Novemberwunder
Ein deprimierter Künstler hat einen Eimer Farbe über die Welt geschüttet. Zäh fließt die graue Masse über die Leinwand und tropft erst langsam, dann stetig über die Kanten auf die Erde. Lautlos breitet sie sich aus, verdunkelt den Himmel und übermalt bunte Gemüter.
Sie stapft verbissen durch die grauen Pfützen. Über den grauen Asphalt. Unaufhaltsam. Geradeaus. Das Wasser spritzt hoch, greift nach ihr, klebt an ihr, saugt sich in den Stoff ihrer Hose. Die Tropfen, die sie verfehlt haben, fallen kraftlos wieder zurück auf das Pflaster, wo sie zerspringen und eine neue Pfütze bilden.
Missmutig kneift sie die Lippen zusammen und zieht schaudernd den Kragen ihrer Jacke enger, der Stoff schon längst durchnässt von dem stetigen Regen. Senkrecht prasselt er herab, der Himmel ist von dunkelgrauen Regenschlieren durchzogen.
Für einen Moment scheint der Wolkenbruch innezuhalten, scheint die Welt den Atem anzuhalten...
... um ihn ihr dann ins Gesicht zu pusten.
Eine eiskalte Böe treibt die beißenden Tropfen mit Gewalt gegen ihren schmalen Körper. Der Windstoß ist so stark, dass er ihr die Kapuze ihrer Jacke vom Kopf reißt. Innerhalb von Sekunden sind ihre Haare durchnässt. Sie zittert. Als die nächste Böe kommt, gibt es nichts mehr, was sie ihr nehmen könnte. Das Mädchen badet im Regen, dass Wasser läuft ihr in Strömen das Gesicht herunter.
Mit dem feuchten Handrücken wischt sie sich einige nass verklebte Haarsträhnen aus dem Gesicht.
Ein Wassertropfen gelangt in ihr Auge und für einen Moment verschwimmt ihre Sicht.
Für einen Augenblick
sieht sie nicht mehr
auf matschige Blätterhaufen die auf den Wegen
auf geweicht durch den kalten, den stetigen Regen-
sturm, dem Zorn der tobenden Gewalten erlegen
matt und kraftlos hocken zu den Füßen der Städter.
Für einen Augenblick
sieht sie stattdessen
auf goldenen Strahlen tanzende Blätter
auf glitzernden Schwingen wie fallende Schmetter-
linge die diesem herbstlichen Wetter
einen letzten farbenfrohen Anstrich geben.
Doch es ist nur ein Moment, ein Wimpernschlag, ein Bruchteil einer Sekunde und dann hat die Realität sie wieder eingeholt:
Die Blätter liegen immer noch da, stumm.
Der Regen fällt immer noch, stetig.
Der Wind tobt immer noch, stürmisch.
Und die Welt ist immer noch trist und grau und ihre Hände fangen an, taub zu werden. Das Klappern ihrer Zähne geht unter im Prasseln der tausend Tropfen.
Und dann ist er da. Läuft plötzlich neben ihr, einfach so.
Sie schnieft und schüttelt sich leicht. Schaudert erneut. Seine Hand taucht aus den Tiefen seiner Manteltaschen auf und schwebt neben ihrer. Ein Angebot. Sie greift zu und seufzt auf.
Seine Hand ist trocken und warm, eine Erinnerung an goldene Tage, in denen die Sonne schien und die Luft von Lachen erfüllt war.
Für einige Augenblicke
glaubt sie zu spüren
auf bunt bezogenen Sonnen-
liegen glückliche Menschen
Doch es sind nur einige Momente, einige Wimpernschläge, einige Bruchteile einer Sekunde und dann hat die Realität sie wieder eingeholt.
Die Blätter liegen immer noch da, stumm.
Der Regen fällt immer noch, stetig.
Der Wind tobt immer noch, stürmisch.
Und die Welt ist immer noch trist und grau und ihre Hände werden trotz seiner Wärme wieder taub.
Sie laufen weiter. Durch die grauen Pfützen. Über den grauen Asphalt. Unaufhaltsam. Geradeaus.
Bis das Wetter den kleinen Funken, den der Kontakt ihrer Hände entzündet hat, ausgelöscht hat.
Bis er sie plötzlich unter den kleinen Unterstand zieht, den die Bushaltestelle bietet.
Bis er sie durch ein sanftes Ziehen an ihrer Hand dazu bringt, sich auf die graue Metallbank zu setzen.
Dann holt er eine Thermoskanne aus seinem Rucksack und schraubt den Deckel ab. Warmer Dampf steigt auf, kräuselt sich und formt die bizarrsten Figuren. In einem goldenen Schwall ergießt sich der heiße Tee in den Deckel, der nun als Tasse dient.
Sie guckt ihn aus großen Augen an, als er ihr lächelnd den Tee hinhält.
Und
als sich ihre zitternden Hände um den warmen Deckel legen und sich langsam entspannen,
als sie die Tasse zum Mund führt und die flüssige Wärme durch ihren Körper fließt und sich langsam ausbreitet,
als sie sein durchnässtes Äußeres sieht und das trotzdem glückliche, offene Lächeln auf seinem Gesicht,
da
verändert
sich
etwas
in
ihr.
Sie weiß nicht, ob es am Tee liegt, der ihr Inneres auftaut oder an seinem Lächeln, aber auf einen Schlag ist die Welt nicht mehr grau.
Der Wind kommt in ihrem Unterschlupf nicht mehr an sie heran, er heult draußen und pfeift durch die Spalten zwischen den Glaswänden.
Der. Regenfall. Trommelt. Rhythmisch. Auf. Das. Dach. Der. Bushaltestelle. und bildet beim Abfließen einen feinen Vorhang aus abertausenden Tröpfchen, die die beiden vor dem Rest der Welt verbirgt.
Es hat sich nichts verändert, aber für sie hat sich die Welt aus den Angeln gehoben.
Ein Strahlen breitet sich auch auf ihrem Gesicht aus, ein Spiegelbild des seinen. Und auf einmal ist es egal, dass der Himmel schon den ganzen Tag grau ist. Es ist egal, dass sie nass sind bis auf die Haut. Es ist egal, dass sie immer noch vor Kälte zittern.
Denn für sie ist gerade die Sonne aufgegangen. Sie leuchtet in ihren Herzen und wärmt sie von innen.
Und als sie erneut nach seiner Hand greift und ihren nassen Kopf auf seine tropfende Jacke legt und sie durch den Regenvorhang
auf die Welt blicken,
sehen sie
auf goldenen Strahlen tanzende Blätter
auf glitzernden Schwingen wie fallende Schmetter-
linge die diesem herbstlichen Wetter
einen letzten farbenfrohen Anstrich geben.
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Eine kleine Geschichte über den Unterschied, den es machen kann, wenn man Leute um sich herum hat, die einem wichtig sind. Sie erhellen deinen Tag und wärmen dein Herz, egal wie kalt es draußen werden mag.
Danke, dass es euch gibt! <3
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