29. Blutroter Sonnenuntergang
Eine junge Frau stand am höchsten Turm Ohamas und blickte in den Sonnenuntergang. Die Welt war ruhig hier. Eine ältere Frau stellte sich neben sie. Sie hatte dasselbe blonde Haar, dieselben Lippen und dasselbe stolze Kinn. Aber sie war auch ganz anders. Die beiden Frauen trennten Welten. Langsam ließ die junge Frau ihre eisblauen Augen über die geschäftige Stadt unter sich schweifen. All diese Menschen, jeder einzelne kannte sie. Kannte ihre Eltern, ihren Onkel, ihr Vermächtnis. Die Geschichte ihrer Familie war eine Legende. Die ältere Frau neben ihr legte sanft einen Arm um ihre Schultern. "Da draußen gibt es eine Welt für dich zu entdecken.", meinte sie leise. Ihre Mutter gab nur selten Ratschläge oder war ein Freund von großen Reden, aber in diesem Moment reichten der jungen Frau diese Worte vollkommen um einen Entschluss zu fassen.
HONORA
Jefferson lag tot vor ihr, den Computer hielt er immer noch in seinen kalten Händen. Panisch blickte sie sich um, doch niemand kümmerte sich um sie. Jefferson war die letzte Führungspersönlichkeit der Armee gewesen. Die letzte Person, derer sich die Soldaten verpflichtet gefühlt hatten.
Die Nachricht seines Todes verbreitete sich wie ein Lauffeuer und mit ihm zerfiel der Rest der Armee in kleiner Gruppen. Keiner folgte gerne einem Totem in den Krieg. Die NKS Soldaten flüchteten wie kopflose Hühner, doch Honora wusste nicht was sie tun sollte.
In ihrem Kopf herrschte Chaos und unsicher griff sie sich an die Schläfe. Ihr Kopf war nach wie vor mit dem Computer verbunden, gestattete es ihr in der Nähe so vieler Menschen zu sein ohne durchzudrehen. Wie würde sie das Ding wieder aus ihr rauskriegen? War das überhaupt möglich? Ängstlich sah sie sich um, suchte in dem Chaos nach einem vertrautem Gesicht, irgendjemand der ihr helfen konnte.
Um sie herum flohen die Soldaten, rempelten sie an, versuchten nach allen Mitteln in den Wäldern Beerellons zu verschwinden. Ihre Chancen standen schlecht, Honora hatte einen Funkspruch mitgehört, in dem von einer Rebellenarmee und Bärensteins Soldaten die Rede gewesen war. Nach Honoras Wissen waren sie eingekesselt. Sie atmete tief durch und riss das Kabel aus ihrem Schläfenapparat.
Schmerz fuhr durch ihren Kopf und sandte Schockwellen durch ihren gesamten Körper. Die Welt drehte sich für einen Augenblick während Honora bemüht ruhig atmete um den Brechreiz unter Kontrolle zu bekommen. Sobald sie sich einigermaßen gut fühlte, begann sie unsicher auf die Ebene der Akademie zu stapfen und weiterhin nach Bekanntem Ausschau zu halten.
"Honora!", sie drehte sich um als sie eine tiefe Stimme ihren Namen rufen hörte. Sie traute ihren Augen kaum! Zwischen fliehenden Soldaten, letzten Kämpfen und den Toten eines furchtbaren Krieges stand Christopher. Immer noch mit seinem bescheuerten Schnauzer, aber daran erkannte Honora ihn sofort.
Lebendig und unverletzt lächelte er sie über das ganze Gesicht an und winkte ihr zu. Tränen traten in ihre Augen und erleichtert schluchzend lief sie ihm entgegen. Jeder Schritt kostete ihr viel Kraft, aber sie wusste, sobald sie in seinen Armen war, würde alles besser werden. Christopher rannte auf sie zu und schloss sie in seine Arme. Er war verschwitzt und schmutzig, doch für Honora war seine Umarmung der Himmel. Er strahlte so viel Wärme aus, liebevoll strich er über ihre Haare und küsste ihren Scheitel.
"Ich hab dich gefunden.", hauchte er atemlos. Honora konnte seine Tränen auf ihrem Kopf spüren. Wimmernd drückte sie sich an ihn.
"Du bist am leben.", flüsterte sie dankbar und spürte wie er nickte.
"Sie haben ihr Wort gehalten und uns im Wald zurückgelassen. Dachten wohl das die Bomben uns auch erwischen würden, aber wir waren zu weit weg." Honora lehnte sich zurück.
"Ich dachte du wärst mit allen anderen gestorben. Ich dachte ich wäre alleine." Christopher schüttelte vehement den Kopf.
"Niemals, das würde ich niemals zulassen." In seinen Augen sah sie bodenlose, unausgesprochene Zuneigung, die zu sehr viel mehr werden könnte. Wenn Honora es wollte und bereit wäre. Seine Gedanken überschwemmten sie plötzlich und unvorbereitet, schmerzerfüllt verzog sie das Gesicht. Besorgt ließ Christopher sie los.
"Was ist? Was hast du?", aufkommende Panik war zu hören und Honora bemühte sich seine Gedankenwelt auszublenden, fortzudrücken, abzuleiten. Nichts half. Das Kabel das ihrem Gehirn die nötige Abfuhr der Informationen ermöglicht hatte, war nicht länger da. Es gab keinen Ausweg. Die Gedanken der anderen Menschen auf dem Schlachtfeld hängten sich an Christophers und drohten sie zu überwältigen. Immer mehr und mehr Eindrücke und Erinnerungen stürmten auf sie ein. Sie konnte nichts mehr sehen, nichts hören, alles war zu viel.
"Was ist los?", murmelte jemand neben Christopher, den Honora nicht erkennen konnte.
"Ich weiß es nicht... sie ist plötzlich zusammengebrochen...kannst du ihr helfen?"
"Ich kann es versuchen." Ihre Stimmen wirkten gedämpft und sehr weit weg. Honora weinte leise, sie konnte kaum atmen. In ihrem Kopf wütete ein Hurrikan, sie stand im Zentrum unfähig etwas gegen den raschen Verfall ihres eigenen Verstandes zu tun.
"Was ist hier passiert?", fragte eine sanfte Stimme neben ihr. Verwirrt wandte Honora sich der Fremden in ihrem Kopf zu. Eine junge Frau, blond, blutig und ungeheuer mächtig. Honora seufzte und senkte den Blick.
"Es war ein Mann. Er hat meinen Verstand zerstört, mir die Kontrolle über meine Gabe entrissen. Nun wird sie mich umbringen und ich kann nichts dagegen tun."
"Ich kann vielleicht helfen.", hauchte die Fremde und griff nach ihrer Hand. Honora hob den Blick begegnete ihren warmen braunen Augen. "Wie?" Es gab keine Möglichkeit ihre Gabe wieder zu dem zu machen was sie einst war. Jefferson hatte etwas fundamentales in ihrem Gehirn zerstört. Die Fremde lächelte traurig.
"Du hast recht, ich kann dir nicht zurück geben, was man dir genommen hat. Aber ich will etwas anderes versuchen. Wenn du einverstanden bist, würde ich versuchen dir deine Gabe zu nehmen."
"Meine Gabe?..du willst? Ist das überhaupt möglich?", stotterte Honora verwundert. Die junge Frau legte den Kopf schief.
"Ich habe es nie ausprobiert. Es erfordert viel Kraft, aber um dich zu retten, würde ich es versuchen." Honora blickte sich um, sah die zerbröselnden Gefilde ihres Verstandes, spürte ihr schwer arbeitendes Herz. Sie hatte nur noch Sekunden zu leben. Wenn all dies vorbei war, würde sie herausfinden müssen, wer sie ohne ihre Gabe war, wer sie als einfacher Mensch war. Nickend wandte sie sich wieder der Fremden zu.
"Ja, bitte tu es. Ich will leben." Sie lächelte.
"In Ordnung." Die Fremde begann in einem grünen Licht zu leuchten und beinahe sofort konnte Honora nur noch Wärme spüren. Als sie die Augen wieder aufschlug erkannte sie Christophers Gesicht über ihrem. Er wirkte zu Tode erschrocken. Vorsichtig setzte Honora sich auf und erstarrte als sie die Fremde neben sich sitzend sah.
Schweißbedeckt mit einer ungesunden Hautfarbe starrte sie Honora an. Da waren keine fremden Gedanken mehr in Honoras Kopf, keine Bilder, Gefühle, Erinnerungen von den Menschen in ihrer Umgebung. Nur ihre eigenen. Nur sie selbst. Stille, da war endlich wieder Stille. Tränen der Erleichterung rannen ihr langsam über die Wangen. Die Schmerzen waren fort, das Chaos verschwunden. Die Welt war ruhig, die Vögel zwitscherten, die Sonne ging gerade unter und Honora war ein neuer Mensch.
"Danke...danke.", schluchzte Honora und lächelte dabei die junge Frau neben sich an. Diese erwiderte das Lächeln leicht. Christopher saß ratlos neben ihnen, er hatte von ihrem Gespräch oder Honoras Entscheidung nichts mitbekommen.
Alles was für ihn zählte war Honoras immer noch schlagendes Herz. Schwerfällig stand er auf und zog zunächst Honora und danach die Fremde auf die Füße. Irgendwas an ihr kam Honora seltsam bekannt vor. Hatte sie diese braunen Augen zuvor nicht schon einmal gesehen? Oder war es das zurückhaltende Lächeln, das ihr so bekannt erschien?
"Honora, das ist Kyrie. Kyrie das ist Honora."
"Du hast deine Rothaarige also doch gefunden?", meinte Kyrie leichthin. Sie schwankte gefährlich und Christopher fing sie auf. Sie holte einige Male tief Luft.
"Ich brauche nur einen Moment. Nur.. einen Moment.", murmelte sie und schob schließlich Christopher von sich.
"Freut mich deine Bekanntschaft zu machen. Vielleicht sollten wir zur dem Gebäude gehen und dir etwas zu Essen besorgen. Das wird dir wieder Kraft geben.". schlug Honora vor und trat wie automatisch an Kyries Seite.
"Nein, schon okay. Ich schaff das alleine.", entgegnete Kyrie mit einem schiefen Lächeln und verließ sie leicht taumelnd. Christopher und Honora sahen ihrer Retterin unschlüssig nach. Hätten sie Kyrie doch begleiten sollen? Allerdings kannten sie sie nicht.
Sie war trotz ihrer Tat eine Fremde. Christopher schlang seine Arme um Honora und drückte sie fest an seine Brust. Es hatte nichts leidenschaftliches, nichts sexuelles, die reine Lebensfreude war der Motivator.
"Ich bin so froh, dass ich dich nicht verloren habe." Honora lächelte ihn an. Sie war glücklich am Leben zu sein, auch ohne ihre Gabe. Oder gerade deswegen.
BRANDON
Die Sonne ging gerade unter als Brandon mit seinen Leuten am Schlachfeld ankam. Der Krieg war vorbei. Niemand kämpfte mehr, die Grasebene vor den Überresten der Akademie lag in gespenstischer Stille.
"Wir sind zu spät.", flüsterte Evangeline und seufzte. Brandon konnte nicht atmen. Da lagen so viele Tote vor ihnen, doch es waren die Überlebenden die wie Geister über die Ebene stapften. Wenn dies das Ende des Krieges war, wieso feierte dann niemand? Niemand jubelte, niemand lachte. Der Schock stand ihnen allen ins Gesicht geschrieben.
Der Kampf und die Angst noch zu frisch in dem überforderten Gehirnen. Jeder suchte nach Vermissten, beweinte am Boden liegende Tote oder ging zu dem letzten verbliebenen Gebäude.
Brandon erkannte es als die Babyfaktory. Er war schon einmal dort gewesen, hatte seine Schwester gesucht und nicht gefunden. Nun würde er diesen verfluchten Ort ein zweites Mal aufsuchen und wieder standen seine Chancen schlecht. Mit der blutroten Sonne über ihren Köpfen machten auch er und seine Kameraden sich auf zur Babyfaktory.
"Ist das Honora?", rief Aurora aus und rannte los noch bevor Brandon etwas sagen konnte. Er folgte ihrem Lauf mit den Augen und erkannte tatsächlich ein rothaariges Mädchen. Sie stand neben einem Soldaten. Blinzelnd legte er eine Hand über seine Augen um seinen Blick vor der Sonne zu schützen. Aurora behielt recht, das war ihre beste Freundin. Honora lebte!
Sie lebte und war hier! Brandos Herz klopfte wie wild als er seine Ziehtochter erkannte. Kopflos warf er den Rucksack von seinem Rücken und folgte Aurora über die Ebene. Es war kein leichtes Vorhaben, der Untergrund war uneben, gepflastert mit Toten und tückischen Waffen.
Er musste sich anstrengen um nicht hinzufallen. Seine Beinmuskeln brannten, die Lungen arbeiteten auf Hochtouren, doch nichts würde seine Tempo reduzieren. Er musste zu Honora, musste sich vergewissern, dass es ihr gut ging. Auf die letzten Meter erkannte Honora ihn.
"Brandon!", rief sie und breitete die Arme aus, doch der Soldat neben ihr verhinderte, dass sie ihm entgegen eilte. Brandon erreichte Honora als erster und zog sie stürmisch in eine Umarmung. Ihre Haut war warm und er spürte ihr Herz kräftig schlagen. Freude rauschte durch seine Adern, unverfälscht und rein.
"Ich dachte du wärst tot.", flüsterte er in ihr Haar. Sie schüttelte den Kopf und zog sich zurück.
"NKS Soldaten haben mich gefangen genommen bevor die Bomben gefallen sind." Erst in diesem Moment erkannte er die Apparatur in ihrer Schläfe. Was hatten diese Monster ihr angetan! Der Anblick tat ihm in der Seele weh. Honora erkannte seine Qual und schüttelte erneut den Kopf.
"Ich lebe, Bran. Nichts anderes zählt. Wir leben." Nun erreichte auch Aurora ihre Freundin und drückte sie an sich. Die Erleichterung auf ihrem Gesicht gab Brandon Hoffnung. Sie würden sich von diesem Krieg erholen, würden das Trauma verarbeiten können.
"Brandon! Honora!" Brandons Kopf flog sofort in die Richtung aus der die Stimme kam. Sein Herz blieb stehen, er vergas zu atmen. Es gab nur eine Person der diese Stimme gehören könnte. Reina.
Seiner Reina. Sie lief mit schnellen Schritten auf sie zu, die Haare wehten hinter ihr her wie die heran schreitende Nacht selbst, doch am Auffallendsten war ihr Lächeln. Er hatte es so sehr vermisst.
Sie grinste über das gesamte Gesicht als sie sich in Brandons Arme warf und ihn beinahe zu Fall brachte. Brandon störte sich nicht daran, er wäre liebend gerne mit Reina am Boden gelandet. Solange er sie hielt wäre selbst der dreckige Boden ein Paradies. Sie sagte nichts, weinte laut in seinen Armen und Brandon konnte es ihr nur gleichtun. Er hatte geglaubt sie für immer verloren zu haben. Er war jede Sekunde ihrer Trennung einen qualvollen Tod gestorben. Aber hier war sie, gesund und munter. Lebendig. Nun würde alles gut werden.
"Reina..", flüsterte Honora und drängte sich in ihre Mitte. Reina umfasste Honoras Gesicht liebevoll und küsste ihre Stirn.
"Du warst so tapfer.", hauchte sie Honora zu. Seine Ziehtochter hatte Tränen in den Augen, doch ein Lächeln auf den Lippen. Der Krieg hatte sie nicht gebrochen. Der Schmerz der vergangen Tage, Wochen, Jahre stand präsent in ihrem Gesicht. Sie hatte so viel gelitten, sie alle hatten ihre Unschuld und Naivität verloren.
Aber keiner von ihnen war gebrochen, sie würden heilen. Brandon umarmte die Frauen in seinem Leben, dankbar diese Chance zu haben.
"Gehen wir zur Babyfaktory. Sieht so aus als würde dort etwas passieren.", meinte Evangeline. Brandon nickte einverstanden. Gemeinsam gingen sie zur Babyfakory bei der sich eine Menschensammlung angestaut hatte. Den ganzen Weg über ließ Brandon weder Reina noch Honora los.
Er wollte keine der beiden jemals wieder verlieren.
KYRIE
Der Gedanke, dass der Krieg endlich vorbei war schien absurd. Aber als sie sich so umsah, gab es keine Kämpfe mehr und selbst wenn, hätte Kyrie vermutlich niemanden mehr helfen können.
Ihre Beine waren schwer, ihr Kopf dröhnte. Sie hatte Honora einiges ihrer Kraft geopfert, doch der dankbare Blick des Mädchens war all die Schmerzen wert. Sie und Christopher hätten noch einige Jahre um die etwas komplizierteren Gefühle füreinander zu entdecken. Schwerfällig marschierte sie wie die meisten Henotellos auf die Babyfaktory zu. Offenbar erhofften sich einige Antworten darauf, wie es nun weiter gehen sollte. Kyrie suchte eigentlich nur nach Reina. Niemand anderes würde sie kennen oder verstehen.
Reina würde ihr helfen können. Kyrie drückte sich durch die dicht beieinander stehenden Menschen. Aus irgendeinem Grund standen sie alle in einem Kreis vor dem Eingang der Babyfaktory. Unsicher blieb sie schließlich stehen. Vor ihr erkannte sie den Grund für das Gedränge.
Loke Bärenstein. Selbst mit dem verletzen Gesicht und dem Schmutz hätte sie ihn überall wiedererkannt und offenbar hatten dies auch die anderen Henotellos.
Wütend starrten sie den letzten Lothar von Bärenstein an, noch hielt sich die Aggressivität allerdings in Grenzen. Nicht zuletzt weil Zack vor ihm stand, eine Pistole in den Händen haltend zielte er auf Lokes Herz. Kyrie staunte über das Bild, das sich ihr bot. Der Mann, der ihr so viel gekostet hatte, stand gedemütigt und gebrochen vor ihr und zitterte am ganzen Leib. Sie verspürte keine Angst mehr vor ihm, er war nichts anderes als ein grausamer kleiner Mann.
Seiner Macht beraubt blieb von ihm nicht viel übrig. Kyrie wusste, was sie gerne mit Loke getan hätte und offensichtlich hatten auch andere Henotellos eine klare Idee, doch niemand rührte sich. Niemand wusste was nun geschehen sollte. Wie verfuhr man mit einer Persönlichkeit wie Loke? Gefängnis? Oder doch die Todesstrafe? Würde es ein Gericht geben? Befangen wollte niemand den ersten Schritt wagen, niemand den ersten Stein werfen.
Selbst Zack schien mit der Situation reichlich überfordert zu sein. Schließlich bahnte sich jemand einen Weg durch das Gedränge. Ein Mann. Sein Auftreten stieß eine Reihe unsicheres Gemurmel an. Kyrie erkannte Reina an seiner Seite und zwang sich den Mann genauer zu betrachten.
Für einen Moment schien die Welt still zu stehen und ihr Herz auszusetzten. Brandon...es war ihr Bruder..und dann doch nicht ganz. Der Mann neben Reina, war nicht mehr ihr siebzehnjähriger, naiver kleiner Bruder, der Junge mit dessen Liebe sie aufgewachsen war. An seine Stelle war ein Mann getreten. In seinen Augen glitzerte Wissen um Zorn und Verlust. Sein stur vorgeregtes Kinn wurde von einem Bart versteckt.
Er hatte sie nicht bemerkt und genau so brauchte Kyrie es im Moment. Überfordert griff sie an ihre Schläfe. So viele Male hatte sie sich vorgestellt ihm wieder gegenüber zu stehen. Sie hatte ihm von ihrer Einsamkeit, von ihren Qualen erzählen wollen. Hatte in seinem Lächeln Trost gesucht. Es war immer nur ein dummer Traum gewesen, in den Jahren der Trennung zu einem Hirngespinst verdreht.
Nun standen Welten zwischen ihnen. Würde er sie wieder als Schwester akzeptieren? Und wollte sie dies überhaupt? Wie sollte sie sich für ihre Abwesenheit, ihre Grausamkeit und den Schmerz entschuldigen? Bekümmert unterdrückte Kyrie die aufkommenden Tränen. Loke hatte Brandon sofort erkannt und trat einen Schritt auf ihn zu, Zacks Waffe beachtete er dabei nicht.
"Hallo Brandon. Wie geht es dem all so mächtigen Anführer von OneSheep? Genießt du deine Macht? Wie es aussieht hast du mich nun endlich in der Falle. Das war doch dein Plan von Anfang an." Brandon rürhte sich nicht, alleine die geballten Fäuste zeugten von höchster Anspannung. Loke lachte leise.
"Ich bin hier nicht der Bösewicht, Brandon. Ich weiß ihr alle hättet gerne, dass ich dieses unaussprechliche Monster bin, aber ich habe nur weitergeführt was schon Generationen vor mich begonnen haben. Ihr habt diesen Krieg provoziert! Ihr wollt, dass ich der Böse bin, damit ihr euch als die Guten hinstellen könnt, " Loke drehte sich im Kreis und zeigte auf die ihn umzingelnden Menschen, blickte ihnen entschlossen entgegen, "aber das stimmt nicht! An euren Händen klebt genauso viel Blut wie an meinen. Ihr seid um nichts besser als ich."
Lokes Worte hinterließen Totenstille. Langsam kam Brandon auf ihn zu.
"Ich weiß, dass du nicht das Monster unter unseren Betten bist Loke. Aber deine Handlungen kann und muss ich als monströs erachten. Du hast meiner Familie Unverzeihliches angetan und zugelassen, dass unser Land seine grausamen Wege fortführt. Schlimmer noch, du hast Fremde in einen Konflikt gezogen, der nur unsere Angelegenheit gewesen wäre. Sie haben unser Land in Schutt und Asche gelegt, mörderischen Raubtieren gleich haben sie Beerellon und dessen Bewohner zerfetzt. Nie wieder. Zu viel Blut ist für Veränderung geflossen um zurück zum Status Quo zu gelangen. Ab heute werden wir unser Land anders regieren."
Loke starrte ihn wütend an, aus seinen Augen schien Feuer zu sprühen.
"Mit dir als neuen Meister? Du hast nicht das Zeug um mich zu ersetzten!", schrie er Brandon an.
Kyrie hatte sich nie Gedanken über das Ende des Krieges gemacht oder über die Zukunft die ihnen bevorstand. Politik war für sie nicht von Interesse gewesen. Sie hatte sich ihrem vermeintlichen Schicksal als Soldatin ergeben. Nun allerdings hatte sie die Wahl. So wie ganz Beerellon. Ihr Bruder schüttelte den Kopf.
"Wir werden unseren Weg finden. Demokratisch und jeder wird eine Stimme in der Führung unseres Landes haben."
"NEIN! Du wirst meine Diktatur nicht zu einem widerlichen, schwächlichen demokratischen Mist umbauen. Niemals! Ich werde es verhindern. Ich bin Lothar von Bärenstein der V und habe ein Geburtsrecht."
Seine Worte entsprachen der Wahrheit. Egal wie sehr es sie störte, Loke besaß mit seinem Namen, mit seinem Vermächtnis trotz allem Macht. Sein Leben wäre immer eine Gefahr für Beerellon. Solange er lebte, würde es die Möglichkeit geben zurück zu den alten Wegen zu finden. Und es würde Menschen geben, die bereit wären ihm zu folgen.
Sie sah denselben Gedanken über Brandons Gesicht huschen, sah denselben Zweifel in seinen verengten Augen, dennoch erwiderte er nichts. Und würde es auch nicht. Nach allem was Reina ihr über Brandon erzählt hatte, war er in seinem Inneren immer noch der sanfte Junge aus Kyries Kindheit.
Es widerstrebte ihm jemanden zum Tode zu verurteilen auch wenn derjenige es verdient hätte. Kyrie fasste einen Entschluss. Sie konnte ihre Fehler Brandon gegenüber nicht wieder gutmachen, aber sie konnte verhindern, dass er einen kaltblütigen Mord auf seinem Gewissen hatte. Langsam trat sie vor und hielt nur Zentimeter vor Loke inne.
Er erkannte sie, sah es an seinem Schrecken, seiner Erleichterung, seiner Wut. Er wirkte so klein auf sie, unbedeutend, nichts sagend. Bedächtig beugte sie sich vor und küsste ihn ein letztes Mal, flüsterte:
"Ich vergebe dir.", und hielt sein Herz an. Erschrocken riss er die Augen auf und fiel um. So also endete das Leben von Loke Bärenstein. Nicht dramatisch oder aufregend, sondern still und leise. Kyrie sah auf und begegnete Brandons Blick. Erstaunen zeigte sich auf seinen Zügen, die ihren so ähnlich waren. Vorsichtig wie um sie nicht zu erschrecken, trat er vor.
"Kyrie..", seine Stimme war brüchig und er musste mehrmals schlucken. Kyrie wollte etwas erwidern, doch die Worte wollten nicht aus ihrem Mund. Sie konnte ihn nur ansehen, konnte nur in sein verbliebenes braunes Auge blicken. Der Krieg schien auch ihm viel gekostet zu haben. Zärtlich strich ihr Bruder über ihre Wange, ihren Arm hinunter zu ihrer Hand. Die raue Haut seiner Hände war angenehm, vertraut.
"Ich weiß nicht was ich sagen soll.", meinte Brandon leicht lächelnd. Die Emotionen brauten ein herrliches Chaos zwischen ihnen, doch im Grunde waren alle Fragen, die Kyrie zuvor an sich selbst gestellt hatte, unbedeutend. Alles was zählte war ihr Bruder.
"Ich..ich auch nicht.", stieß sie unsicher hervor. Ihre Stimme war belegt und langsam rann eine Träne über ihre Wange. Brandon schüttelte schwach den Kopf.
"Ich habe mir diesen Moment so lange vorgestellt. Habe mir ausgemalt, was ich dir alles erzählen will und wie du reagieren würdest. Aber eigentlich ist das alles egal. Es gibt nur eine Sache, die ich dir wirklich sagen will.", er legte seine Stirn an ihre, wie damals als sie Kinder gewesen waren, "ich liebe dich, Schwesterchen."
Kyrie schluchzte auf, konnte ihr Herz in der Brust zerbersten fühlen. Verzweifelt klammerte sie sich an ihren Bruder als all die Anspannung und die Angst von ihr Abfielen. Sie war zuhause. Endlich war sie wieder zuhause. Es polterte beim Eingang der Babyfaktory und atemlos rannte jemand hinaus.
"Bärenstein! Ich habe ihn gesehen! Er ist hier rausgelaufen, hat ihn jemand ...gesehen?" Killians Worte versiegten, sprachlos erkannte er Kyrie in Brandons Armen. Sie wandte sich mit einem zurückhaltenden Lächeln zu ihm. Ihrem geliebten Mann und ihrer Tochter.
Er hatte sich kaum verändert. Seine sanften Augen blickten ihr hoffnungsvoll und sehnsüchtig entgegen, während er stark und beschützend das kleine Leben in seinen Armen hütete. Ihre Tochter schlief, ihr zerbrechlicher Körper war nahe an Killians Brust gedrückt. Auch sie schien einiges mitgemacht zu haben.
"Ich wollte zu dir. Ich habe dich dort unten am Schlachtfeld gesehen und...ich wollte zu dir.", hauchte er überwältigt.
"Aber du hast dich um sie gekümmert. So wie du es mir versprochen hast. Danke..ich bin dir so dankbar." Killian überwandte die letzten paar Zentimeter und küsste sie verzweifelt. Kyrie strich über seine Haare, sein Gesicht, fühlte das Leben in seiner Brust. Glücksgefühle rauschten durch ihren Körper, ungläubig realisierte sie, dass alles was sie verloren geglaubt, wieder zur ihr zurück gefunden hatte.
Sie wusste zwar nicht ob sie diese Art von Glück verdiente, doch die Menschen, die sie liebte schienen dies zu glauben und Kyrie war bereit ihnen zu vertrauen. Sie war bereit, an sich zu arbeiten und Gutes in die Welt zu bringen.
Die Anspannung der Menschen um sie herum fiel ab und zum ersten Mal seit der Kampf vorbei war, wurde gelächelt. Während Kyrie sich mit Killian einen ruhigen Platz suchte um Zosia bewundernd anzusehen, organisierte Brandon ein Lagerfeuer vor der Babyfaktory. Es waren noch genug Vorräte da um zu Grillen.
Im Sonnenuntergang eines Zeitalters war nur Brandons Singstimme zu hören.
Anmerkung der Autorin: Boah, hab ich beim Schreiben geheult! Musste mich von diesen Charakteren verabschieden, von dieser Geschichte und allem was dazu gehört. Kyrie hat mein Leben verändert, mich besser gemacht, als ich je für möglich gehalten habe. Dank ihr habe ich so viel gelernt. Ich hoffe euch hat die Geschichte genauso gepackt und auf eine unbeschreibliche Reise mitgenommen. Nun fehlt nur noch der Epiolog.
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