6. Macht

Richard blickte seiner Schwester nach als sie in dem schwarzen Wagen zur Akademie fuhr. Die aufgehende Sonne verdrängte seine düsteren Gedanken nicht und fassungslos starrte er ihr nach. Seine Mutter schloss schließlich die Tür und zwang ihn sich zum Frühstück zu setzen. Sein Vater saß seelenruhig am Tisch und las Zeitung als wäre nichts geschehen, als wäre der Verlust seines ältesten Kindes keine große Sache. Allerdings war es vermutlich auch nichts besonderes. Tausende von Eltern verloren jedes Jahr ihre Kinder an die Regierung und niemand schien es zu kümmern. Richard kämpfte mit den Tränen und wurde von seinem älteren Bruder ausgelacht. Seine Eltern schienen seine Reaktion ebenso wenig nachvollziehen zu können.
"Du hast doch gewusst, dass sie geht, Richard. Wieso weinst du?", fragte seine Mutter unverwandt und gefühlslos. Nun sah auch sein Vater ihn an. Alle Augen waren auf ihn gerichtet und Richard versprach sich niemals Kinder zu bekommen. Niemals.

LOKE
Silny Syn war bis an die Zähne bewaffnet und bereit auszurücken. Heute würde nicht nur Wolfs Botschafter eintreffen sondern auch die ersten Truppen ihren Weg an die Front finden. Es war ein glorreicher Tag, zumindest in Lokes Gedanken. Sein Botschafter sollten ebenfalls in den nächsten Tagen in Ohama eintreffen und dort seine Pläne verwirklichen. Sollte alles nach Plan verlaufen, würde Ohama spätestens Anfang Sommer unter seiner Kontrolle stehen.

Zufrieden lächelte Loke in seiner Uniform und bedachte General Mayer neben sich mit einem stolzen Blick. Der General erwiderte ihn nicht. Offenbar nahm er Loke sein Verhalten gegenüber seinen Mädchen immer noch übel. Er war wahrlich ein besorgter Vater.

Loke dachte an seine eigene Tochter und wie er sich verhalten würde, sollte sie je in solch eine Situation geraten. Ein Hauch von Sorge und Unwohlsein huschte durch seine Gedanken und wurden schließlich von einem überwältigenden Gefühl von Gleichgültigkeit erdrückt. Er musste sich eingestehen, dass das Wohlbefinden seiner Tochter keinen hohen Stellenwert bei ihm hatte.

"Ein Soldat nähert sich.", kam es aus einem der Funkgeräte und schnell griff Loke danach. Er stand wie die anderen Führungspersonen auf einem Balkon des Verwaltungsgebäudes. Von dort aus hatten sie den Lagerplatz und die Soldaten im Blick. Ein Mikrophon stand vor Loke und wartete nur auf seine Rede.

"Lasst ihn gewähren und eskortiert ihn zum Hauptplatz.", befahl Loke und spürte ein freudiges Kribbeln in seinem Körper. Natürlich war die Aussicht einen Spion in seiner Mitte zu haben, keine erfreuliche, aber gleichzeitig bedeutete seine Anwesenheit das sichere Erobern von Ohama. Sein eigener Botschafter würde alle nötigen Schritte in die Weg leiten und ihm die Stadt auf einem silbernen Tablett präsentieren.

"Ist alles vorbereitet für unseren Gast?", fragte er den General neben sich und erntete ein ernstes Nicken. "Sein Quartier steht bereit und die Männer wissen wie sie sich ihm gegenüber zu verhalten haben."

"Perfekt.", murmelte Loke und beobachtete wie Wolfs Botschafter entschlossen und seelenruhig auf den Hauptplatz ging. Sein Gesichtsausdruck war verschlossen, seine Körperhaltung stolz. Er trug schwarze Winterkleidung und einen großen Rucksack auf den Schultern. General Mayer schnappte erschrocken nach Luft und sofort war Lokes Aufmerksamkeit bei ihm.

"Was ist los?", fragte er überrascht und betrachtete den General eingehend. Er wirkte entsetzt und konnte den offenen Mund kaum schließen. Stotternd zeigte er auf den Botschafter.

"Dieser Mann ist mit eurer Gemahlin Lady Nava geflohen. Er war ihr Gefangener." Lokes Blick wandte sich zu dem Botschafter und eisige Wut rauschte durch seine Adern. Dieser Mann hatte ihm seinen kostbarsten Besitz gestohlen. Er war für seine Misere verantwortlich, hatte Navas Verstand benebelt und sie in eine ungewisse Zukunft entführt. Schwer atmend drückte er den Zorn nieder und griff nach dem Mikrophon.

"Willkommen in Silny Syn! Heute ist der Tag an dem die Allianz offizielle ist und dieses Land von den teuflischen Einbrechern NKS befreit wird. Wir holen uns unser Land zurück und lassen es wieder aufblühen!"

Die Soldaten jubelten und klatschten wie es Loke von ihnen erwartete. Der Botschafter, dieser Ehefrauendieb, sollte bei seiner Ankunft bereits entdecken, wer die Macht besaß. Loke wollte ihn einschüchtern, demoralisieren und dem verbissenen Gesichtsausdruck seines Gastes nach, tat er eine exzellente Arbeit dabei.

"Wir sind Beerellon und niemals werden wir unsere Heimat, die Heimat unserer Vorfahren diesen Invasoren überlassen! Wir werden für unsere Zukunft und unsere Art zu leben kämpfen. Gemeinsam sind wir stark. Gemeinsam werden wir siegen!"

Noch einmal brachen die Soldaten in Jubel aus. Die ausgelassene Stimmung ließ Loke stolz die Brust nach vorne strecken. Nichts fühlte sich so gut an, wie bejubelt zu werden. Im Rausch der Macht beschloss er seinen Gast zu begrüßen. Gemächlich schlenderte Loke von dem Balkon, gefolgt von seiner Führungsriege und trat zu Wolfs Botschafter. Ein gekünsteltes Lächeln im Gesicht hielt er dem anderen Mann seine Hand entgegen.

"Wir haben Sie erwartet und hoffen auf eine gute Zusammenarbeit. Sie können mich Meister Bärenstein nennen und dies ist mein loyaler Berater und General Mayer. Und Sie sind?"

"Hayes, Killian Hayes, und ich weiß wer du bist. Ich habe einiges über dich gehört. Da ich hier für die bessere Kommunikation zwischen unseren Leuten bin, würde ich gerne direkt mit dir arbeiten. Wann wird das nächste Meeting stattfinden?"

Loke blickte in das Gesicht des anderen Mannes und erkannte dieselbe Wut in seinen Augen. Lokes Lächeln verschwand und ein angewiderter Ausdruck zeigte sich. Wie konnte er es wagen ihn ohne die nötige Höflichkeit anzusprechen! Er verdiente mehr, er war der Meister Bärenstein von Beerellon, der offizielle Herrscher eines ruhmreichen und ehrwürdigen Landes. Er verabscheute Killian Hayes in diesem Moment mehr als James Washington. Immerhin hatte Washington ihn nicht als minderwertig behandelt.

"Du musst müde sein, von der langen Reise. Wir hatten unser Meeting für heute schon, aber du kannst morgen dabei sein. Colleen wird dich zu deinem Quartier bringen." Eine junge Frau, General Mayers älteste Tochter trat lächelnd vor. Killian würdigte sie keines Blickes.

"Ich würde gerne das Protokoll dieses Meetings lesen."

"Ich werde alle Unterlagen vorbeibringen lassen.", meinte General Mayer und zeigte mit einer weiten Armgestik, dass das Gespräch in aller Öffentlichkeit nun am besten vorbei sein würde. Killian zögerte kurz, ließ sich aber schließlich von Colleen wegführen. Loke und Mayer zogen sich ins Verwaltungsgebäude zurück. Kaum waren sie hinter verschlossenen Türen fluchte Loke seinen ganzen Hass in die Welt.

"Dieser nichtsnutzige, arrogante Arsch! Wie kann er es wagen?! Nach allem was er mir angetan hat, was er meiner Nava angetan hat?! Ich werde ihn umbringen. Heute Nacht noch, ich werde ihn mit meinen eigenen zwei Händen erwürgen."

Lokes Verstand drehte sich im Kreis, nichts war mehr wichtiger als seine Rache, sie erfüllte jeden seiner Gedanken. Innerlich bereit diesen Mord auf sich zu nehmen, wollte er hinaus stürmen, doch General Mayer trat zwischen ihn und die Tür. Beschwichtigend hob er die Hände.

"Das wäre keine kluge Idee, Meister Bärenstein. Wir brauchen ihn und OneSheep auf unserer Seite. Außerdem wäre ein schneller Tod wohl kaum das Richtige für diesen Abschaum."

Lokes Atem beruhigte sich langsam. Mayer hatte Recht, Hayes verdiente etwas schlimmeres. Sein Herzschlag normalisierte sich und ein eiskalter Ausdruck legte sich über Lokes Züge.

"Du hast recht. Schick ihm ein zensiertes Protokoll und sorg dafür, dass er sich wohlfühlt. Schon bald wird er für seine Taten büßen."

"Sehr wohl. Die ersten Truppen werden bereits ausgerückt sein, und der Rest wird auf weitere Befehle warten. Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren."

Eindringlich sah Mayer ihn an und schien mehr sagen zu wollen, doch Loke wusste, ihm fehlte der Mut dazu. Mayer war unter Lokes Vater in seine Position gelangt, er kannte die Macht eines Bärensteins und die Konsequenzen für Ungehorsam besser als die meisten. Mayer hatte vermutlich einige Verstümmelungen und Tode aufgrund dieses Vergehens miterlebt. Er würde Loke niemals hintergehen, egal wie schlecht dieser seine Töchter behandelte.

"Dann mach dich an die Arbeit.", zischte Loke und scheuchte den älteren Mann aus dem Konferenzzimmer. Nachdenklich sah Loke aus dem Fenster und war trotz allem froh, dass Wolf gerade Killian Hayes zu ihm geschickt hatte. So hatte Loke die einmalige Gelegenheit dem Zerstörer seiner Ehe ein grausiges Ende zu bereiten.

WASHINGTON
Die Besuche der Lager um Sankt Sandrina waren keine Notwendigkeit, aber Washington liebte es die Arbeit seines Landes zu begutachten. Es erfüllte ihn mit Stolz die Ideologie seines Volkes zu verbreiten und eine bessere Heimat zu gestalten.

Kritisch ging er an der Seite des Lageraufsehers durch die Reihen der einfachen Holzhäuser. Sie waren weder für die kühlen Temperaturen noch für die Masse an Menschen gedacht, aber keines dieser beiden Dinge sorgten bei Washington oder dem Lageraufseher für Unruhe. Hungrige Gesichter sahen ihnen entgegen. Die Leiben kaum mehr als dürre Gerippe. Dies war der Abschaum des Landes Beerellon, der unter der laschen Führung der Bärensteins Gedeihen konnte. So würde die neue Führung des Landes nicht agieren.

Sie würden die Unwürdigen vernichten um Platz für die Reinen zu machen. Bereits in diesem Moment wurden die Bürger der NKS in Sankt Sandrina und Umgebung angesiedelt und würden für eine neue Bevölkerung sorgen. Eine NKS treue Bevölkerung.

"Gab es kürzlich Fluchtversuche?", fragte Washington und kannte die Antwort bereits. Diese Inspektion war nicht nur für das Lager sondern auch für das Personal. Niemand war über einen Zweifel erhaben. Der Lageraufseher schüttelte den Kopf.

"Nein, seit dem letzten harten Winter nicht mehr. Die Gefangenen sind zu erschöpft um irgendwas zu versuchen. Tatsächlich haben wir mehr tote als sonst und die Zahlen unserer Bewohner sinken weiter."

"Gut, gut und die neuen Rekruten um die ich gebeten hatte?"

Der Aufseher zeigte zu mehreren Männern, die gekrümmt in Reihen standen. Keiner von ihnen sah wohl genährt aus oder gar motiviert, aber Washington sah die Muskelkraft in jedem einzelnen. Der Lageraufseher hatte ihm tatsächlich eine gute Auswahl gegeben, mit genügend essen und Training wären sie gute Soldaten und perfekt als Kanonenfutter.

"Was hast du ihnen versprochen?", fragte Washington und trat näher. Seine Begleitung unterdrückte ein kichern.

"Bei den meisten war es das verschonen ihrer liebsten. Nur wenige wollten Gnade nur für sich. Diese Leute sind so einfältig." Washington warf ihm einen kurzen Blick zu.

"Hoffnung ist ein starker Verführer. Man sollte seine Macht niemals unterschätzen." Er ließ seinen Blick weiter über die Männer schweifen und zögerte bei einem groß gewachsenen Mann. Er hatte dunkle Haut und schwarzes Haar, unzählige Narben schufen wulstige Hautunebenheiten. Sein Blick war voller Hass. Interessiert trat Washington auf ihn zu.

"Wie ist dein Name?"

Der Mann zögerte kurz und antwortete schließlich mit rauer Stimme. "Malekai."

"Wieso möchtest du für uns kämpfen, Malekai?" Washington konnte den Zorn und die Aggressivität des Mannes förmlich mit Händen greifen. Ihn interessierte der Grund weshalb ein Mann, dessen gesamtes Wesen einen anderen Weg gehen wollte, sich dennoch für diesen hier entschied. Malekai sah auf ihn herunter.

"Ich tue es für meine Familie, nicht für dich. Sie sollen überleben." Ohne es zu wollen, huschte Malekais Blick zu einer asiatischen Frau und einem kleinen Mädchen in ihren Armen. Sofort wandte Malekai sich wieder ihm zu, doch zu spät. Washington hatte diese Schwachstelle bereits entdeckt und würde sie ausnutzen.

"Und das werden sie, wenn du uns zum Sieg verhilfst." Seine Worte wurden auch von den anderen Männern gehört. Washington drehte sich wieder zu dem Lageraufseher um und gemeinsam verließen sie die Barackenreihen.

"Du hast mir eine gute Auswahl geboten. Schick sie mir an die Front."

Der Aufseher nickte stolz. Er hatte gute Arbeit geleistet. Washingtons Hoffnung war es das die anderen Lager ebenfalls gutes Material hatten.

Roosevelt
Er war so weit von zu Hause weg. Seine Verlobte war nur noch ein weit entfernter Gedanke. Viel präsenter war der schöne Frauenkörper neben ihm. Ihre warme, dunkle Haut und die weichen schwarzen Haare fühlten sich so gut an. Das Lächeln auf ihren Lippen versprach heiße Nächte und schöne Erinnerungen.

Er wusste es war falsch, doch diese Frau löste Gefühle in ihm aus, die er niemals für möglich gehalten hatte. Sie passte nicht in sein Weltbild, weder körperlich noch geistig, aber wenn er in ihre schwarzen Augen sah, verblasste die Welt hinter einer Nebelbank. Nichts schien mehr wichtig wenn er in ihren Armen lag.

"Ich freue mich, dass du wieder bei mir bist, Roose", hauchte sie und drückte ihren nackten Körper an seinen. "Ich konnte nicht anders. Du bist das einzige, das mich in diesem gottverdammten Land bei verstand hält." Adriana kicherte und lächelte ihn an. Es war dieses Lächeln, dass sein Herz höher schlagen ließ.

"Dann..wirst du mich als deine Freundin vorstellen?" Die Hoffnung in ihrer Stimme ließ sein Blut gefrieren. Es war eine Sache mit ihr zu schlafen, eine emotionale Beziehung öffentlich zu machen, wäre ihr Todesurteil. Washington würde es niemals zulassen und ein Teil von Roosevelt wollte ebenso wenig dieser Blamage zustimmen. Seufzend setzte er sich auf.

"Du weißt, das das kompliziert ist."

"Ich weiß, aber du hast gesagt, du liebst mich. Du hast gesagt, dass wir zusammen leben können." Aufgeregt setzte sie sich neben ihn und starrte mit diesen großen, wunderschönen Augen zu ihm hinauf. Es stimmte, er hatte all diese Dinge gesagt. Er hatte ihr das Blau vom Himmel versprochen und ihre Sicherheit beteuert.

Und zu der Zeit hatte er es auch so gemeint. Selbst in diesem Moment würde er vieles für sie tun, aber eben nicht alles. Zugeben, dass er mit einer Unreinen Beerellonsklavin sein Bett geteilt hatte, war eines dieser Dinge.

"Willst du mich nicht mehr?", fragte sie traurig und ließ die Schultern hängen.

"Nein, nein, das ist es nicht. Ich will dich immer noch an meiner Seite und wenn es nach mir ginge, auch bis ans Ende unserer Tage, aber die Welt würde das nicht zulassen."

"Dann geh weg mit mir. Ich habe gehört, dass man in Ohama frei sein kann. Wir können dort ein neues Leben anfangen. Nur du und ich." Zögerlich schüttelte Roosevelt den Kopf.

"Meine Loyalität gilt NKS. Zweifle niemals daran. Ich liebe dich, aber OneSheep ist unser Feind, wenn du auf meiner Seite bist, dann wirst du niemals wieder davon reden."

Ihre Augen wanderten zu ihren Händen und gehorsam nickte sie. Roosevelt hatte ein schlechtes Gewissen, er mochte sie wirklich sehr und der Gedanke mit ihr wegzugehen schien nett, aber er könnte niemals in einem so gottlosen Land leben wie es OneSheep in Ohama gestaltete. Er musste einfach Beerellon erobern und in eine Position von Macht kommen. Dann würde niemand es wagen etwas gegen sein schwarzen Hausmädchen zu sagen. Selbst wenn sie seine Geliebte war. Natürlich würde er dennoch seine Verlobte heiraten. Er brauchte schließlich einen Erben. Und somit würde er alles bekommen was er wollte. Zärtlich strich er Adriana über die Wangen und küsste sie.

"Ich liebe dich, lass uns nicht weiter davon sprechen." Adriana schien zu zögern, aber ein weiterer Kuss seinerseits ließ ihr keine Chance zu protestieren.

KYRIE
Katastrophe bellte wie wild und alarmierte damit Kyrie. Sofort sprang sie aus ihrem Bett und hetzte in die frische Morgenluft. Energisch drehte sie sich im Kreis und suchte nach der Gefahrenquelle, doch fand nichts. Der Wald lag ruhig in der Morgendämmerung. Gänsehaut kroch über ihre Arme und ließ sie frösteln.

Der Hund hatte offenbar etwas gerochen oder gehört, dass sie mit ihren menschlichen Sinnen nicht wahrnehmen konnte. Sie haderte mit sich selbst, sie konnte ihr perfektes Gehör verwenden und herausfinden was Katastrophe so panisch herumlaufen ließ, oder sie wartete ab. Sie wollte ihre Henotello-Gabe nicht einsetzten. Sie hatte so lange ohne sie überlebt und zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie sich gut und wieder wie sie selbst. Der Machtrausch war längst abgeklungen und ihr Verstand fühlte sich wieder wie der ihres alten Ichs an.

Aber die Gefahr ließ sie zögern. Sie konnte ihren geliebten Hund nicht riskieren. Unschlüssig stand sie da und ließ ihre Augen über die Umgebung gleiten. Sie konnte nicht entscheiden. Es war unmöglich. Frustriert strich sie über ihre schmutzig blonden Haare und unterdrückte ein Schluchzen. Was wäre wenn es Loke war? Ihre Fantasie spielte streiche mit ihr, zeigte ihr ein Bild ihres Ehemannes, der im Wald nach ihr suchte.

Wütend und gewaltbereit würde er ihre Wünsche und Ängste wieder manipulieren. Sie wäre ein ums andere mal die Marionette eines geschickten Puppenspielers. Die Angst ließ sie zittern und blind werden. Die Umgebung verschwand hinter einem Tränenschleier.

"Hey, schaut mal her.", rief plötzlich ein Soldat und nahm ihr ihre Entscheidung ab. Ein kleiner Trupp von sechs Männern kämpfte sich vor Kyrie aus dem dichten Wald. Es waren alte und junge Männer, alle wohl genährt und stark. Sie trugen die Farben Bärensteins und betrachteten sie neugierig. Innerlich bereitete Kyrie sich auf einen Kampf vor.

Sie ballte die Hände und spannte die Muskeln an. Auch ohne ihre Henotello-gaben war sie eine tödliche Kämpferin.

"Keine Sorge, wir wollen dir nicht weh tun. Wir sind auf dem Weg nach Willhelmsburg. Könntest du uns den Weg zur nächsten Straße zeigen?", fragte der Gruppenführer freundlich und lächelte sie an. Er schien nett und ehrlich. Kyrie beschloss ihm die Wahrheit zu sagen, schließlich waren keine Truppen Ohamas in Willhelmsburg. Zumindest nicht soweit sie wusste. Aber ihre Informationen würden wohl kaum zu irgendwelchen Problemen führen.

Diese Männer würden schließlich auch ohne sie den Weg finden. Der Gruppenführer betrachtete sie neugierig mit diesen braunen Augen. Kyrie würde nichts lieber tun, als in seinen Kopf sehen und die Wahrheit erfahren. Der Drang war beinahe überwältigend, aber sie stoppte sich im letzten Moment.

"Ihr müsst weiter nach Westen. Etwa drei Kilometer. Dann kommt ihr zu einer Landstraße. Wenn ihr der folgt, kommt ihr zur Autobahn." Der Gruppenführer nickte dankend und ging voraus. Seine Kameraden folgten ihm stillschweigend, bis auf einer.

"Sie sieht fast so aus wie die Frau von Bärenstein, oder?" "Woher willst du denn das wissen? Hast du die Frau vom Boss überhaupt schon mal gesehen?", kommentierte ein anderer Soldat.

"Ja klar, damals in Sankt Sandrina. Ich schwöre es dir. Sie war wunderschön, aber halt auch ein bisschen verrückt."

"Bisschen mehr als nur bisschen." Die Soldaten lachte und gingen weiter. Sie schienen Kyrie bereits vergessen zu haben, doch Kyrie vergaß ihre Worte nicht. Sie wiederholte sie ein ums andere Mal in ihrem Kopf und dachte an ihre Taten als Lady Nava.

Rückblickend betrachtet war sie wirlich etwas irrational gewesen. So vieles hatte damals keinen Sinn gemacht, nur Loke war da gewesen um im Sturm ihres Verstandes ein Anker zu sein. Ob es die Macht der Gaben oder die Grausamkeit dieses Landes gewesen war, konnte Kyrie nicht sagen. Vielleicht war sie schon immer ein wenig verrückt gewesen.

Eines jedoch wusste sie sehr genau. Loke hatte ihrer mentalen Stabilität nicht weitergeholfen. Im Gegenteil, er hatte sie für sich ausgenutzt und Kyrie würde das niemals wieder zulassen.

Nie wieder würde sie ihre Kräfte einsetzen und dieser Macht verfallen. Eine Macht, die sie kalt und grausam hatte werden lassen.

So hatten ihre Eltern sie nicht erzogen und so wollte sie auch nicht sein.

Anmerkung der Authorin: der erste Advent! Ich wünsche euch allen eine schöne Weihnachtszeit und jede menge Kekse. By the way, was denkt ihr über Washington? Ist er ein besserer Bösewicht als Loke?

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