehe erneut zum großen Tor,
An der Treppe werde ich bangen,
Hole diesen Text hervor.

Erinnerst du dich an den süßen Tee?
Ein Geschenk an dich, mein Herz.
Das Blatt vom Baum am See,
Der Anfang vom Ende, mein Herz.

Mich tippte jemand an der Schulter an und ich erschrak fürchterlich. „Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken", sprach die Ladenbesitzerin mit beruhigender Stimme. „Möchten Sie mir beim Zubereiten des Tees beiwohnen?", fügte die Dame hinzu, ohne auf den Zettel und das Laubblatt in meiner Hand näher einzugehen.

Ich hatte mich inzwischen wieder gefasst und nickte. Ich steckte den Zettel diesmal nicht zurück in die Dose sondern nahm ihn gemeinsam mit dem Laubblatt in die Teeküche mit.

Die Dame bereitete den Tee zu und beschrieb Schritt-für-Schritt wie man diesen ideal zubereiten und servieren konnte. So saßen wir wenige Minuten später an einem der kleinen Tische, die in verschiedenen Winkeln des Ladens die Gäste zum Sitzen einluden.

„Ich danke Ihnen für den Tee. Er schmeckt fantastisch! Jedoch gibt es eine weitere Sache, die in diesem Laden meine Aufmerksamkeit geweckt hat...", setzte ich an.

Just in diesem Moment bimmelte die Ladentür und ein weiterer durchnässter Kunde betrat das Teehaus. „Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment", sagte die Dame und lief auf den neuen Gast zu.

Dann umarmten sich die beiden und ich stellte fest, dass es sich um einen älteren Herren handelte. Die Dame im Laden führte ihn zu meinem Tisch und stellte eine weitere Tasse Tee dazu: sie hatte diesen Mann wohl bereits erwartet.

Als wir nun alle drei saßen, kam die Dame auf mich zurück. „Meine Liebe, darf ich Ihnen meinen Bruder Arthur vorstellen. Arthur, diese Kundin meinte, sie wäre in unserem Laden auf etwas interessantes gestoßen..."

Ich nickte und schüttelte dabei die Hand, die Arthur mir gereicht hatte. Er hatte einen festen Händedruck und ein belesenes, freundliches Gesicht.

„Berichten Sie gerne," meinte Arthur neugierig. So erzählte ich beiden von meinem Fund und las ihnen die geheimnisvollen Zeilen vor. Arthur fasste sich nachdenklich ans Kinn und die Dame, die sich als Luise vorgestellt hatte, stand abrupt auf und sagte:

„Meine Liebe, das ist schon der zweite Fall diese Woche. Vor wenigen Tagen kam ein junger Mann, der ebenfalls ein Gedicht gefunden hatte, das an 'mein Herz' adressiert war, jedoch mit anderen Zeilen. Ob diese wohl vom selben Verfasser sind?"

Ich nickte bedächtig. „Es wäre ein großer Zufall, wenn keinerlei Verbindung bestünde. Haben Sie eine Vermutung, was es mit den Gedichten und dem Ball auf sich hat?", fragte ich die Geschwister neugierig.

Arthur schwieg einen Moment, dann meinte er: „Wir haben das Teehaus, wie mehrere Generationen vor uns, von unseren Eltern vermacht bekommen. Ich erinnere mich, dass es damals in den ländlicheren Umgebungen dieser Stadt üblich war an Halloween auf einen Maskenball zu gehen.

Eingeladen waren bürgerliche und wohlhabende dieser Stadt, die sich solchen Prunk - ein Ballkleid und Maske - leisten konnten. So auch meine Vorfahren, die wohlhabend waren durch Verbindungen zur British East India Company, die seit dem 17 Jahrhundert mit Tee handelten."

Ich gab einen erstaunten Laut von mir. „Sie haben wirklich einen guten Überblick über Ihren Stammbaum und die Geschichte dieser Region," meinte ich bewundernd.

Luise lachte und nickte: „Unsere Familie hat Familiengeschichte schon immer sehr ernst genommen, genauso wie Traditionen. Der Ball an Halloween soll ein Genuss vom Feinsten gewesen sein. Noch Wochen später soll von ihm schwärmend berichtet worden sein."

Ich hatte gebannt gelauscht und erwiderte: „Haben Sie eine Idee, wo genau der Ball immer stattgefunden hat? Und wer diese Tradition wieder aufleben lassen möchte?"

Beide verneinten die Frage zum Verfasser oder der Verfasserin, jedoch meinte Arthur, er hätte Aufzeichnungen vom Maskenball und ich solle am folgenden Tag wiederkommen - bis dahin hätte er die Dokumente gefunden.

Am nächsten Tag kam ich pünktlich zur Öffnungszeit um 10 Uhr und beide erwarteten mich bereits. Erneut saßen wir bei einer Tasse Tee um den Tisch. Diesmal war es kein Rooibostee mit Apfel und Orange, sondern ein Earl Grey mit Zitrone.

Nach kurzem kosten entschied ich, dass ich den gestrigen Tee bevorzugte. Ich machte mir mental die Notiz mir den Rooibostee für den Herbst zu besorgen.

„Guten Morgen, meine Liebe. Wir haben tatsächlich mehr über den ominösen Ball herausgefunden. Leider konnte der junge Mann mit dem anderen Gedicht heute nicht ebenfalls kommen, aber er richtet Grüße aus und möchte über die Entwicklungen gerne auf dem Laufenden gehalten werden", meinte Luise.

Arthur blätterte daraufhin in einem alten Dokument. Er fing dabei an zu erzählen: „Jedes Jahr wurde der Ball an Halloween veranstaltet, um die durchlässige Grenze zwischen dem Totenreich und den Lebenden zu zelebrieren."

Er fuhr fort: „Mit den Masken schützte man sich vor dem erkannt werden - sowohl von den Lebenden als auch den Toten. Es sollte ein magischer Abend sein, an dem lediglich der Tanz und der Genuss zählte."

„Die Aufzeichnungen verraten außerdem, dass unsere Familie dort gutes Geschäft machte, da Tee in Massen konsumiert wurde und die Kräuter auch für andere Zwecke verwendet wurden."

Ich nickte und holte das Gedicht hervor: „Was hat es mit diesem Gedicht auf sich? Es ist definitiv nicht aus dem 17. Jahrhundert sondern stammt aus unserer Zeit, wie man an der Rechtschreibung, Wortwahl und dem verwendeten Papier schließen kann."

Luise, die bisher still gewesen war, meinte: „Gehen Sie an Halloween an den See und an das Tor, wir haben hier genaue Standardangaben gefunden. Finden Sie es gerne heraus und erzählen Sie uns, wenn Sie denn mögen, von dem Ergebnis Ihrer Erkundung."

Ich nickte nachdenklich und war ein bisschen misstrauisch: Warum wollten diese beiden Herrschaften, die aus einer sehr traditionsgebundenen Familie stammten, nicht selbst dorthin gehen um mehr über ihre Wurzeln herausfinden...?

Als hätten sie meine Gedanken gelesen, meinten die beiden bedrückt: „Wir haben beide nicht mehr die Kraft, diese Reise zu machen und legen unser vollstes Vertrauen in Ihre Hände. Nehmen Sie doch gerne eine Begleitung mit."

Ich bedankte mich und nachdem ich mir den gestrigen Rooibostee in einer ähnlichen Dose gekauft hatte, machte ich mich auf den Rückweg. Meine Gedankten schwirrten um Halloween: Sollte ich gehen? Und mit wem?

Die gedichtete Einladung hatte mich so berührt, der Schmerz und die Sehnsucht waren so greifbar, dass ich unbedingt wissen wollte, was dahinter steckte. Und mit Handy, Pfefferspray und Begleitung würde ich mich sicher genug fühlen, mich auf das Abenteuer einzulassen.

Acht Wochen waren wie um Flug vergangen, und heute stand der besondere Abend an. Ich hatte mir ein weinrotes Abendkleid und eine goldene Maske, wie im Gedicht beschrieben, besorgt. Ich hatte außerdem einen Plan B für den Abend, sollte sich das alles als ein schlechter Scherz herausstellen.

Ich würde alternativ mit einer guten Freundin auf eine Gala gehen, die ihr Freund veranstaltete. Ich hatte also gute drei Stunden Zeit, abgezogen der Fahrtzeit, um herauszufinden, was sich hinter dem Teegedicht verbarg. Dann würde ich mich mit der Freundin treffen.

Letztlich hatte ich mir jedoch keine Begleitung für diesen Ausflug organisieren können. Alle hatten Pläne für Halloween: an den Türen klingeln und Süßigkeiten sammeln, Familie und Freunde besuchen, gut zu Abend essen... die Liste war endlos.

Wenige Stunden später saß ich im Abendkleid und in Sneakers im Auto, die Absatzschuhe sicher auf dem Beifahrersitz deponiert. Ich folgte dem Navigationssystem, das mich eineinhalb Stunden aus der Stadt hinausnavigierte.

Auf der Strecke sah ich, dass sich die Blätter an den Bäumen in alle herbstlichen Farben verfärbt hatten. Es war wieder ein regnerischer Herbsttag, wie an dem Tag, als ich auf das Teegedicht gestoßen war. Ich hatte regen Kontakt zu den Ladenbesitzern gehalten und hatte heute in einer Thermoskanne den Rooibostee dabei.

Kurz vor dem Ziel, kam nach Wald und Feldern ein altes Anwesen in Sichtweite und das goldene Tor aus dem Gedicht war nicht zu übersehen. Es war das Eingangstor zu dem Anwesen, um das sich dunkelgrüne ranken schlangen. Kerzenschein leuchtete durch die großen Fenster an der Vorderseite des Anwesens.

Ich parkte das Auto um die Ecke vor dem Tor und atmete tief durch. Dann zog ich mir meine Absatzschuhe und Maske an und stieg aus dem Auto. In meiner kleinen Damentasche waren das Gedicht, das Laubblatt, mein Handy und ein Pfefferspray verstaut. Meine Freundin war informiert und erwartete in der kommenden Stunde einen Anruf von mir, sonst würde sie sich sorgen machen.

Ich lief langsam zum goldenen Tor, das das Anwesen wie ein Wachturm beschützte. Das Gebäude wirkte alt, aber einladend und war festlich-herbstlich geschmückt. Goldene Fledermäuse hingen als Girlande am Anwesen und schimmerten im warmen Licht, das die Beleuchtung auf das Anwesen warf.

Neben der Tür standen zwei Kürbisse, die keine Fratzen zogen, sondern niedliche Gesichtsausdrücke hatten. Aus dem Inneren des Gebäudes drang einlullende Musik. Ich zog das Gedicht aus der Tasche und schaute mir die wichtigen Zeilen erneut an:

Finde mich, bevor es zerbricht,
Unseren Ort gibt es bald nicht mehr.

Der Regen brachte uns einst zusammen,
So gehe erneut zum großen Tor,
An der Treppe werde ich bangen,
Hole diesen Text hervor.

Das Blatt vom Baum am See,
Der Anfang vom Ende, mein Herz.

Ich durchschritt das Tor und schaute mich um nach einer großen Treppe. Jedoch konnte ich von außen nichts erkennen, daher betätigte ich den Türklopfer. Erstmal war nichts zu hören, abgesehen von der Musik - dann kamen jedoch Schritte auf die Tür zu und sie öffnete sich:

Zum Vorschein kam eine ältere Dame verborgen hinter einer Maske und in einem edlen Kleid. Sie schaute mich an, nickte nur und bedeutete mir ohne Worte mit einer Geste einzutreten.

Ich fasste mir ein Herz und trat ein.

Das Erste, was ich sah war ein langer Gang. Ich blinzelte um in dem sanften Licht mehr zu erkennen. Da hinten war eine große, gewundene Treppe. Jemand stand an Ansatz der Treppe. Ich drehte mich um, um die alte Dame zu fragen, ob ich weitergehen dürfe, jedoch war sie verschwunden.

Ich lief langsam auf die Treppe zu und sah eine maskierte Person in einem burgunderrotem, dreiteiligen Leinen-Set mit einer goldenen, filigranen Taschenuhr, die aus einer Seitentasche hervorlugte, am Treppenansatz stehen.

Mir stockte der Atem. Ich blickte in warme, aber traurige braune Augen. Der Mann kam auf mich zu und blieb eine Armlänge entfernt von mir Stehen: „Sie sind nicht mein Herz", meinte der Mann bedrückt und ich schüttelte den Kopf.

„Leider bin ich nicht, wen sie erhofft haben wiederzusehen." Ich hielt kurz inne. Dann fuhr ich fort bevor mich der Mut verließ: „Möchten Sie mir Erzählen, was es mit diesem Gedicht auf sich hat?"

Ich streckte ihm das Teegedicht entgegen, das ich in der Dose gefunden hatte. Der Mann nahm es entgegen und schaute gedankenverloren auf die Zeilen. Dann nickte er und zeigte auf die Treppen. Ich folgte ihm.

Wir kamen an zahlreichen Gästen vorbei, die sich unterhielten, einige tanzten, aber keiner schenkte uns Beachtung, viel zu vertieft in dem Genuss des Tees, der Leckereien und des Tanzes. Wir stiegen mehr Treppen hoch und kamen an einem überdachten Balkon zum Stehen.

Das erste was mir auffiel war, dass man von hier aus einen recht großen See sehen konnte - vermutlich der See aus dem Gedicht.

Der Mann lief zum Geländer und schaute in die Ferne, als er anfing zu sprechen.

„Es war an diesem See dass ich sie kennenlernte. Sie war spazieren als sie der Herbstregen unvorbereitet traf und sie in meinem Seehaus Unterschlupf suchte. Sie klopfte an der Tür und ich bat sie hinein. Was folgte war eine Unterhaltung bei einem guten Tee, die mich nicht mehr losließ. Wir trafen uns daraufhin immer wieder im Seehaus zum Tee und ich las ihr meine Gedichte vor, die sie liebte. Wenige Wochen später lud ich sie zum Halloween-Ball ein, doch sie erschien nicht. Ich sah sie nie wieder."

Ich hatte das Bedürfnis ihn zu trösten, aber ich spürte, dass das noch nicht das Ende der Geschichte war.

„Ich hatte sie in den Wochen und Unterhaltungen gut kennengelernt, wir hatten über ihre Lieblingsorte in der umliegenden Umgebung gesprochen. An all diesen Orten hinterlasse ich seitdem Gedichte, um sie zum Maskenball zurück zum See einzuladen. Jedes Jahr sammle ich rote Herbstblätter, wie wir es damals getan hatten. Jedes Jahr warte ich... vergeblich. Männer und Frauen sind zu meinen Bällen aufgetaucht, in den unterschiedlichen Maskenfarben, je nach Jahr des Gedichts. Jedoch war sie nie unter diesen Ankömmlingen. Dieses Jahr ist das letzte Jahr. Es geht nicht mehr."

„Das ist unfassbar traurig", meinte ich betroffen und trat neben ihn an das Geländer des Balkons, um auf den See zu blicken. „Haben Sie über die Jahre etwas herausfinden können über ihre Liebste?", fragte ich nach.

Der maskierte Mann nickte leicht. „Niemand konnte mit ihrer Beschreibung etwas Anfangen - weder die Finder meiner Gedichte, noch die Ladenbesitzer - deshalb muss sie von weiter weg sein. Das ist alles was ich weiß."

Ich nickte und überlegte, ob ich etwas tun könnte. Es hatte aufgehört zu Regnen. Da hatte ich einen Einfall: „Möchten Sie mit mir am See entlangspazieren? Ein letztes Mal, bevor Sie die Suche aufgeben?"

Der Mann zögerte kurz, dann nickte er. So machten wir uns auf den Weg zum Tor. Nach einem kurzen Zwischenstopp bei meinem Auto, um mir bequemere Schuhe anzuziehen, liefen wir los.

Der See war ruhig und glänzte im Licht der Sterne. Der Boden war feucht, und farbige Blätter begleiteten uns auf dem Weg. Wenig später kamen wir am Seehaus an... und davor Stand ein Mann. Er hatte ebenfalls einen Zettel in der Hand.

Wir sprachen ihn an und es stellte sich heraus, dass es sich um den Finder des anderen Zettels aus dem Teeladen handelte. Sein Teegedicht hatte ihn zum Seehaus geführt und dort lud uns unser Gastgeber zum Tee ein, wie er es damals mit seiner Liebsten getan hatte.

Die Zeit verflog und ich lernte, dass Jasper der Name des zweiten Finders war und dieser ebenfalls leidenschaftlicher Teetrinker war. Unser Gastgeber sprach über seine Familiengeschichte, die Entstehung des Anwesens am See, und der Tradition des Veranstaltens eines Maskenballs an Halloween.

Als der Tee ausgetrunken war machten wir uns geh-bereit. Wir standen wieder am See vor dem Seehaus als plötzlich aus dem See ein Licht hervorging... und eine junge Dame aus dem Wasser emporkam.

Sie trug ein dunkelblaues Abendkleid, funkelnd wie der Sternenhimmel und ihre goldenen Haare waren kunstvoll geflochten. Sie trug eine goldene Maske mit Seemotiven. Ich blinzelte wiederholt, weil ich meinen Augen nicht trauen konnte.

Dem entzückten Jauchzen unseres Gastgebers entnahm ich, dass es sich hierbei um die gesuchte Herzensdame handelte. Sie schwebte uns entgegen, bis sie Boden unter den Füßen hatte, dann fielen sich die beiden in die Arme ...

... und beide lösten sich prompt in Luft auf.

Ich erschrak und schrie überrascht auf. Auch Jasper war wie eingefroren, Augen geweitet. Wir mussten uns beide erstmal hinsetzen.

„Hast Du das auch gesehen? Sie haben sich einfach aufgelöst", meinte ich mit zittriger Stimme.

„Ja Du träumst nicht. Das habe ich auch gesehen. Ob es sich hierbei um die Toten aus dem Totenreich handelt, die an Halloween zum Vorschein kommen?", dachte dieser laut.

Für mich klang das wie eine plausible Erklärung für das übernatürliche, was wir gerade gesehen hatten. Oder, dass uns unser Gastgeber unter Drogen gesetzt hatte...

Ich fing an fast hysterisch zu lachen und konnte kaum noch stoppen. Das würde mir alles niemand glauben. Auch Jasper fiel in mein ungläubiges Gelächter ein.

Wir entschieden, zurückzulaufen und das Geschehene dabei wie ein Geheimnis am See zurückzulassen.

Am Anwesen angekommen gab es eine zweite Überraschung: alle Lichter waren aus, keine Gäste weit und breit. Als wäre mit unserem Gastgeber auch der letzte Hauch Leben dem Haus entwichen.

Da standen wir nun beide, Jasper und ich, in Abendgarderobe vor einem verlassenen Anwesen und hatten beide nicht getanzt. So lud ich ihn spontan zur Gala meiner Freundin ein.

Ich hatte zwei ihrer Anrufe verpasst und sah sieben verpasste Nachrichten. Sie machte sich Sorgen. Ich rief sie zurück und kündigte eine Begleitung an.

Die sorgenvolle Belehrung schlug damit schnell in neugierige Begeisterung um, sodass ich meine Freundin unterbrach, um es noch an diesem Abend zur Gala zu schaffen.

Ich sendete Jasper die Adresse, sodass er mit seinem Wagen dorthin fahren konnte. Als ich mich in meinen Wagen setzte und anschnallte, warf ich einen letzten Blick auf das Anwesen.

Ich meinte, auf dem Balkon das glückliche Paar im Mondschein tanzen zu sehen, zu der Melodie des Windes, dem Herbstgeflüster.

Wer hätte gedacht, dass mich ein mysteriöses Teegedicht zu einem verwunschenen Maskenball führt?

Dieser Herbst, er war wirklich eine durch und durch magische Jahreszeit.

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